Chronologie statt kritische Aufarbeitung: Bundesdeutsche Polizeigewerkschafts-Geschichte

von Malte Meyer

Polizeigewerkschaften sind eine in der Öffentlichkeit stets präsente und einflussreiche Stimme, wenn es um Fragen der Inneren Sicherheit geht. Um ihre Positionen und Bedeutung verstehen zu können, wäre eine Auseinandersetzung mit ihrer historischen Entwicklung hilfreich. Wer bloß Chroniken erstellt, verfehlt dieses Ziel.

Die antirassistischen Bewegungen insbesondere des zurückliegenden Jahres haben dazu beigetragen, dass neben der Polizei im Allgemeinen speziell auch die Polizeigewerkschaften etwas stärker in den Fokus kritischer Aufmerksamkeit gerückt worden sind. Ähnlich wie in den USA sehen sich die Ordnungshüter*innen-Organisationen in Deutschland mit Vorhaltungen konfrontiert, brutale Übergriffe, institutionellen Rassismus und rechtsextreme Netzwerke im Polizeiapparat zu bagatellisieren oder sogar zu decken. Da sich rechtspopulistische Auftritte führender Polizeigewerkschafter*innen, Polemiken gegen Antidiskriminierungsgesetze sowie Versuche zur Einschüchterung missliebiger Journalist*innen in dieser Lage nur schlecht zum Beweis des Gegenteils eignen, muss dem Zustand dieser Organisationen mit anderen Mitteln auf den Grund gegangen werden.

Zusätzlich zu den Erkenntnissen kritischer Polizist*innen und Polizeiwissenschaftler*innen könnte möglicherweise auch eine Aufarbeitung der Geschichte dieser Verbände dazu beitragen, historische Muster, Beweggründe und mögliche Alternativen polizeigewerkschaftlicher Praxis offenzulegen. Allerdings ist die Zahl der zum Thema Polizeigewerkschaftsgeschichte erschienenen Studien bislang äußerst klein. Der Politikwissenschaftler (und langjährige Polizist) Manfred Reuter hat diese Forschungslücke erkannt und im zurückliegenden Jahrzehnt deshalb gut ein halbes Dutzend Bücher zur Geschichte deutscher Polizeigewerkschaften veröffentlicht. Im Rahmen einer problemzentrierten (und bewusst nicht chronologisch sortierten) Sammelbesprechung sollen an dieser Stelle diejenigen, die sich mit den Entwicklungen in (West-)Deutschland nach 1945 befassen, eingehender ausgewertet werden. Zwar sind Reuters Monografien zur Geschichte der Gewerkschaft der Polizei (GdP),[1] zum Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK)[2] sowie zur Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG),[3] sein Aufsatz zum Bundesgrenzschutzverband[4] ebenso wie sein Buch zur Neugründung ostdeutscher Polizeigewerkschaften nach dem Mauerfall[5] ihrer Anlage und Darstellungsweise nach eher konventionelle Verbandschroniken (insofern sie sich auf offizielle Gremien, Verlautbarungen und Führungsfiguren konzentrieren), sie sollen aber trotzdem auch auf die soziologisch kaum weniger interessanten Einflüsse von (informeller) Organisationskultur und (widersprüchlicher) Organisationsumwelt hin befragt werden.

