von Benjamin Derin
Die tradierte Aufteilung polizeilichen Handelns in präventive, polizeirechtliche Gefahrenabwehr und repressive, strafverfahrensrechtliche Strafverfolgung verschwimmt zusehends. Auch das Strafrecht wird heute an seiner Eignung zur Verhinderung von Straftaten gemessen. Dies manifestiert sich in einer stetigen Vorverlagerung sowohl der materiellen Tatbestände als auch der prozessualen Ermittlungsbefugnisse. Damit einher geht ein fortschreitender Verlust von Beschuldigtenrechten.
Strafrecht, das bedeutet eigentlich Strafverfolgung, also die Verfolgung und Bestrafung vergangener Taten. Wer Unrecht begeht, hat hierfür zu sühnen, so entspricht es dem Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen. Gesamtgesellschaftlich verbindet sich mit der Strafe zudem die Hoffnung, durch ihre Wirkung auf TäterIn und Öffentlichkeit lasse sich die Begehung künftiger Taten verhindern. Anknüpfungspunkt des Strafrechts ist die Schuld – die Vorwerfbar- und Verwerflichkeit des eigenen Handelns gemessen an den gesetzlichen Handlungsnormen. Der gesamte Strafprozess mit seinen der Wahrheitsfindung dienenden Beweismitteln ist damit eine von Grund auf vergangenheitsorientierte Veranstaltung. Rekonstruiert werden soll darin, wer in der Tatnacht den Abzug betätigte; zu beurteilen ist, wie schwer diese Tat unter Berücksichtigung der individuellen Umstände wiegt.
Dieser Prozess ist aufwändig, wird die Wahrheit oft nur bedingt aufklären und kann das Geschehene nie ungeschehen machen. Für eine Gesellschaft, deren oberste Priorität die Herstellung vermeintlicher Sicherheit ist und die unter dem Primat der Prävention agiert, ist das klassische Strafverfahren deshalb nur noch von peripherem Interesse. Innerhalb des strafrechtlichen Koordinatensystems aus Definition des Strafbaren, vorbereitenden Ermittlungsmaßnahmen und schließlich Hauptverfahren hat in der Folge eine dramatische Verschiebung weg von der Hauptverhandlung stattgefunden: Wenn ermittelt werden kann, wer demnächst eine Straftat begehen wird, kann diese Tat verhindert werden, noch bevor eine Rechtsgutsverletzung eintritt. Dazu muss einerseits der Kreis der strafbaren Handlungen erweitert werden, um mehr vorbereitende und generell gefährliche Verhaltensweisen einzubeziehen und den Behörden die daran anknüpfende Einleitung von Ermittlungen zu ermöglichen. Andererseits müssen die Strafverfolgungsbehörden rechtlich wie technisch in die Lage versetzt werden, künftige Taten und potenzielle TäterInnen zu entdecken.
Materielle Ausweitung
Die erste der angesprochenen Ebenen betrifft das Festlegen der materiellen Tatbestände. Was strafbar ist und was nicht, ist das Ergebnis gesellschaftlicher Verhandlungen, Kriminalität damit das Produkt eines komplexen diskursiven und politischen Prozesses. Wer in der Steinzeit eine Wand bemalte, war höhlenmalender Ursprung der Zivilisation, wer es heute tut, macht sich wegen Sachbeschädigung strafbar; wer in der Frühen Neuzeit Kräutermischungen verkaufte, konnte wegen Hexerei hingerichtet werden, aber arbeitet heute im Bioladen; vom Auf und Ab der Kriminalisierung von Sexualität und Drogenkonsum zwischen Verbrechen, Devianz und Normalität ganz zu schweigen. Es obliegt der Gesellschaft also stets aufs Neue, festzulegen, welches Verhalten von ihrem Strafrecht erfasst werden soll.
Ansatzpunkt des modernen Strafrechts ist grundsätzlich der Rechtsgüterschutz. Eigentum, Freiheit, Leben oder der Bestand des Staates etwa sind solche Güter, deren Verletzung verboten ist und deshalb als Diebstahl, Freiheitsberaubung, Totschlag oder Landesverrat bestraft wird. Eine erste zeitlich vorgelagerte Stufe besteht darin, dass meist nicht nur der tatsächliche Erfolg, sondern auch der gescheiterte Versuch strafbar ist. Es gibt aber auch Straftatbestände, die erst gar nicht an der Verletzung ansetzen, sondern an der generellen Gefährlichkeit: Wer mit einem bestimmten Alkoholpegel noch Auto fährt, macht sich strafbar, auch wenn es zu keinem Unfall kommt und die Straßen leer waren. Und wer eine als terroristisch klassifizierte Vereinigung unterstützt, wird verfolgt, auch wenn diese niemals eine Tat versucht. Diese Kategorie der sogenannten Gefährdungsdelikte ist der Archetyp des Präventivstrafrechts und erfreut sich derzeit außerordentlicher legislativer Popularität.
