von Helga Cremer-Schäfer
Neoliberale Produktionsweise und Populismus als herrschende Politikform sorgen dafür, dass Sicherheitspolitik und Kriminalitätsdiskurse mit dem Vollzug legitimierter Ausschließung von Außenseitern, Armen und Fremden kurzgeschlossen werden. Als Wiedereinstieg in abolitionistische Gegenbewegungen wird vorgeschlagen, ökonomische, politische und kulturelle Bedingungen von Passung und Kurzschluss zu klären.
Die seit den 1990er Jahren in kritischen Kriminologien verfügbaren Beschreibungen „neuer“ beziehungsweise „neoliberaler“ Überwachungs- und Kontroll-Technologien erinnern frappant an Thesen der Studie Sozialstruktur und Strafvollzug von Georg Rusche und Otto Kirchheimer von 1938. Die am meisten zitierte These zu Strafvollzugsentwicklung lautete: „Jede Produktionsweise tendiert dazu Bestrafungsmethoden zu ersinnen, welche mit ihren Produktionsverhältnissen übereinstimmen.“[1] Zum Gegenstand von Analyse und Kritik müsse ein jeweiliges „soziales Artefakt“ und seine Funktionsweisen in einer Produktionsweise werden. „Strafe als solche gibt es nicht.“[2]
Insbesondere Georg Rusche richtete seine Aufmerksamkeit auf Interessen „gesellschaftlicher Kräfte“, Gefängnisregime, Ausweitungen oder Begrenzung der Zahl von Gefangenen an „den Arbeitsmarkt“ anzupassen: „Wirtschaft und Finanz“. Den unübersehbaren „Ökonomismus“ und die schlichte Instrumentalität der Thesen hat die „rettende Kritik“ der 1970er Jahre produktiv aufgehoben.[3] Der Vorschlag war, die jeweils beobachtbare „Passung“ zwischen kapitalistischer Produktionsweise und Formen sozialer Kontrolle (einschließlich der Apparate von Strafrecht) als vermittelt über Ideologie zu analysieren und, in Anlehnung an Louis Althusser, „repressive Staatapparate“ als ideologische Apparate zum Gegenstand der Analyse zu machen.[4]
Der Vorschlag, die Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen im Strafrecht als über Politikformen und ideologisch vermittelt zu analysieren, ging vom Strafrecht als einer ideologischen Form von „sozialer Kontrolle“ aus. Zwei Erfahrungen waren Hintergrund, Strafrecht als organisierte moralisch legitimierte Ausschließung zu analysieren: erstens die Tendenz, im Übergang vom Fordismus zu neoliberaler Produktionsweise (ab den späten 1970er Jahren) Law-and-Order-Kampagnen, Sicherheitspaniken und Diskurse über „Kriminalität & Gewalt“ mit Feindbildkampagnen gegen Fremde, Arme, und Abweichende zu verschmelzen; und zweitens die Erfahrung, wie selbstverständlich Ausschließung vom Arbeitsmarkt und die Erzeugung einer als „überflüssig“ bestimmten Bevölkerung durch die „neue“ Produktionsweise hingenommen wurde. Hinzu kamen nationalistische und populistische Bewegungen, ethnische Säuberungen, Verschärfung von Ungleichheit und anderes mehr. Heinz Steinert und ich bezeichnen seit den 1990er Jahren das aus der Herrschaftstechnik „staatliche Strafe“ entstandene soziale Artefakt als gesellschaftliche Institution Verbrechen & Strafe.[5] Bestrafung bedeutet für die Betroffenen nicht soziale Kontrolle, sondern soziale Ausschließung. Die gesellschaftliche Funktion der Institution zielt auf die Legitimation von Bestrafung und anderen Formen von Ausschließung als „moralisch legitimiert“. Die historisch von Apparaten bestimmten Zwecke von Strafrecht (wie Herstellung von Ordnung und Sicherheit durch Abschreckung, Resozialisierung, Normdarstellung und Sicherheitsproduktion) können nicht einfach übernommen werden. Die Kritik der Institution Verbrechen & Strafe als ideologischem Apparat oder „symbolische Politik“ (wie Moral-Unternehmertum, Darstellung von Herrschaft, Enteignung von Konflikten) muss zur gesellschaftlichen Funktion, der Organisierung moralisch legitimierter Ausschließung und der Verwaltung von „Ausschluss-Tickets“, in Bezug gesetzt werden. Kontrollform und Legitimierung von Ausschließung durch Verbrechen & Strafe passen aus unterschiedlichen Gründen so gut zur neoliberalen Produktionsweise.