Etappen und Periodisierungsfragen

Nachdem die westlichen Alliierten mit Beginn des Kalten Krieges ihre antifaschistischen Bedenken gegenüber der Neugründung von Polizeigewerkschaften zurückgestellt hatten, wurden solche in der BRD ab 1950 wieder aktiv. Da die Organisationen stärker von den jeweiligen politischen Epochen geprägt wurden als dass sie selbst Einfluss auf diese genommen hätten, läge eigentlich eine Periodisierung von sieben Jahrzehnten bundesdeutscher Polizeigewerkschaftsgeschichte bspw. entlang der politikgeschichtlichen Zäsuren von 1949, 1968 und 1989 nahe. Insofern die erste Periode im Zeichen einer antikommunistischen Restauration (nicht nur der Polizei) stand, beschäftigten sich Polizeigewerkschaften mit der Eingliederung „alter Kameraden“ ebenso wie mit Kaltem Krieg und Notstandsgesetzgebung. Im Gefolge der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 sahen sie sich danach mindestens zwei Jahrzehnte lang von den neuen sozialen Bewegungen und ihren militanten Ablegern herausgefordert und mussten unter anderem zu Radikalenerlass, Deutschem Herbst und zivilem Ungehorsam, aber auch zur damit zusammenhängenden „Modernisierung“ der Polizeiarbeit Stellung beziehen. Mauerfall und Wiedervereinigung schließlich leiteten eine dritte Periode bundesdeutscher Polizeigewerkschaftsgeschichte ein, in der sich die Organisationen auf neuen Nationalismus einerseits und Globalisierungsprozesse andererseits einstellten. In diesen Zeitraum fallen starke Konjunkturen rechter Gewalt und polizeiliche Auslandseinsätze, aber auch große Migrationsbewegungen und Ansätze einer interkulturellen Öffnung des Polizeiapparats.

Eine so oder ähnlich begründete Strukturierung wäre nicht nur übersichtlicher als das von Reuter gewählte Schema, im Fall der DPolG vier, in dem der GdP acht und im Fall des erst 1968 gegründeten BDK sogar zwölf unterschiedliche „Phasen“ zu unterscheiden. Sie würde auch den systematischen Vergleich unterschiedlicher polizeigewerkschaftlicher Reaktionen auf zeittypische Problemstellungen deutlich erleichtern und der Gefahr vorbeugen, mit einer Fülle verbandsgeschichtlicher Details die ihnen zugrundeliegenden Prozesse und Strukturen mehr zu verdecken als aufzuhellen.

Formen und Erfolge von Interessenvertretung

Wie lassen sich die Interessen von Polizeibeschäftigten am besten vertreten – in Form einer Gewerkschaft, einer Standesorganisation, eines Berufsverbands oder doch am besten als Lobbygruppe? Diese Frage sorgte über Jahrzehnte hinweg für reichlich Konfliktstoff zwischen den verschiedenen Arbeitnehmer*innenorganisationen im Bereich der Polizei. Die (GdP) und die mit ihr bis zur Fusion 1978 konkurrierende Hauptabteilung Polizei der DGB-Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) waren sich bei all ihren Differenzen zumindest darüber einig, dass sich zusammen mit den Beamten auch die bei der Polizei tätigen Arbeiter*innen und Angestellten in einer gemeinsamen Organisation zusammenschließen sollten. Und obwohl das Streikrecht für Beamt*innen von der herrschenden Rechtsprechung bis heute verneint wird, schlossen beide Gewerkschaften Arbeitskampfmaßnahmen bis hin zum Streik lange „nur“ für den Polizeidienst im engen Sinne aus. Lediglich als „gegner*innenfrei“ konnte und kann die GdP nicht bezeichnet werden, da sie nach wie vor auch polizeiliche Führungskräfte organisiert.

Von der zumindest auf Vorstandsebene traditionell sozialdemokratisch dominierten GdP spaltete sich Mitte der 1960er Jahre zunächst eine stärker auf CDU-Nähe sowie auf die Verteidigung von Beamt*innenprivilegien orientierte Fraktion von Polizist*innen ab. Sie bildete eine Vorläuferorganisation der heutigen, zum konservativen Beamtenbund gehörigen DPolG. Am Ende der Restaurationsperiode verselbstständigte sich außerdem noch jener Teil der Kriminalbeamt*innen, der sich in seinen berufsspezifischen Interessen inmitten der vielen Schutzpolizist*innen des mittleren Dienstes in der GdP nur unzureichend wahrgenommen fühlte. Aus dieser Abspaltung ging der lange Zeit nicht weniger konservative „Bund Deutscher Kriminalbeamter“ BDK hervor. Für den paramilitärisch organisierten (und seit 2005 in „Bundespolizei“ umgewandelten) Bundesgrenzschutz spielte darüber hinaus der ebenfalls zum DBB gehörige „Bundesgrenzschutzverband“ (bgv) eine nicht unwichtige Rolle.

