von Matthias Monroy
Erst nach dem Anschlag in Christchurch nahmen die EU-Kommission und der Rat den gewaltbereiten Rechtsextremismus ernster. Fortschritte bei der grenzüberschreitenden Bekämpfung des Phänomens gibt aber es nicht. Einige Mitgliedstaaten bremsen bei politischen Beschlüssen und werten terroristische Anschläge nur als „Extremismus“.
Am 15. März 2019 hat der aus Australien stammende Rechtsterrorist Brenton Tarrant im neuseeländischen Christchurch 51 Menschen kaltblütig erschossen und weitere 50 verletzt. Der Täter gilt als „Einsamer Wolf“ oder „Lone Actor“, also eine Einzelperson, die sich in rechten Foren und Sozialen Medien im Internet radikalisiert hat. Lange Jahre haben europäische Polizeien und Geheimdienste das Phänomen ausschließlich im Bereich des islamistischen Terrorismus beobachtet und verfolgt, erst nach dem folgenschweren Anschlag geraten auch grenzüberschreitende rechte Netzwerke und über deren Strukturen radikalisierte Einzeltäter auf die EU-Tagesordnung.
Dabei gibt es gut organisierte rechtsextreme Vereinigungen wie Blood and Honour, Combat 18, Hammerskins, Soldiers of Odin, Nordic Resistance Movement oder die Identitären, die europaweit agieren und über Verbindungen auch in anderen Kontinenten verfügen. Ihre Aktivitäten wurden von der EU zwar teilweise beobachtet, aber nicht als drohende Gefahr wahrgenommen.
Die EU-Polizeiagentur Europol gibt jedes Jahr den „Trend-Bericht“ zu Terrorismus in Europa heraus (TESAT). Immer noch steht der „Rechtsterrorismus“ dort am Ende des Dokuments nach „Dschihadistischem Terrorismus“, „Ethno-nationalistischem und separatistischem Terrorismus“ und „Linksterrorismus“, bei dem Europol vornehmlich Brandanschläge in den Mitgliedstaaten zählt.
Gefahr „eher gering“?
Die Schieflage in der Bewertung mag sich dadurch erklären, dass einzelne Mitgliedstaaten rechte Anschläge oft nicht als „Terrorismus“, sondern nach den nationalen Gesetzen als „Extremismus“ oder „Hassverbrechen“ werten. Diese Einstufung schlägt sich dann im TESAT-Bericht nieder, der für 2018 lediglich eine (!) rechtsterroristische Tat ausweist, als linksterroristisch hingegen 19 Ereignisse. Für 2019 zählt Europol sechs rechts- und 26 linksterroristische Anschläge.
Ähnlich unaufgeregt haben offenbar die Geheimdienste auf EU-Ebene auf die rechte Gefahr reagiert. Alle Inlandsdienste der Mitgliedstaaten liefern regelmäßig Berichte an das EU-Zentrum für Informationsgewinnung und -analyse (INTCEN), das daraufhin Analysen an die zuständigen Organe in Brüssel verschickt. Für den Zeitraum bis September 2019, also fünf Monate nach dem Christchurch-Anschlag, bewertete das INTCEN die Bedrohung durch gewaltbereiten Rechtsextremismus ähnlich wie Europol als „eher gering, allerdings nicht unerheblich und sie nimmt weiter zu“.[1]
Eine andere Einschätzung vertrat zuerst der EU-Koordinator für die Terrorismusbekämpfung Gilles de Kerchove, der mit einem am 30. August 2019 vorgelegten Diskussionspapier und einem Hintergrundbericht für die Ratsarbeitsgruppe „Terrorismus“ auf die rechte Gefahr reagierte.[2] Auch Anschläge in Ländern wie Norwegen, Deutschland, Italien, dem Vereinigten Königreich, Kanada, den USA hätten demnach gezeigt, „dass es notwendig ist, den EU-Ansatz im Kampf gegen rechtsextreme Gewalt weiter zu stärken“.