Kapitalistische Produktionsweisen und Kontrollform[6]
Übertragen auf Techniken der „Produktion von Sicherheit“ (vor Kriminalität) können wir in Anlehnung an Rusche/Kirchheimer formulieren: Jede Produktionsweise tendiert dazu, Kontrollformen zu ersinnen oder anzuwenden, die mit ihren Produktionsverhältnissen übereinstimmen, beziehungsweise solche zu vermeiden, die damit nicht übereinstimmen. Im Kontext neoliberaler Regulation haben instrumentelle, herrschaftstheoretische und politökonomische Erklärungen der Veränderungen von Formen der Kontrolle, Bestrafung und Ausschließung eine Plausibilität erhalten, die in der Phase der integrierenden, produktiv machenden Kontrollen und der „wohlfahrtstaatlichen“ Strafe (so es die geben kann) als „ökonomistisch“ abgetan wurden.[7] Privatisierung und Kommodifizierung von „Sicherheiten“, lokales Präventionsunternehmertum, Risiko- und Kostenmanagement, Monitoring, Technisierung, Strategien der Responsibilisierung (auch in Sozialpolitik und Sozialer Arbeit) werden als direkte Übertragung von Prinzipien betriebswirtschaftlicher Rationalisierung in den öffentlichen Bereich verstanden. Strategien der Mobilisierung von Bürger*innen, „repressive Toleranz“, drücken direkt Aspekte des veränderten „impliziten Arbeitsvertrags“ des Neoliberalismus aus: Die Transformation des „Arbeitskraft-Beamten“ in den selbstverantwortlichen „Arbeitskraft-Unternehmer“ wird von Bürokratien unterstützt. Die wohlfahrtsstaatliche normierende soziale Zurichtung von Delinquenten („Resozialisierung“) erscheint weniger verdinglichend als die heutige Regulierung „kostenoptimaler Devianzniveaus“, bei der sich die Politik in bestimmten Räumen mit begrenzten Delinquenzraten (etwa Drogenszenen) arrangiert, solange die finanziellen und ideologisch-politischen Kosten „stimmen“. Klassifikationen nach „guten Risiken“ zum Zweck der Inklusion erscheinen nachträglich hilfreicher als Klassifikationen nach „Risikokategorien“ zum Zweck des Aussortierens. Und die wohlfahrtsstaatliche Logik der personalisierenden „herrschaftlich gewährten Hilfe“ und verdinglichenden Disziplinierung steht im Vergleich mit der personalisierenden Abweichungsprävention mit „strukturierender Vorsorge“ als das kleinere Übel da.[8]
Als „gesellschaftliche Kräfte“ des Formwandels von Kontrolle treten nicht wie bei Rusche/Kirchheimer „Wirtschaft & Finanz“ auf, sondern im eigenen Interesse und populistischer Manier vor allem Apparate und Instanzen des Strafrechts: Politik, Polizei, Medien – unterstützt durch Kriminologien, die Strategien der inzwischen herrschenden Politikform des „strukturellen Populismus“ ebenfalls beherrschen.[9] Angst vor „Kriminalitätswellen“ (ersatzweise Gewaltwellen oder Terrorismusgefahr) wurde nur durch Konjunkturen der Produktion von Angst durch „Flüchtlingswellen“ ergänzt.
Schwache Kontrolle des „strafenden Staats“
Die seit der Durchsetzung der neoliberalen Produktionsweise offensichtlich schwachen Möglichkeiten, den „strafenden Staat“ zu kontrollieren, haben einiges mit der Definition von Strafrecht als „sozialer Kontrolle“ und Herstellen von Ordnung zu tun. Definitionen von Strafrecht als „ultima ratio“ sind aus Diskurs und Vollzug von Strafe verschwunden; von dem selbstreflexiven Verständnis „Strafe als ultima irratio“ ganz zu schweigen. Als Tendenzen in der Phase neoliberaler Produktionsweise konnten wir beobachten:
- Das „Erbe“ fordistischer Modernisierungen, die Propagierung und Verwendung von Strafgesetz und Polizei als technokratische Regulative, wird im Rahmen der Durchsetzung von Populismus als herrschender Politikform intensiviert: Überwachung, Sanktion, Strafdrohung und -vollzug werden für überlegene technische Regulative gehalten.