Ob sie nun de facto eine Gewerkschaft (gewesen) sind oder nur nominal: Allen Interessenvertretungen von Polizeibeschäftigten war und ist gemeinsam, dass sie politische Lobbyarbeit für eine bessere materielle, finanzielle und personelle Ausstattung des Polizeiapparats für unerlässlich hielten und auf diesem Gebiet auch ihre größten Erfolge zu verzeichnen hatten. Weil der Organisationsgrad unter Polizeibeschäftigten nach wie vor so hoch ist wie in kaum einem anderen Berufsfeld, sieht das die große Masse der den unterschiedlichen Verbänden angehörenden Kolleginnen und Kollegen wahrscheinlich kaum anders als der Polizeigewerkschaftschronist Manfred Reuter.

Innerverbandliche Demokratie und Konflikte

Weniger gut scheint es hingegen um die innerverbandliche Demokratie bestellt gewesen zu sein. Zwar haben sich sämtliche Polizist*innenverbände Satzungen gegeben, die den Ansprüchen an formal demokratische Prozeduren Genüge tun – Reuter hält diese Satzungen sogar für so relevant, dass er ihre jeweils aktuellen Versionen ausführlich paraphrasiert. Trotzdem aber geht aus seinen Chroniken an verschiedenen Stellen hervor, wie autoritär Polizeigewerkschaften insbesondere in Konfliktfällen geführt wurden. So heißt über einen Richtungsstreit in der nordrhein-westfälischen GdP im Jahr 1993: „Einige Funktionäre wollen eine radikalere Gewerkschaftspolitik gegenüber der Regierung anstatt des seit Jahren praktizierten ‚Korporatismus‘ durchsetzen. Sie treten zur PR-Wahl [PR = Personalrat, MM] in NRW als freie Liste an und erzielen einen Achtungserfolg. Die GdP sieht in dem Verhalten einen persönlichen Rachefeldzug einiger frustrierter Funktionäre und strengt Ausschlussverfahren an.“

Die Befindlichkeiten der GdP-Spitze macht Reuter sich auch zu eigen, wenn er in seiner immerhin bis in den Sommer 2020 reichenden GdP-Chronik die „Bossing-Affäre“ verschweigt, für die der amtierende GdP-Vorsitzende Oliver Malchow verantwortlich ist. Wie das Landesarbeitsgericht Berlin Anfang Oktober 2019 feststellte, hatte Malchow die amtierende Betriebsratsvorsitzende in der GdP-Bundesgeschäftsstelle zu Unrecht entlassen, nachdem sie sich beim Bundesvorstand über seinen autoritären Führungsstil beschwert hatte. „Der Bundesvorsitzende führe Mitarbeitergespräche ‚inquisitorisch, hart sowie unnachgiebig‘; Gespräche zur Gehaltseingruppierung glichen ‚kleinen Hinrichtungen‘“, so die FAZ unter Berufung auf eine Betroffene.[6] Das Bekanntwerden von Malchows Fehlverhalten dürften ein wichtiger Grund dafür sein, warum der GdP-Vorsitzende inmitten der Polizeidebatte des Sommers 2020 praktisch komplett abgetaucht ist und seinen Stellvertretern fast alle öffentliche Auftritte überlassen musste.