Repressiv nur online
Kerchove riet zu mehr „Erfahrungsaustausch“ und einer Übersicht der rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen für die Verfolgung rechtsextremer Umtriebe in den Mitgliedstaaten. Die nationalen Kriminalämter werden aufgerufen, mehr Daten in das Analyseprojekt „Dolphin“ einzuspeisen, in dem Europol Informationen zu allen Formen von nicht-islamistischem Terrorismus sammelt. Eurojust, die Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, solle ihr gerade erneuertes „Register zur justiziellen Terrorismusbekämpfung“ dem Vorschlag zufolge für die Bekämpfung des gewaltbereiten Rechtsextremismus nutzen.[3] Beide Agenturen sollen zusammenarbeiten und „Verbindungen von rechtsextremen gewalttätigen und terroristischen Gruppen in der gesamten EU ermitteln“. Hierzu solleEuropol enger mit Polizeien in Drittstaaten, darunter den nicht zur Europäischen Union gehörenden Westbalkan-Staaten, kooperieren und außerdem ihre einschlägigen Instrumente zur Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung nutzen.[4] Europol ist etwa Zentralstelle des „Programms zum Aufspüren der Finanzierung des Terrorismus“ („Terrorist Finance Tracking Programme“, TFTP) und leitet in dieser Funktion Anfragen aus den Mitgliedstaaten für polizeiliche Ermittlungen in Zahlungsverkehrsdaten an US-Behörden weiter. Zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung bildet Europol außerdem den Knoten der nationalen Zentralstellen für Finanzinformationen („Financial Intelligence Units“, FIU), die von den Banken und Finanzinstituten Hinweise zu verdächtigen Transaktionen erhalten.
Als einzige repressive Maßnahme verwies der Anti-Terrorismus-Koordinator auf den rechtsextremen „Online-Bereich“, der mit bestehenden Instrumenten reguliert werden solle.[5] Für Material, welchesAnbieter wieYouTube, Facebook oder Microsoft nicht von sich aus offline nehmen, betreibt Europol eine „Meldestelle für Internetinhalte“. Die Abteilung richtet Löschbitten an die Firmen, denen diese in den allermeisten Fällen nachkommen.[6] Mit Verabschiedung der geplanten Verordnung zur „Verhinderung der Verbreitung terroristischer Online-Inhalte“ sollen diese Löschbitten verbindlich werden, jedoch sträubt sich sowohl das alte als auch das letztes Jahr neu gewählte Parlamentdagegen.[7] Kaum waren die Toten nach dem Anschlag in Christchurch gezählt, hatte die EU-Kommission die Tat zur Verabschiedung der vorgeschlagenen Verordnung instrumentalisiert und das Parlament gedrängt, seine berechtigten Vorbehalte aufzugeben.[8]
Vier Aktionsbereiche
Sechs Monate nach dem Anschlag von Christchurch befassten sich die EU-Mitgliedstaaten am 12. September 2019 in der Ratsarbeitsgruppe „Terrorismus“ anlässlich der Vorschläge von Kerchove erstmals mit den rechtsextremen gewalttätigen und terroristischen Bedrohungen. Zwei Wochen später diskutierte der Ständige Ausschuss für die operative Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit (COSI) über ein Papier des damals finnischen Ratsvorsitzes, in dem die Delegierten Fragen zur Sichtbarkeit der rechten Umtriebe in ihren Ländern beantworten sollten. Im Fokus standen rechte Aktivitäten mit einer grenzüberschreitenden Dimension.
Erst am 8. Oktober 2019 (einen Tag vor dem antisemitischen Anschlag auf die Synagoge in Halle) berieten dann die Innenminister*innen auf ihrem Ratstreffen in Luxemburg in einer Orientierungsaussprache über „Risiken eines gewalttätigen Rechtsextremismus“ und beauftragten anschließend die zuständigen Ratsarbeitsgruppen, den COSI, die Kommission und die Agenturen sich in vier Feldern stärker zu engagieren.[9]Diese stammen aus einer Auflistung der finnischen Ratspräsidentschaft, die wiederum auf den Kerchove-Empfehlungen basiert:
- Vermittlung eines besseren Überblicks über gewaltbereiten Rechtsextremismus und Terrorismus
- Kontinuierliche Weiterentwicklung und Weitergabe bewährter Verfahren zur Stärkung der Prävention, der Aufdeckung und der Bekämpfung aller Formen des gewaltbereiten Extremismus und des Terrorismus
- Bekämpfung der Verbreitung illegaler extremistischer Inhalte online und offline
- Zusammenarbeit mit wichtigen Drittländern.