Als der mediale Fokus vor einiger Zeit auf den Phänomenbereich der illegalen Autorennen fiel, beschränkte sich die standardmäßige Antwort der Politik – Verschärfung des Strafrechts – nicht einfach auf das Anheben der Strafrahmen. Stattdessen wurde im Oktober 2017 mit § 315d Strafgesetzbuch (StGB) ein neuer, zeitlich weitaus früher ansetzender Strafparagraf geschaffen. Selbstverständlich war es auch zuvor schon strafbewehrt, durch rücksichtsloses Verkehrsverhalten andere zu gefährden oder fahrlässig einen Unfall herbeizuführen. Nicht auszuhalten war aber offenbar der Gedanke, ein potenziell äußerst gefährliches Verhalten wie ein innerstädtisches Highspeed-Autorennen, dessen Gefährlichkeit sich im Einzelfall nicht realisiert, nur nach dem zu beurteilen, was war, und nicht nach dem, was hätte sein können. Strafbar macht sich deshalb künftig schon, wer ein nicht genehmigtes Kraftfahrzeugrennen ausrichtet oder daran teilnimmt. Ob dabei tatsächlich eine Gefahr entstanden ist, entstanden wäre oder hätte entstehen können, ist unerheblich. Die Strafbarkeit ist hier derart weit in das Vorfeld der Gefahrenlage verlegt, dass kaum mehr ein Anknüpfungspunkt für die Bewertung ihres hypothetischen Ausmaßes verbleibt. Eine Superlative des Konjunktivs ergibt sich insbesondere für Versuchskonstellationen, in denen beispielsweise bestraft werden müsste, wer versucht, ein Treffen zu organisieren, auf dem andere sich dann ein Rennen geliefert hätten, bei dem diese möglicherweise zu schnell gefahren wären und in dessen Verlauf sie dann vielleicht auf andere Fahrzeuge oder Menschen hätten treffen können, mit denen es unter Umständen zu einem Unfall hätte kommen können.
Die Griffigkeit dieser Vorwürfe erinnert an die 2015 eingeführten Strafnormen zu „Terrorcamps“, nach denen verfolgt wird, wer Beziehungen zu einer sogenannten terroristischen Vereinigung aufnimmt, in der Hoffnung, diese möge ihn in der Begehung schwerer Straftaten unterweisen. Dogmatischer Ansatzpunkt ist dabei nicht die terroristische Tat selbst, nicht ihre Planung, auch nicht die militante Ausbildung, sondern der Griff zum Telefon, in dem all dies mitschwingt. Solche Normen greifen nur noch formell ein tatsächliches Verhalten in der Vergangenheit auf, bestrafen aber ganz überwiegend ein mögliches zukünftiges Handeln beziehungsweise das Setzen abstrakter Risiken.
Derartige Tatbestände, die nicht nach einer Rechtsgutsverletzung, sondern der Gefährlichkeit einer Handlung fragen (oder, anders formuliert: die Risikominimierung zum Rechtsgut erheben), werden das Strafrecht von morgen prägen. Sie ermöglichen den Zugriff weitgehend losgelöst von der Frage der Schuld, indem sie auf das der Handlung innewohnende Risiko im Hinblick auf ein weit in der Zukunft liegendes Ereignis abstellen. Damit wird die Menge der Lebenssachverhalte, auf welche die Strafverfolgungsbehörden Zugriff erhalten, gewaltig ausgeweitet.
Entgrenzte Ermittlungsbefugnisse
An die materielle Ausweitung schließt die zweite Ebene an, die der Eingriffsbefugnisse. Besteht der Verdacht einer Straftat, eröffnet sich der Polizei eine Vielfalt an sachverhaltserforschenden Maßnahmen von der Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) oder Vernehmungen über die Observation und den Einsatz verdeckter ErmittlerInnen bis zur Wohnungs- oder Online-Durchsuchung. Hinzu treten verfahrenssichernde Vorkehrungen wie Beschlagnahme und Untersuchungshaft. Sowohl die dabei gewonnenen Erkenntnisse der Behörden als auch die damit einhergehenden Belastungen für die Betroffenen überwiegen häufig die des eigentlichen Hauptverfahrens bei Weitem. Es überrascht deshalb nicht, dass gerade diese Seite des Strafverfahrens regelmäßig ausgebaut wird.
In der ursprünglichen Konzeption der Strafprozessordnung spielte das Ermittlungsverfahren noch eine vergleichsweise geringe Rolle. Zentrum des Prozesses sollte die Hauptverhandlung sein, die sich wiederum maßgeblich um die dort zu vernehmenden ZeugInnen als Kern der Beweisfindung drehte. Die Verteidigung während der Ermittlungen mit besonderen Beteiligungsrechten auszustatten, erschien vielen überflüssig, da sich in dieser Vorbereitungsphase ohnehin nichts Entscheidendes abspielen sollte. Für die modernen Beschuldigten, die lange vor der ersten Zeugenbefragung einem Beweisstapel aus Standortdaten, gespiegelten Festplatten, Videoaufzeichnungen und abgehörten Telefonaten gegenübersitzen, ist das heute nicht mehr nachvollziehbar.
Besonders weit im Vorfeld setzen Maßnahmen der digitalen Überwachung an. Zu nennen ist etwa die sogenannte Stille SMS, bei der ein verdecktes Signal an das gesuchte Mobiltelefon gesendet wird, das sich daraufhin beim Provider meldet und den Behörden so jederzeit die Ortung des Geräts und die Erstellung von Bewegungsprofilen ermöglicht. Der Einsatz dieser Technik nimmt stetig zu und hat inzwischen ganz erhebliche Ausmaße angenommen – obwohl umstritten ist, ob die Strafprozessordnung überhaupt eine rechtliche Grundlage dafür bietet. Mit der stillen SMS lässt sich feststellen, wessen Telefon sich wann an welchem Ort befand. Das kann für ein Strafverfahren von großem Interesse sein, beispielsweise wenn sich die beschuldigte Person zur Tatzeit am Tatort aufgehalten hat. Genau diese Feststellung lässt sich aber nur treffen, wenn die Ortung noch vor oder spätestens während der Tat veranlasst wird. Als klassische nachträgliche Aufklärungsmaßnahme taugt die Stille SMS somit kaum. Wenn die Behörden nicht zufällig schon den exakten Tatzeitpunkt kennen, müssen sie die Standortdaten potenzieller TäterInnen vielmehr mit einigem Vorlauf erfassen. Die Technologie ist insofern eine typische Erscheinung der strafprozessualen Vorverlagerung.
Zu nennen sind weiter die umstrittenen und schwerwiegenden Ermittlungseingriffe der sogenannte Quellen-TKÜ und der Online-Durchsuchung, für die erst im August 2017 (auf kontroverse Weise und unter weitgehendem Verzicht auf parlamentarische Debatte) eine strafprozessuale Rechtsgrundlage geschaffen worden ist. Als Quellen-TKÜ wird die Infiltration eines informationstechnischen Systems wie eines Smartphones oder eines Computers zur Überwachung der darüber laufenden verschlüsselten Kommunikation bezeichnet. Die Kommunikationsüberwachung ist eigentlich zur nachträglichen Aufklärung einer Straftat gedacht, indem etwa die Gespräche von Tatverdächtigen auf verräterische Äußerungen und weitere Spurenansätze überprüft werden. Tatsächlich wird sie aber häufig eingesetzt, wenn Anhaltspunkte für eine künftig geplante Tat bestehen. Nicht zuletzt, weil eine TKÜ regelmäßig für einen längeren Zeitraum angeordnet wird und damit eine relativ breite Erhebung von Informationen ermöglicht, dient sie in der Praxis maßgeblich der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten. Das Aufspielen eines Trojaners zur Umgehung von Verschlüsselungstechnologien erfolgt nun wiederum im Vorfeld der eigentlichen Überwachung. Dies ist teilweise mit erheblichen praktischen Schwierigkeiten verbunden: Den Ermittelnden bleibt neben der eigenhändigen Installation, die physischen Kontakt mit dem Zielgerät voraussetzt, vor allem die Infizierung mittels Phishing oder unter Ausnutzung bestehender Sicherheitslücken. Weil nicht sicher vorausgesagt werden kann, wann sich die nächste Gelegenheit hierzu ergeben wird, ist davon auszugehen, dass die Behörden eher früher als später zuschlagen werden.
Die Online-Durchsuchung ermächtigt demgegenüber zum heimlichen Zugriff auf das komplette System und stellt damit einen der schwersten Grundrechtseingriffe dar, die das Strafverfahrensrecht bereit- hält. Sie erlaubt die Ausforschung des gesamten Datenbestandes etwa von Smartphones und PCs. Technisch betrachtet ist sie mit der Quellen-TKÜ nahezu identisch, da in beiden Fällen die Infiltration des Geräts und die Installation von Spähsoftware erforderlich sind. Die mit der Online-Durchsuchung erlangten Informationen sind von besorgniserregendem Ausmaß. Durchleuchtet werden nicht nur sämtliche gespeicherten Dokumente, Bilder und sonstige Dateien, sondern auch gespeicherte oder laufende Kommunikation sowie das Nutzungs- und Surfverhalten. Soziales Netzwerk, Beruf, finanzielle Situation, Konsumverhalten, Lebensstil, Hobbies, Sexualität, intime Gedanken, Wünsche und Sorgen der Betroffenen lassen sich so genauestens nachvollziehen. Da all diese Daten automatisiert ausgewertet und per Mausklick auf Auffälligkeiten oder Zusammenhänge hin analysiert werden können, kennen die Algorithmen den Menschen vielleicht besser, als dieser sich selbst – auf just dieser Vermutung basiert jedenfalls die milliardenschwere Datenindustrie um Google, Facebook oder auch Cambridge Analytica. Dass dieses Wissen genutzt werden kann, um eine begangene Straftat aufzuklären, ist unbestritten. Noch wesentlich vielversprechender ist aus Sicht der Behörden allerdings das darin liegende Potenzial zur Vorhersage künftiger Ereignisse. Eine so umfassende Überwachung kann helfen, einer konkreten Tat zuvorzukommen. Mehr noch: Sie kann Verbindungen, Pläne, Ideen und Einstellungen sichtbar machen, aus denen sich dann Ermittlungsansätze und Verdachtsmomente in andere Richtungen ergeben. Dem Ruf nach immer früherer und vollständigerer Prävention entsprechend liegt mit der Online-Durchsuchung nun das ultimative Werkzeug vor, um auch im Strafrecht „vor die Lage zu kommen“.
Auch der Zuwachs an Ermittlungsbefugnissen und technischen Möglichkeiten ohne besondere Präventionskomponente verstärkt die Tendenz der Verschiebung ins Vorverfahren. Erweiterte Möglichkeiten zur DNA-Analyse, die Etablierung des Lauschangriffs, IMSI-Catcher, Verkehrsdatenerhebungen, Bestandsdatenauskünfte und die fortschreitende Ausweitung der Funkzellenabfrage lassen das Ermittlungsverfahren und die es führenden Behörden der Staatsanwaltschaft und Polizei zum Zentrum des Strafverfahrens werden. Die dabei vorgenommenen Weichenstellungen lassen sich in der Hauptverhandlung nur noch schwer korrigieren.
Nichts zu verbergen, nichts zu befürchten
Weil Ermittlungsmaßnahmen der Erforschung des Sachverhalts dienen sollen, sind sie zulässig, sobald gegen die Beschuldigten ein entsprechender Tatverdacht besteht. Ob sich dieser später erhärtet oder nicht, ist dabei unerheblich. Bei der Einschätzung, ob ausreichende Verdachtsmomente bestehen, um etwa ein Telefon abzuhören oder eine Wohnung zu durchsuchen, kommt der Staatsanwaltschaft und der Polizei ein beachtlicher Entscheidungsspielraum zu. Im Gegensatz zum Hauptverfahren sind die Beschuldigtenrechte im Ermittlungsverfahren weniger stark ausgeprägt. Während in einer öffentlichen Hauptverhandlung die vorgebrachten Beweismittel von der Verteidigung angegriffen werden können und von einem Gericht gewürdigt werden müssen, spielt sich das Vorverfahren weitgehend im Dunkeln und mit vergleichsweise geringen externen Kontrollmöglichkeiten ab.
Ein Beispiel hierfür stellt das Verfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB gegen 14 Personen (darunter einen Sozialarbeiter) aus dem als links geltenden Umfeld des Fußballvereins BSG Chemie Leipzig dar.[1] Die Verdächtigen wurden von 2013 bis Ende 2016 heimlich überwacht, wobei Telefongespräche abgehört, Personen und Objekte observiert, Videoaufzeichnungen gefertigt und Funkzellenabfragen durchgeführt, hunderte von Bestandsdatensätzen erhoben und hunderttausende von Verkehrsdatensätzen ausgewertet wurden. Nach drei Jahren wurden die Ermittlungen ohne eine einzige Anklage eingestellt. Die sächsischen Strafverfolgungsbehörden haben ihre Ermittlungsbefugnisse hier als Freifahrtschein für die umfassende Ausforschung der linken Szene genutzt, ohne dass die Betroffen sich hiergegen effektiv hätten wehren können. Ermöglicht wurde dies durch das Zusammenspiel eines materiellen Vorfeldtatbestandes und entgrenzter Ermittlungsmaßnahmen. (Kürzlich wurde bekannt, dass sich von 2015 bis 2018 offenbar ein weiteres, noch größer angelegtes Verfahren gegen nunmehr 20 Personen aus demselben Umfeld anschloss, welches nach bisherigen Erkenntnissen ebenfalls erfolglos eingestellt wurde.)
Zwar stehen viele Eingriffsbefugnisse unter Richtervorbehalt, müssen also nach Antrag der Staatsanwaltschaft durch ein Gericht angeordnet werden. Ob diese Form der Aufsicht eine effektive Rechtskontrolle darstellt, ist jedoch zweifelhaft. So wurden in Berlin zwischen 2008 und 2016 bei steigender Tendenz insgesamt 14.476 TKÜ-Anordnungen beantragt, von denen jede einzelne genehmigt wurde. Allein 2016 belief sich die Zahl der Anordnungen und Genehmigungen auf 1.779 (wobei mehr als eine Million Gespräche abgehört wurden).[2] Nach Ansicht der im Ermittlungsverfahren zuständigen Gerichte wurde also in Berlin über neun Jahre hinweg keine einzige rechtswidrige oder fehlerhafte TKÜ-Anordnung beantragt.
Konsequenzen der Vorverlagerung
Die stetige Vorverlagerung des strafrechtlichen Zugriffs hat Konsequenzen auf mehreren Ebenen. Materiell-rechtlich besehen setzt die Strafbarkeit zunehmend an Handlungen an, denen für sich selbst genommen kein oder nur ein geringer Unrechtsgehalt zukommt. Das Ausmaß der Schuld lässt sich nur durch eine Vorausschau auf die möglichen Tatfolgen bestimmen, was naturgemäß vielfältigen Beweisschwierigkeiten begegnen muss. Mit der Verdrängung des Kriteriums der subjektiven Schuld durch das des objektiven Risikos ist es zudem denkbar, dass die strafrechtliche Intervention erfolgt, bevor die Beschuldigten wissen, dass sie eine Rechtsgutsverletzung begehen werden. Mögen Anspielungen auf „Minority Report“ noch übertrieben sein – die materielle Vorverlagerung verleitet angesichts der technologischen Entwicklungen zwischen Big Data, algorithmengestützter Auswertung und (zugegebenermaßen hierzulande noch eher harmlosen) Predictive-Policing-Pilotprojekten zu dystopischen Visionen. Die Unterwerfung des repressiven Strafrechts unter die Präventionslogik ist jedenfalls bereits jetzt problematisch.
Auf der formellen Ebene verwischt diese Entwicklung die Grenzen zwischen Polizei- und Strafrecht und führt zu einer Kompetenzbündelung bei der Polizei. Im Strafverfahren höhlt das wachsende Ausmaß von Ermittlungsmaßnahmen die Sachleitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft aus und macht die Polizei entgegen der gesetzlichen Konzeption zunehmend zur faktischen Herrin des Ermittlungsverfahrens. Gesellschaftlich aber geht die Präventionsobsession zu Lasten der dringend notwendigen Auseinandersetzung mit Taten und TäterInnen als Teil der sozialen Wirklichkeit. Der Gedanke der Resozialisierung, welke Leitfigur des bürgerlich-liberalen Strafrechts, weicht ebenso wie die verantwortungsvolle Beschäftigung mit den Umständen und Ursachen von sozialen Problemen und Kriminalität einer Strategie der vorbeugenden Risikominimierung und Exklusion risikobehafteter Elemente.