Schwerpunkte politischer Lobbyarbeit

Spätestens seit den 1970er Jahren, als auch die GdP einen Großteil ihrer eher antimilitaristischen Programmatik zu den Akten legte, prägen einige Dauerbrenner den polizeigewerkschaftlichen Lobbyismus in der BRD. Außer den nimmermüde erhobenen Forderungen nach mehr Geld, Sachmitteln und Personal für die Polizei zählen hierzu vor allem der Kampf gegen die Kennzeichnungspflicht von Polizeibeamt*innen sowie die Abwehr unabhängiger Aufsichts- und Beschwerdegremien. Obwohl Polizeikräfte bereits während der Revolution von 1848 (zumindest kurzzeitig) verpflichtet wurden, auf ihrem Helm eine gut sichtbare Nummer zu tragen, konnten Organisationen wie die Humanistische Union jahrzehntelang keine Erfolge bei ihren Bemühungen verzeichnen, eine allgemeine Kennzeichnungspflicht für Uniformträger*innen durchzusetzen. Erst ab 2010 beschlossen mehrere Bundesländer auf Druck von Grünen und Linken und gegen den massiven Widerstand sämtlicher Polizeigewerkschaften derartige Bestimmungen.

Anstelle einer eingehenden Analyse dieser keinesfalls uninteressanten Konflikte vermerkt Reuter aber lediglich: „07.11.2011: Bei der öffentliche Anhörung im Bundestag zur Kennzeichnungspflicht für Angehörige der Bundespolizei spricht sich die DPolG dagegen aus.“ Stärkere polizeigewerkschaftliche Abwehrreflexe als ein Namensschild provoziert regelmäßig nur noch die Forderung nach unabhängigen Aufsichts- und Beschwerdegremien. DGB-Chef Reiner Hoffmann pflichtete der Blockadehaltung seiner Polizeigewerkschaft lediglich bei, als er im Sommer 2020 zu Protokoll gab, „Polizeibeauftragte stigmatisieren eure Berufsgruppe. Das stellt unseren Rechtsstaat in Frage und führt ins Nichts.“[7] Mit diesem Statement bediente sich Hoffmann bei der polizeigewerkschaftlich bewährten Verdrehung gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Nicht die Gewalt von, sondern die Gewalt gegen Polizist*innen soll im Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit stehen. Und nicht von einer stigmatisierenden Polizei soll kritisch die Rede sein, sondern von einer angeblichen „Stigmatisierung“ der Polizei durch Kritik.

Positionierung gegenüber fragwürdiger Polizeipraxis

Von Anfang an haben es Polizeigewerkschaften als eine ihrer Kernaufgaben angesehen, im vermeintlichen Mitgliederinteresse auch die Polizei als Institution gegenüber öffentlicher Kritik in Schutz zu nehmen. Das von Polizeikritiker*innen, aber selbst von kritischen Polizist*innen monierte Defizit an polizeilicher „Fehlerkultur“ erstreckt sich unter solchen Bedingungen unvermeidlich auch auf den Bereich gewerkschaftlicher Interessenvertretungen.

Polizeiliche Praktiken, die Betroffene und kritische Minderheiten als zumindest potenziell bedrohlich wahrnehmen, werden von Polizeigewerkschaften üblicherweise eher verharmlost oder sogar gerechtfertigt. So sollten Polizist*innen zum Schutz vor der angeblich immer weiter steigenden Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft nach dem Willen von Polizeigewerkschaftsführer*innen wie Rainer Wendt (DPolG) zusätzlich zu Schlagstöcken und Pfefferspray auch auf Gummigeschosse und Elektroschocker zurückgreifen können – irgendein autoritärer Charakter, der hinterher die Lüge verbreitet, Polizeigewalt habe es nicht gegeben, wird sich nach einem brutalen Polizeieinsatz schon finden.