Auf dieser Grundlage schlug der finnische Ratsvorsitz am 14. November 2019 vor, neben einer Übersicht zu rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen in den Mitgliedstaaten außerdem einen Sachstand zur unterschiedlichen Behandlung von Texten und Symbolen von Gruppen und Organisationen des gewaltbereiten Rechtsextremismus und –terrorismus zu erstellen.[10]
Angriffe gegen Geflüchtete, Politiker*innen und Linke
In mehreren Berichten wies Europol seitdem auf zunehmende rechte Gefahren hin. Am 25. Oktober 2019 stellte das Anti-Terror-Zentrum bei Europol (ECTC) den siebten halbjährlichen Bericht zur terroristischen Bedrohungslage vor. Das Dokument ist als Verschlusssache eingestuft, berichtet hat darüber in Deutschland der Investigativ-Zusammenschluss von WDR, NDR und Süddeutsche Zeitung.[11]
Demnach ist die Zahl der Verhaftungen im Zusammenhang mit rechtem Terror in Europa von zwölf im Jahr 2016 auf 44 im Jahr 2018 deutlich gestiegen. Die Zahlen sind Europol zufolge allerdings mit Vorsicht zu behandeln, da die Mitgliedstaaten sich nicht auf eine einheitliche Definition von Rechtsextremismus und rechtem Terror einigen können. Rechtsextreme Gruppen würden zudem ihre „körperlichen Möglichkeiten und Kampffähigkeiten an den Waffen“ ausbauen, eine wichtige Rolle spielten auch Kampfsportevents. Die Gruppen versuchten, erfahrenes Personal aus Militär und Sicherheitsbehörden für sich zu gewinnen.[12] Gewalttätige Angriffe richteten sich vor allem gegen Geflüchtete und Asylsuchende, Politiker*innen und Personen aus dem linken Spektrum sowie sexuelle Minderheiten. Als einen der Gründe für die zunehmenden Übergriffe nennt Europol das „signifikante Wachstum“ rechter Stimmungen in Europa.
Im Juli dieses Jahres machte der EU-Koordinator für die Terrorismusbekämpfung darauf aufmerksam, dass Rechtsextreme sich verstärkt über Gaming-Plattformen organisierten und radikalisierten.[13] Dort seies möglich, ohne Accounts über verschlüsselte Verbindungen in Chats zu kommunizieren. Populär sei laut Kerchove die noch wenig überwachte Plattform „Steam“, auf der verschiedene Gruppen „rechtsextreme, antisemitische, homophobe und andere hasserfüllte Inhalte verherrlichen“.
Nicht stark gegen rechts
In ihrem Programm „Gemeinsam. Europa wieder stark machen“ hat die Bundesregierung die „Bekämpfung des Rechtsterrorismus und gewaltbereiten Rechtsextremismus“ als eine der Prioritäten für die EU-Präsidentschaft im zweiten Halbjahr dieses Jahres definiert.[14] Besonders konkret wird das Programm nicht, es sollen aber einige ohnehin geplante Maßnahmen zur Ausweitung der Polizeizusammenarbeit und Überwachung auf die Bekämpfung rechter Bedrohungen erweitert werden.[15] Erst auf ihrem Dezember-Treffen wollten die EU-Innenminister*innen eine politische Debatte zum Thema führen. Das Bundesinnenministerium will sich dort für eine Untersuchung zur „EU-weiten Vernetzung im Internet“ einsetzen.
Bis heute ist die EU nicht wesentlich über die zahnlosen Vorschläge des Anti-Terrorismus-Koordinators vom August vergangenen Jahres hinausgekommen. So hat es die Kommission bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe nicht geschafft, die geforderte Übersicht zu den nationalen politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen zu gewaltbereitem Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus vorzulegen.[16] Auch eine EU-weit einheitliche Definition wurde für das Phänomen noch nicht gefunden.