- Politische Akteure, Polizei und Justiz legitimieren (und kontrollieren) ihre Interventionen nicht mehr durch Zwecke wie „Reintegration“ oder „Verhältnismäßigkeit“; sie orientieren Aktionen von Kontrolle und Bestrafung populistisch an einem von ihnen permanent oder periodisch erzeugten sozialen Artefakt: an „sozialer Angst“.
- Das Verhältnis zwischen Opfern und schuldigen Täter*innen wird als eine Konkurrenz und Polarität organisiert. Die „kalte Seite“ von Gerechtigkeit, die Straf-Gerechtigkeit, wird praktiziert. Im Gefängnisregime nehmen Verwahrung, Geschlossenheit, behavioristische Verhaltenskontrollen, äußerliche Disziplinierung zu.
- „Punitivität“, die Praxis legitimierter Übelszufügung und systematischer Schädigungen der Person, wird aus dem Strafrecht auf andere Institutionen (Sozialpolitik und Soziale Arbeit) übertragen.
- Die Anwendung von Strafgesetz und polizeilicher Überwachung als selbstverständlich gemachtem technokratischem Regulativ und die international steigenden Gefangenenzahlen zeigen, dass nie verschwundene Merkmale des „ideologischen Staatsapparats“ Verbrechen & Strafe wieder exzessiver praktiziert werden: erstens der Klassencharakter von Kriminalisierung und Strafjustiz, zweitens die institutionalisierte Fremdenfeindlichkeit und drittens der institutionalisierte Rassismus, die alle mit der Etikettierung von Problemen und Konflikten als „Kriminalität“ verbunden sind.
Nach einer Formulierung von Nils Christie befinden sich „moderne Gesellschaften“ damit „auf dem Weg zu Gulags westlicher Art“.[10] Bei diesen Tendenzen handelt es sich nicht — wie bei der Entwicklung der Kontrollform um eine politisch ermöglichte Übertragung von neoliberalen Herrschaftstechniken und -strategien. Es handelt sich um eine Entgrenzung der gesellschaftlichen Grund-Funktion der Institution Verbrechen & Strafe: die Organisierung moralisch legitimierter Ausschließung von noch nicht oder nicht mehr „Vertragsfähigen“ der bürgerlichen Gesellschaft durch Formen von Ausschließung im Inneren. Exemplarisch durch die geschlossene Anstalt, das Gefängnis, das Getto – mit und ohne Mauern – vollzogen.
Dass die Forcierung sozialer Ausschließung durch Einschließung und die Übertragung der Logik des Strafrechts („Punitivität“) auf Ordnungs- und Kontroll-Institutionen so gut zu der a-moralischen Ausschließung passt, die „die Märkte“ erzeugen, brauchte nicht durch „Wirtschaft & Finanz“ durchgesetzt werden. Direkte, instrumentelle Funktionen etwa der Herstellung der nützlichen und flexibilisierten Arbeitskraft, gar des „Arbeitskraft-Unternehmers“, lassen sich schwerlich identifizieren. Unübersehbar werden die Ausschlussfolgen von „symbolischer Politik“.[11]
Ideologiebedarf und entgrenztes staatliches Strafen
Christie analysierte die Entwicklung der USA zu einer Strafdystopie als exemplarischen Fall dafür, dass „moderne Gesellschaften“ durch (rechtliche, organisatorische, kulturelle) Einhegungen gerade nicht an extensiven Definitionsmöglichkeiten von Problemen und Konflikten als „Kriminalität“ gehindert werden. Entgegen der Annahme der Zivilisierung und Humanisierung von Bestrafungsmethoden durch Recht, Demokratie, rationale Organisation und Verwaltung zeigt Christie, dass weder institutionalisierte Kontrolle von Herrschaft noch „moderne“ Denkweisen, noch instrumentelle Vernunft den Formen der „inneren Verbannung“ eine „Grenze des Wachstums“ setzen.
Eine ökonomische Bedingung verstärkt die Dynamik der strukturellen Tendenz: dauerhafte Ausschließung vom Arbeitsmarkt („Arbeitslosigkeit“). Mit der Durchsetzung der neoliberalen Produktionsweise wurde ein Teil der Bevölkerung faktisch als so „überflüssig“ bestimmt, dass er wegen der Verschärfung der Konkurrenz um den Wohlfahrtsstaat keine „Belastung“ sein durfte. Nach Markt-Logik und sozialpolitischen Kriterien von Verdienst und Nützlichkeit als Arbeitskraft gerechnet, werde es rational, „Kriminelle“ in einer Weise im Gefängnis oder Getto zu internieren, die „auf ihre Kosten geht“. Die Sicherheits- und Bestrafungspolitik, ohnehin Politik von legitimierter Leidzufügung und Ausschließung, wandelt damit nicht Logik und Form, sie wird exzessiver angewendet.
Als Denkweisen und institutionelle Voraussetzungen, die der Legitimierung von Ausschließung zuarbeiten, nennt Christie: das „reaktive“ Denken über Strafe (und Polizei) als effektive Kriminalitätskontrolle; die Abschaffung der als Herrschaftskontrolle institutionalisierten, daher aufwendigen Degradierungsrituale der Justiz durch Schematisierung der Strafzumessung und verwaltungsförmiges Abliefern; die Vorstellung, eine homogene Gesellschaft und ein gesäuberter Raum ließen sich durch technologische Steuerung von Menschen umsetzen; die Verbreitung von sozialer Indifferenz und Verachtung für alle, die sich nicht mit „uns“ identisch machen. Allen Denkweisen und Praktiken liegt das (auch Rassismus prägende) „identifizierende Denken“ zugrunde: Abstraktionen für Zwecke der Verdinglichung von Personen („Etiketten“). Als weitere Fördermaßnahme „auf dem Weg zu GULAGs westlicher Art“ wirkt nach Christie die Möglichkeit, Kriminalitätskontrolle, Gefängnisse und „Sicherheitsgewährleistung“ als ein profitables Geschäft zu betreiben.
Als Bedingungen der Möglichkeit des strukturell ungebremsten Wachstums von Kriminalisierung und Einsperren führt Christie Herrschafts-Techniken und Denkweisen an, für die „instrumentelle Vernunft“ ein passender Oberbegriff wäre: eine Logik, die Wirtschafts- und Verwaltungshandeln zugrunde liegt.
Instrumentelle Vernunft, rationale Verwaltung, Denken in „großen Kategorien“ und Klassifikationen nach Nützlichkeit kennen wir in zwei Varianten: der optimistischen und der kalten Sozialtechnokratie. Die optimistische Version lag in der Phase des Fordismus den Modernisierungen von Strafjustiz, Strafvollzug und den angegliederten Hilfe-Maßnahmen der Sozialen Arbeit zugrunde, sogar den Modernisierungen der Polizei. Die von Christie und auch in der Literatur über Strafrecht als soziale Kontrolle dargestellten neoliberalen Rationalisierungen können daher, im Vergleich mit der fordistischen Phase, nicht als Formwandel von Strafe interpretiert werden. Die Logik der Herrschaftstechnik verändert sich nicht, sie wird exzessiver angewendet und „exklusiver“, das heißt ohne auf Integration zielende Beigaben (wie Erziehung, Reintegration).
Weshalb hat sich instrumentelles, sozialtechnokratisches Denken in einer Phase kapitalistischen Wirtschaftens, im prosperierenden Fordismus, mit einem (bescheidenen) Zurückdrängen einer Herrschaftstechnik (hier der Strafe) verbinden können? Für Klärungen will ich noch einmal auf den Zusammenhang von ideologischen und instrumentellen Funktionen des Strafrechts eingehen.
„Nur“ ideologische Funktion von Strafrecht gibt es in der neoliberalen Produktionsweise nicht
Eine durch Instanzen des Strafrechts organisierte „Kriminalitätskontrolle“ wäre nach all dem, was wir über ideologische Funktionen von Strafrecht wissen, eine ziemlich uneffektive Art, Ordnung und Sicherheit herzustellen. Eine durch kritische Kriminologie vielfach begründete Einsicht.
Heinz Steinert betonte in seiner „rettenden Kritik“ der Studie von Rusche/Kirchheimer,[12] dass der Zusammenhang von Straf- beziehungsweise Kontrollform und kapitalistischen Produktionsweisen über die Ebene von Ideologie vermittelt wird: Einrichtungen des Strafrechts und die Anwendung des Etiketts „Kriminalität“ mögen gelegentlich instrumentell disziplinierende „Wirksamkeit“ haben. Bezüglich der Verpflichtungen, die einem „impliziten Gesellschaftsvertrag“ (mit den Teilen impliziter Arbeits- und politischer Vertrag, Geschlechtervertrag) zugrunde liegt, haben sie
„in jedem Fall … eine Propagandawirkung: Sie stellen an exemplarisch herausgegriffen Fällen dar, wohin es führt, wenn man nicht arbeitet, nicht regelmäßig arbeitet, nicht in einer geordneten Familie lebt, den Konsum-Lohnarbeit-Nexus zu überspringen versucht, sein Temperament nicht zügeln kann. Leichtsinnig ist, Machtmittel einzusetzen versucht, die einem nicht zustehen, über seine Verhältnisse lebt, kurz: sich der erforderlichen disziplinierten Lebensweise entzieht (und sich das nicht leisten kann). Aber auch in dem, ‚wohin das führt‘, steckt jeweils noch eine Darstellungsfunktion. Über die moralische Missbilligung und die verordnete Beeinträchtigung der Lebenschancen hinaus stellt sich in der Art der Strafe die jeweilige ‚Arbeitsmoral‘ im Detail dar: im Gefängnisregime die rein äußerliche Disziplinierung, in der Resozialisierung die psychische Zurichtung auf die Arbeits- und Konsummärkte, in der Geldstrafe die Vorrangigkeit des Konsums als Antrieb zur Arbeit (unter Zurückstellung der unmittelbaren Disziplinierung). Die Strafen passen sich der Vergesellschaftungsform an und stellen Aspekte der jeweils vorherrschenden ‚Arbeitsmoral‘ dramatisiert dar. Sie tragen damit dazu bei, diese ideologisch durchzusetzen, auch wenn sie die Kriminalität (sei es spezial- sei es generalpräventiv) kaum beeinflussen.“[13]
Formuliert wurden die Theorieperspektive und der Vorschlag, Politik mit dem Strafrecht als „symbolische Politik“ und Darstellung von „Arbeitsmoral“ zu begreifen in der Phase von Fordismus. Es handelte sich um eine Phase widersprüchlicher Gleichzeitigkeit von „Politik der Inneren Sicherheit“ und der Übertragung von optimistischem Sozialingenieurstum und sozialstaatlichen Logiken auf Strafen und Einsperren. Die fordistische Produktionsweise beruhte – anders als die marktliberale und die neoliberale – auf Strategien, die herrschaftsförmige Integration erweiterten: Verallgemeinerung von Lohnarbeit bei gleichzeitiger „Verteuerung“ von Arbeitskraft, Disziplinierung durch qualifizierende Investitionen in Arbeitskraft, Verstetigung von Arbeitskraft als Konsumkraft durch lohnarbeitsbezogene Sozial- und Ordnungspolitik, Anhebung des Reproduktionsniveaus bei gleichzeitiger Kommodifizierung privater, weiblicher Reproduktionsarbeit — um nur einige Tendenzen zu nennen.
Diese (verdinglichende) Form von Integration und Herrschaft ließ sich nicht einfach als „mehr Strafrecht“ darstellen. Mit ihren Versprechungen – „mehr Liberalität“, „sozialer Fortschritt“, „mehr Sozialstaatlichkeit“, „Bekämpfung sozialer Probleme“ – korrespondierte sie vielmehr mit einem anderen, „reformierten“ und erzieherischen Strafrecht. Die Durchsetzungschancen von bereits länger aktiven rechts- und sozialreformerischen Politik-Unternehmern haben sich im wohlfahrtsstaatlich regulierten, prosperierenden Fordismus verbessert, weil und insofern sie geeignet schienen, das Legitimationsdefizit von Strafrecht und andere Widersprüche von Politik auf der Ebene von Ideologie abzumildern. Begrenztes Hinausschieben von Ausschließungspolitik (Entpönalisierung, kaum Entkriminalisierung), Abkehr von offen sozialrassistischen Etiketten („asozial“), die instrumentelle Bestimmung von Strafrecht als „ultima ratio“ waren für die Politikdarstellung ideologisch nützlich und gleichzeitig politisch brauchbar, weil sie das zentrale Merkmal von „symbolischer Politik“ teilten: Reformen ohne strukturelle Folgen. Verbrechen & Strafe blieben gesichert.
Die Dialektik von Reformen zeigte sich schnell: Es entstanden Kategorisierungen von Personen, die von der Entpönalisierung ausgeschlossen wurden: die „wirklich Kriminellen“, die „wirklich Gefährlichen“, die „wirklich Unverbesserlichen“. Ein Moment, das den „Weg zu Gulags westlicher Art“ mit am stärksten vorantrieb, war die Verwandlung von „sozialem Unbehagen“ über Ungerechtigkeiten und Unsicherheiten in „soziale Angst“ – ein Prozess, der seit Ende der 1970er Jahre mit „symbolischen Kreuzzügen“ (gegen den linken Terrorismus und seine Sympathisant*innen) und mit Moral-Paniken (wegen Kriminalitäts- und Gewalt- „Wellen“ der üblichen Verdächtigen) produziert wurde.[14] Mit dieser ideologischen Strategie konnte sich die Bestimmung von Polizei und Strafrecht als einem notwendigen technokratischen Regulativ von Kriminalitätskontrolle nahezu komplett gegen das Verständnis von Strafrecht als „ultima ratio“ durchsetzen.
Der Behauptung, Strafgesetz und Polizei wären Garanten von Ordnung, Sicherheit und Schutz, diente die bereits Ende der 1970er Jahre praktizierte Strategie des „Policing the Crisis“: die Wiederherstellung von „Konsens“ durch die Verschiebung der Verantwortlichkeit an einer diagnostizierten „eskalierenden Ordnungskrise“ wahlweise auf „linken Terrorismus“ oder „Gewalt & Kriminalität“. Stuart Hall u.a. zeigten für Großbritannien die mediale und politische Karriere der Figur des „mugger“, des Schlägers, der schon vor der Ära Thatcher zu dem zentralen kriminalpolitischen Bezugspunkt wurde.[15] Nach dem Muster populistischer Propaganda werden „Gesellschaftsfeinde“ stets „oben“ und „unten“ identifiziert; Law-and-Order-Propaganda rekrutiert „übliche Verdächtige“ als Projektionsfläche und Objekte für expressive und exemplarische Bestrafung: gefährliche, meist junge Männer, Fremde, Arme, Abweichende. Die dem autoritären Populismus dienliche Figur des „mugger“ vereinte bereits alle Merkmale der folgenden Amalgamierung von Armuts-, Fremdenfeindlichkeit und kulturellem Rassismus: Der „mugger“ war jung, Immigrant, arbeitsscheu, disziplinlos und Produkt zerfallener Familienbande. „Policing the Crisis“ macht bereits darauf aufmerksam, dass es „nur“ symbolische Funktionen, „nur“ Ideologieproduktion nicht mehr gibt.
In der neoliberalen Produktionsweise wurde „auf den Märkten“
amoralisch-kalte Ausschließung (vom Arbeitsmarkt, von Wohlstandsinseln) wie eine Selbstverständlichkeit praktiziert: Über die „normalen“ nationalen Grenzziehungen hinaus können wir seit den 1980er Jahren nationalistische Bewegungen, ethnische und anders begründete „Säuberungen“, kriegerisch ausgetragene Konflikte beobachten. Die Normalität von Ausschließung und der Übergang von fordistischer zu neuen Pflichten der neoliberalen „Arbeitsmoral“ ließen sich gelegentlich ganz einfach mittels der Verknappungen und Standardisierung der Toleranz- und Bewährungsdauer für Verurteilte und Gefangene ausdrücken: „three strikes and you are out“. Populistische Politik-Darsteller nutzen „Kriminalität“ als „Ausschluss-Ticket“ für Gefängnis, nicht nur als Krisen-Rhetorik. Einweisungen in Gefängnis und Paria-Positionen stellen dar, „wohin es nun führt“, wenn Menschen als nicht mehr zugehörig kategorisiert werden: nicht in ein Nachbesserungsprogramm, sondern in ein „Draußen im Drinnen“.
In den Vordergrund tritt die Nützlichkeit von Kriminalitäts- und Sicherheitsdiskursen, um Feindbildkampagnen gegen Fremde, Arme und „wirklich Kriminelle“ anzuzetteln oder angezettelte zu verstärken. Deren Funktion besteht darin, amoralisch-kalte Ausschließung (vom Arbeitsmarkt, von Wohlstandsinseln) und politisch gewollte Grenzziehungen als moralisch legitimierte Ausschließung erscheinen zu lassen. Moralisch legitimierte Ausschließung bleibt nach aller Erfahrung nie „nur“ symbolisch; sie hat sichtbar zum Wachstum der Getto-Bevölkerung, des Paria-Sektors und zur (Über-)Füllung von Gefängnissen beigetragen.
Der Vergleich von „symbolischen“ Funktionen der Institution Verbrechen & Strafe in den Phasen fordistischer und neoliberaler Produktionsweise enthält eine Lehre, die theoretisch und politisch ernst zu nehmen ist: Die Voraussetzungen, um die Produktion von Außenseiter*innen und das Ausschließen durch Einschließen zu begrenzen und zu kontrollieren, waren nur für kurze Zeit als kleine Tendenz im prosperierenden Fordismus gegeben. Das neoliberale Wirtschaften hat diese Bedingungen, besonders die Knappheit von Arbeitskraft, abgeschafft.
Symbolische Zwecke von Strafrecht (wie „Normverdeutlichung“, „Anerkennung von Opferinteressen“) lassen sich nicht von Bestrafung abkoppeln. Die Definition von alltäglichen Konflikten, Übelzufügungen und Schädigungen als „Kriminalität“, ermöglicht zwar jenen, die Polizei und Strafjustiz durch Anzeigen mobilisieren, ein Minimum an öffentlicher beziehungsweise politischer Wahrnehmung von Bedürfnissen und Interessen. Die Mobilisierung von Polizei und Strafrecht unterwirft „Nachfragende“ aber ebenso der Ausschließungslogik der Institution: Als Ausgleich für Schädigungen, verlorene Konflikte und Lebenskatastrophen wird ihnen die Befriedigung von Strafbedürfnissen angeboten — ein guter Resonanzboden für permanente Wahlwerbung des „autoritären Populismus“.
Die Kritik von Alltags-Mythen – hier des Mythos, dass Strafgesetze, Polizei und energisches Strafen als wirksame Kriminalitätskontrolle wirke –, hilft selten. Zumal die Versuchung groß ist, einen anderen strafenden Staat anzuvisieren; einen „rechtsstaatlicheren“ oder „wohlfahrtsstaatlicheren“ oder einen der „wirklichen Strafgerechtigkeit“. Gegen Kritik der strafenden und der polizeilichen Gewalt, die auf der strikten Begrenzung und Kontrolle der strafenden und polizeilichen Staatsgewalt bestehen, will ich nicht argumentieren. Sie wird gebraucht. Abolitionistische Bewegungen, die bestimmte Strafformen (Todesstrafe, Lebenslange Freiheitsstrafe, Jugendstrafe) gänzlich abgeschafft wissen wollen, sind nicht sehr sichtbar. Doch Wissensarbeiter*innen könnten ihnen vorsorglich zuarbeiten.
Zum „Wie“ hat Thomas Mathiesen Vorschläge gemacht, wie „abolitionistisches Denken“ verfügbar gehalten werden kann. Für Saying „No!“ lassen sich im wissenschaftlichen Arbeiten immer (noch) genügend Möglichkeiten auftun. Saying „No!“ bedeutet, kein Legitimationswissen („system justification“) bereitzustellen, insbesondere kein Wissen, das die Legitimationsformel der „Notwendigkeit“ von Bestrafungssystemen und neuen Regimen sozialer Ausschließung begründet. „Positiv“ gewendet kann öffentlichem Reden diese Legitimationsformeln entzogen werden, um so Denk-Möglichkeiten für „negative Reformen“ zu eröffnen.[16] Ein nur kollektiv zu bewältigendes Kritik-Programm. Es lässt sich aber in kleine Verweigerungen aufteilen, die gleichsam „alltäglich“, bei der Wissensproduktion, getan werden können. Oben auf meiner to-do-Liste steht die Verbreitung der Einsicht, dass staatliche „Strafgewalt“ nicht zur „gerechten“ und „rechtsstaatlich kontrollierten“ sozialen Kontrolle verbessert werden kann. Strafen und das Etikett „Verbrechen“ degradieren, dehumanisieren, sie schließen aus. Für das Etikett „Kriminalität“ stehen ja schon länger Alternativen zur Verfügung, die nicht als „Tickets“ für die Überweisung an Disziplinarapparate genutzt werden können. „Konflikte“ können von Beteiligten verhandelt, „Probleme“ pragmatisch bearbeitet werden. Schon verfügbare Details reichen für eine „abolitionistische Flaschenpost“. Man braucht nicht zu warten, bis sie irgendwann ankommt.