Traditionell wehren sich Polizeigewerkschaften zudem gegen die Einschätzung, innerhalb der Polizei gebe es so etwas wie strukturellen beziehungsweise institutionellen Rassismus. Einen der jüngsten Belege hierfür lieferte im September 2020 die GdP, als sie vorschlug, in einer wissenschaftlichen Studie doch vielleicht besser den „belastenden“ Polizeialltag zu untersuchen als einen dem Polizeiapparat angeblich zu Unrecht unterstellten Rassismus (eine Forderung, die Innenminister Seehofer zwischenzeitlich aufgegriffen hat). Warum die als praktisch allgegenwärtig und auch als ursächlich dargestellten „Belastungen“ allerdings nur in wenigen „Ausnahmefällen“ zu rassistischem Verhalten führten, vermochte die GdP leider nicht zu erklären.

Vergleichbar schwer tun sich Polizeigewerkschaften auch damit, extrem rechte Netzwerke im Polizeiapparat überhaupt als solche zu erkennen. Immerhin gilt die Verächtlichmachung von „linken Zecken“ nach Einschätzung von Rafael Behr bereits in der Polizeiausbildung als dermaßen normal, dass auch gewerkschaftlich organisierten Polizist*innen nur selten auffällt, wie sehr ihr biedermännischer „Normalismus“ bereits mit extrem rechten Weltbildern harmoniert.[8] Zu derartigen Problemen der Lobbyarbeit deutscher Polizeigewerkschaften indes finden sich in den Darstellungen von Manfred Reuter bedauerlicherweise so gut wie keine Informationen.

Feindbilder, Gegner*innen, Antagonist*innen

An einer Stelle immerhin spricht Reuter an, dass die GdP im Mai 1995 mit aller Macht versucht hat, eine Studie von amnesty international zurückzuweisen, derzufolge die deutsche Polizei Ausländer*innen in nachweisbar 70 Fällen erniedrigend behandelt hätte. Sein lapidarer Kommentar dazu besteht aus nicht mehr als der Wiedergabe einer Gewerkschaftspublikation: „Die eigene Recherche [also jene der GdP, MM] ergibt, dass in vielen der benannten Fälle ein solcher Vorwurf vollkommen unberechtigt ist und nur eine Seite in der Sache angehört worden war. Am 26.09. kommt es zu einem Gespräch der GdP mit ai.“ Reuters Versuch, Betroffenen und Menschenrechtsorganisationen schlicht die Glaubwürdigkeit abzusprechen, ähnelt dem üblichen polizeigewerkschaftlichen Reaktionsmuster, wenn Kritik an der Polizei geübt wird. „Kein Gremium einer Polizeigewerkschaft würde sich öffentlich zu Forderungen einer Menschenrechtsorganisation bekennen“, befindet etwa der Kriminologe und Polizeidissident Martin Herrnkind.[9] „Denn die Mitgliedschaft würde mit massenhaften Austritten barsch reagieren.“ Von dem auch und gerade innerhalb der Institution Polizei tradierten Weltbild, sie selbst seien als „Freund und Helfer“ die Guten, „kriminelle Ausländer“ und „linke Zecken“ hingegen die Bösen (oder zumindest die prinzipiell Verdächtigen), lassen sich offenbar nur die wenigsten Polizist*innen gerne abbringen. Schließlich passen diese Feindbilder auch bestens zur Basisfunktion der Polizei, die herrschende (klassen-)gesell­schaftliche Ordnung zu konservieren. Dass sich auch die Polizeigewerkschaften immer wieder an einer nach rechtsaußen anschlussfähigen Gegner*innenmarkierung beteiligen, verwundert vor diesem Hintergrund weniger als das offensichtliche Desinteresse eines Polizeigewerkschaftshistorikers, die Existenz, Herkunft und Wirkungsweise solcher Feindbilder überhaupt einmal zu thematisieren.