Der Grund dafür liegt unter anderem in Ländern wie Ungarn und Polen, aber auch Österreich oder eine Zeitlang Italien, die viele Initiativen gegen rechts mit Verweis auf die Meinungsfreiheit ausbremsen. Nach Beschluss der vier Aktionsbereiche hatte die Regierung Polens im Ministerrat für Justiz und Inneres eine einseitige Erklärung abgegeben, wonach polnische extremistische Organisationen keine Bedrohung für die innere Sicherheit des Landes darstellten und keine grenzüberschreitende Bedeutung hätten. Die Regierung verwahrte sich gegen Versuche, die rechtskonservativen Regierungen der Mitgliedstaaten mit Rechtsextremismus oder radikalen Gruppen in Verbindung zu bringen.
Coronakrise als Gelegenheit zum „Rassenkrieg“
Tatsächlich umgesetzt hat die EU bis zum Sommer dieses Jahres lediglich die Empfehlung zur Verhinderung des Streamings von Anschlägen in Sozialen Medien, wie es die Täter von Christchurch und Halle praktiziert hatten.[17] Vor einem Jahr hatten die EU und die Plattform-Betreiber die Einrichtung eines „EU-Krisenprotokolls“ verabredet,[18] das im Falle eines Anschlags eine sofortige Reaktion der Firmen verspricht und ursprünglich gegen islamistisch motivierte Anschläge vorbereitet worden war. Die vorgeschlagene Erweiterung der Europol-Meldestelle zu Internetinhalten auf gewalttätigen Rechtsextremismus ist bislang offenbar nicht erfolgt. Sollte es soweit kommen, will das Bundeskriminalamt „zur fachlichen Unterstützung“dann aber einen „Cost-free Seconded National Expert“ entsenden, der nicht über den Europol-Haushalt finanziert würde.[19]
Inhaltsleer ist hingegen die Verabredung der EU-Mitgliedstaaten, im Europol-Verwaltungsrat „eine stärkere Befassung mit der Thematik“ anzuregen.[20] Nur in wenigen Bereichen soll es im Rahmen desAnalyseprojekts„Dolphin“ operative Arbeitstreffen geben, etwa zu rechten Konzerten. Sie gelten laut Europols TESAT-Bericht als wichtigste Quellen für die Finanzierung rechtsextremer Aktivitäten.[21]
Europol soll den Rechtsextremismus und -terrorismus weiter beobachten und regelmäßig „Gefährdungsbewertungen“ vorlegen. Zu den offenen Fragen gehört, wie sich die COVID-19-Pandemie auf das Phänomen auswirkt. Im Mai 2020 hatte der EU-Koordinator für die Terrorismusbekämpfung in einem Papier beschrieben, wie Rechtsextreme das Virus in einzelnen EU-Mitgliedstaaten zur Kritik der Migration instrumentalisierenund rassistische oder antisemitische Verschwörungserzählungen über die Entstehung der Pandemie verbreiten.[22] Die aus solchen Narrativen entstehende Angst und Unsicherheit könnte laut Kerchove die Entstehung neuer Formen von gewalttätigem Aktivismus oder Terrorismus begünstigen.Rechtsextreme Gruppen und Einzelpersonen hätten die Krise außerdem als Gelegenheit begrüßt, um einen drohenden „Rassenkrieg“ herbeizuführen.
Der Kampf gegen gewaltbereiten Rechtsextremismus und -terrorismus steht also auch auf EU-Ebene noch ganz am Anfang. Deutschland gehört mit den Anschlägen in München, Halle und Hanau zu den am stärksten von rechtem Terror betroffenen Ländern. Die Bundesregierung und ihr Innenminister Horst Seehofer haben ihren diesjährigen EU-Ratsvorsitz nicht dazu genutzt, die Bekämpfung von Rechtsextremismus und –terrorismuswie im Programm „Europa wieder stark machen“ versprochen oben auf der Tagesordnung zu platzieren. Die Strukturen des EU-weit agierenden Rechtsextremismus und -terrorismus dürften dadurch abermals gestärkt werden.