Leistungen und Leerstellen

Obgleich Reuter als überzeugter GdPler den Schrader-Verband aus Weimarer Zeiten in Ehren hält, scheint er für die Gegenwart mit einer stärkeren Kooperation unterschiedlicher Polizeigewerkschaften zu sympathisieren. In einer Konzentration auf einige „unstrittige“ Kernbereiche gewerkschaftlicher Interessenvertretung sieht er das Potenzial, historische Spaltungslinien zu überwinden, um den politischen Einfluss deutscher Polizist*innenverbände zu erhöhen. Mit diesem zwar nicht explizit formulierten, wohl aber hier und da aufblitzenden Erkenntnisinteresse mag es zusammenhängen, dass zwischengewerkschaftliche Rivalitäten und tarifliche Belange in Reuters Chroniken einen sehr großen Raum einnehmen, andere mindestens ebenso wichtige Themen aber stark an den Rand gedrängt werden.

Mehr noch: Reuters Verfahren, sich hauptsächlich auf verbandseigene Chroniken zu stützen, internationale Veröffentlichungen zur Soziologie und Politik von Polizeigewerkschaften (wie etwa Robert Reiners Grundlagenwerk aus dem Jahr 1978 oder auch aktuelle US-amerikanische Diskussionen zu Polizeigewerkschaften) hingegen überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen, führt fast unweigerlich dazu, dass eine kritische Analyse wichtiger Facetten deutscher Polizeigewerkschaftsgeschichte unterbleibt. Heiße Eisen wie das Verhältnis deutscher Polizeigewerkschaften zur NS-Vergangenheit zahlreicher ihrer Mitglieder und Kader, zu polizeitypischen Feindbildkonstruktionen und Problemlösungsstrategien sowie zu Kameradschaftlichkeit und Cop Culture, aber auch der Umgang mit Ansätzen von interkultureller Öffnung und von Gender Mainstreaming im Polizeiapparat können auf diese Weise weder angemessen dargestellt noch tiefergehend untersucht werden. Eine kritische Geschichte deutscher Polizeigewerkschaften wäre also erst noch zu schreiben – Reuters durchaus penibel erstellte Chroniken genügen diesem zugegebenermaßen hohen Anspruch leider nicht.

[1]      Reuter, M.:70 Jahre „Gewerkschaft der Polizei“ (GdP) von 1950 bis 2020, Frankfurt/M. 2020; Ders.: Polizeigewerkschaften in Nordrhein-Westfalen (NRW) am Beispiel der „Gewerkschaft der Polizei, Landesbezirk NRW“ (GdP NW), Frankfurt/M. 2009
[2]     Ders.: Die Historie des „Bund Deutscher Kriminalbeamter e.V.“ (BDK) 1967 bis 2015, Frankfurt/M. 2016
[3]     Ders.: Die „Deutsche Polizeigewerkschaft im DBB“ (DPolG) von 1951 bis 2017, Frankfurt/M. 2020
[4]     Ders.: Vom „Bundesgrenzschutzverband“ zur „Deutschen Polizeigewerkschaft – Bundespolizeigewerkschaft“, in: VEKO-online 5/2014 (https://www.veko-online.de/archiv-aus­gabe-05-2014/434-polizei-vom-bundesgrenzschutzverband-zur-deutschen-polizeigewerk­schaft-bundespolizeigewerkschaft.html)
[5]     Ders.: Polizeigewerkschaften in der „Deutschen Demokratischen Republik“, Berlin 2016
[6]     Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 2.10.2019
[7]     DGB: Hart erkämpften Beamtenstatus sichern (Interview mit dem DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann), in: Deutsche Polizei 2020, H. 8, S. 26
[8]     Die Polizei ist sehr machtvoll. Wir müssen misstrauisch sein (Interview mit Rafael Behr), ZEIT-Online v. 20. 8. 2020
[9]     Herrnkind, M.: Der Amnesty Polizeibericht 2010. Menschenrechtsrecherche und ihr Nutzen für die Polizeiforschung, in: Kriminologisches Journal 2011, H. 3, S. 213

Beitragsbild: DPolG-Pressekonferenz von 2011 mit Eisbein (Screenshot YouTube).

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert