Schlagwort-Archive: Europäische Union

Den Fortschritt nutzen: Migrationsabwehr als angewandte Wissenschaft

In der Forschungsförderung unterstützen Europäische Union und deutsche Bundesregierung die Abwehr unerwünschter Einwanderung: Die Entdeckung von unerlaubt Einreisenden oder Eingereisten soll verbessert, Grenzen sollen effektiver überwacht und Netzwerke der Grenzsicherungsbehörden sollen gestärkt werden. Die Forschungen legitimieren sich mit Lücken im Grenzschutz, deren Existenz sie zugleich aufdecken und schließen wollen. Sie versprechen, soziale Probleme mit den Mitteln fortgeschrittener Informations- und Naturwissenschaft zu lösen – mit negativen Wirkungen weit jenseits der Migrationsabwehr.

Öffentlich wenig bekannt ist, woran die Unternehmen der Informations-, Kommunikations- und Überwachungstechnologien in ihren Laboratorien und Forschungsabteilungen gegenwärtig arbeiten. Erkennbar ist nur jener Ausschnitt an Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten, die über staatliche Förderprogramme unterstützt werden. Der Blick auf diesen Ausschnitt erlaubt zwei Hinweise: Erstens kann er anzeigen, mit welchen Verfahren, welche Teilziele zur Umsetzung der politisch gewünschten Migrationsabwehr verfolgt werden sollen. Weil es hier um Forschungsvorhaben geht, handelt es sich regelmäßig um vollmundige Versprechen über die praktische Nützlichkeit des durch die Forschung Entwickelten; insofern ist deren tatsächliche Wirkung für die Zukunft ungewiss. Zweitens erlaubt die Forschungsförderung einen Blick auf den Zustand der Migrationsabwehr: Denn die Projekte verdanken ihre Förderung dem Umstand, dass sie in ihren Anträgen erfolgreich bestehende Überwachungs- und Kontrolldefizite behaupten, die sie zu schließen versprechen. Da die Abwehr unerwünschter Migration seit Jahrzehnten zum Kern europäischer Grenzpolitik gehört, wird in den Forschungsprojekten zugleich deutlich, welchen Umfang und welche Eingriffstiefe das Grenzkontrollparadigma mittlerweile erreicht hat. Den Fortschritt nutzen: Migrationsabwehr als angewandte Wissenschaft weiterlesen

Migration und Militarisierung: Die EU produziert eine Ökonomie der Angst

von Jacqueline Andres

Die einst als Zivilmacht betitelte EU transformiert sich in eine Sicherheitsunion. Die dort angenommenen Bedrohungen sind ein Motor für Forschung und Entwicklung. Auch für die illegalisierte Migration präsentiert sich die Sicherheitsindustrie als Lösungsanbieterin für politische, soziale und ökologische Probleme, die sie mitverursacht.

In der Region von Calais stürmten am 1. Januar 2022 Polizist*innen mit Schlagstöcken, Helmen und Schutzschildern auf Geflüchtete zu, rissen ihre Zelte nieder und setzten Tränengas gegen sie ein. Den Angegriffenen blieb keine Zeit, ihr Hab und Gut zu retten. Die Räumung schloss sich an rund 150 weitere an, die allein zwischen den Weihnachtsfeiertagen und Neujahr in der Region durchgeführt wurden.[1] Diesen gewalttätigen Ein­sätzen liegt eine Versicherheitlichung von Migration zugrunde, die entmenschlicht, leicht ausbeutbare Arbeitskräfte schafft und das Sterben von Menschen normalisiert. Noch deutlicher tritt die EUropäische Stilisierung von people on the move zur Bedrohung an der polnischen Grenze zu Belarus zum Vorschein. Polnische Regierungsvertreter*innen sprechen von Menschen, die als „Waffen“ zur Destabilisierung der Grenze eingesetzt werden[2] – der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, und die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, nutzen die gleiche Analogie und werten die Lage als „hybriden Angriff“.[3] Migration und Militarisierung: Die EU produziert eine Ökonomie der Angst weiterlesen

Grenzüberschreitender Sicherheitsstaat: Die Europäische Union und ihre Krisen

von Chris Jones und Yasha Maccanico

Seit dem Amsterdamer Vertrag 1999 dienten verschiedene Krisen als Vorwand für den Ausbau der EU-Sicherheitsstrukturen. Sie haben die Macht der EU-Repressionsbehörden erweitert. Politisch motivierte Menschenrechtsverletzungen sind weiter an der Tagesordnung und verschärfen sich mit der jüngsten „Migrationskrise” an den Ostgrenzen der EU.

1992 machte der Vertrag von Maastricht aus der Europäischen Gemeinschaft die Europäische Union. Es folgten Schritte zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres (JI): zur Einrichtung von Europol (für die erste Maßnahmen bereits vor Maastricht ergriffen wurden), zu Auslieferung und Korruption, Visumspflicht, Aufenthaltstitel u.v.m. Hinter den Kulissen führten die Mitgliedstaaten im Rat vertrauliche Gespräche, um die Koordinierung zu verbessern und gemeinsame Aktivitäten zu verstärken, einschließlich einer Partnerschaft zwischen der EU und den USA. Grenzüberschreitender Sicherheitsstaat: Die Europäische Union und ihre Krisen weiterlesen

Antiterrorismus im Schneckentempo: Wenig Einsatz der Europäischen Union gegen rechts

von Matthias Monroy

Erst nach dem Anschlag in Christchurch nahmen die EU-Kommission und der Rat den gewaltbereiten Rechtsextremismus ernster. Fortschritte bei der grenzüberschreitenden Bekämpfung des Phänomens gibt aber es nicht. Einige Mitgliedstaaten bremsen bei politischen Beschlüssen und werten terroristische Anschläge nur als „Extremismus“.

Am 15. März 2019 hat der aus Australien stammende Rechtsterrorist Brenton Tarrant im neuseeländischen Christchurch 51 Menschen kaltblütig erschossen und weitere 50 verletzt. Der Täter gilt als „Einsamer Wolf“ oder „Lone Actor“, also eine Einzelperson, die sich in rechten Foren und Sozialen Medien im Internet radikalisiert hat. Lange Jahre haben europäische Polizeien und Geheimdienste das Phänomen ausschließlich im Bereich des islamistischen Terrorismus beobachtet und verfolgt, erst nach dem folgenschweren Anschlag geraten auch grenzüberschreitende rechte Netzwerke und über deren Strukturen radikalisierte Einzeltäter auf die EU-Tagesordnung. Antiterrorismus im Schneckentempo: Wenig Einsatz der Europäischen Union gegen rechts weiterlesen

Europäische Sicherheitsforschung: Mangelnde Transparenz und Demokratie

von Chris Jones

Bis 2020 wird die EU mehr als drei Milliarden Euro in ihr Sicherheitsforschungsprogramm investiert haben. Dessen Ziel ist, „innovative Technologien und Lösungen zu entwickeln, die Sicherheitslücken beheben und eine Minderung des von Sicherheitsbedrohungen ausgehenden Risikos bewirken.“

In der Praxis wird das Programm von Unternehmen und großen nationalen Forschungsinstituten dominiert, die versessen darauf scheinen, im Namen der öffentlichen Sicherheit eine Überwachungsgesellschaft einzuführen – ein besonders verstörender Ausblick in einem Europa, in dem zunehmend autoritäre Regierungen die Ängste der Bevölkerung bezüglich Terrorismus und Migration ausnutzen, um provisorische Ausnahmebefugnisse dauerhaft im regulären Strafrecht zu verankern.[1]

Der offizielle Name des Europäischen Sicherheitsforschungsprogramms (European Security Research Programme: ESRP) lautet „Sichere Gesellschaften“ (Secure societies – protecting freedom and security of Europe and its citizens). Für 2014 – 2020 stehen dafür 1,7 Mrd. Euro bereit. Das Programm ist Teil des über 77 Mrd. Euro umfassenden Forschungs- und Entwicklungsbudgets „Horizont 2020“. Das Vorgänger­programm war mit einem Budget von 1,4 Mrd. Euro im Siebten Rahmenprogramm (RP7) 2007-13 angesiedelt. Europäische Sicherheitsforschung: Mangelnde Transparenz und Demokratie weiterlesen

Verpolizeilichung des Strafrechts: Neue EU-Richtlinie zur Terrorismusbekämpfung

von Elif Eralp

Mit einem Richtlinienvorschlag vom Dezember 2015 möchte die Europäische Kommission die geltenden EU-Vorschriften zur Strafbarkeit terroristischer Handlungen ausweiten.[1] Einmal mehr bleiben dabei Grundrechte außen vor.

Im Fokus sind vor allem ausländische terroristische KämpferInnen sowie in Drittländern an terroristischen Handlungen teilnehmende Reisende. Die Richtlinie, die die Mitgliedstaaten in ihr nationales Strafrecht umsetzen müssen, enthält Vorgaben, die aus grundrechtlicher Sicht höchst problematisch sind. Sie werden die nicht nur in Deutschland seit Jahren sichtbare Verpolizeilichung des Strafrechts weiter vorantreiben. Verpolizeilichung des Strafrechts: Neue EU-Richtlinie zur Terrorismusbekämpfung weiterlesen

Quantensprung für Frontex: Der unaufhaltsame Aufstieg der Grenzschutzagentur

von Maria Winker und Matthias Monroy

Zunehmende Migrationsbewegungen auf der Westbalkanroute und im zentralen Mittelmeer sollen zu einem weiteren Ausbau der Kompetenzen von Frontex führen. Dies beträfe vor allem die vorausschauende Informationssammlung, Soforteinsatzteams an Außengrenzen und Abschiebungen. Wie bereits seit langem gefordert soll Frontex Einsätze selbst verantworten und durchführen.

Im Mai 2015 feierte die EU-Grenzagentur Frontex ihr zehnjähriges Bestehen. 2005 als „Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union“ gegründet, wuchsen Größe, Relevanz und Budget stetig. Inzwischen ist Frontex mit Sitz in Warschau die zentrale Akteurin im europäischen Grenzmanagement: Forschung und „Risikoanalysen“ zur Lage an den EU-Außengrenzen werden mit operativen Einsätzen vor allem an südlichen und süd-östlichen EU-Grenzen kombiniert. Kooperationen mit Drittstaaten sowie Agenturen wie Europol erweitern die Tätigkeitsfelder nicht nur geografisch. Die gegenwärtige „Migrationskrise“ führt zu einem weiteren Aufwuchs der Agentur. Quantensprung für Frontex: Der unaufhaltsame Aufstieg der Grenzschutzagentur weiterlesen

Polizei und Krise: Wenn der Notfallknopf gedrückt wird…

Sicherheitskampagnen und polizeiliche Gewalt sind regelmäßiger Bestandteil staatlicher Krisenbewältigung.

„Policing the crisis“ lautete der Titel eines vor mehr als drei Jahrzehnten erschienenen Buches von Stuart Hall, Chas Critcher, Tony Jefferson, John Clarke und Brian Roberts.[1] Die Autoren des Centre for Contemporary Cultural Studies schilderten darin zunächst die schnelle Karriere eines neuen Kriminalitätslabels in den Jahren 1972/73: Polizeilich importiert aus den USA, aufgeblasen durch eine Unzahl von Medienberichten sowie durch polizeiliche und regierungsamtliche Stellungnahmen und Aktionsprogramme kristallisierte sich um den Begriff „mugging“ eine sicherheitspolitische Kampagne. Das neue Label stand nicht einfach für Überfälle, wie es sie immer wieder gegeben hatte, sondern wurde zum Synonym für Gewaltkriminalität im öffentlichen Raum, für eine von Jugendlichen und ImmigrantInnen ausgehende Bedrohung, für den Zerfall der Ordnung in den Städten schlechthin. Es bildete die Rechtfertigung für gnadenlose Verurteilungen von bisher nicht Vorbestraften und für ein hartes Vorgehen der Polizei. Polizei und Krise: Wenn der Notfallknopf gedrückt wird… weiterlesen

Neue europäische Polizeikooperation – Eine Bestandsaufnahme nach mehr als drei Jahrzehnten

Angesichts neuer internationaler Bedrohungen brauche es mehr Informationsaustausch und eine direktere Zusammenarbeit. Das waren polizeiliche Forderungen der 70er Jahre. Was ist daraus geworden?

1978 erhielt die Redaktion des gerade entstandenen Informationsdienstes CILIP einen Brief des niederländischen Kollegen Cyrille Fijnaut: Ein neues europäisches Polizeigremium sei entstanden, das sich unter dem Namen TREVI treffe. Das Kürzel stehe für „terrorisme, radicalisme, extremisme, violence internationale“ Es sei völlig unklar, was die Herrschaften dort treiben. Und es sei dringend erforderlich, das im Auge zu behalten. In der Tat zeigten sich hier die Anfänge einer neuen Polizeikooperation. Schon neun Jahre später konstatierte Fijnaut, dass sich hier ein „turbulenter“ Wandel vollzogen habe, dessen Schnelligkeit vor allem dem Umstand zu verdanken sei, dass die Terrorismusbekämpfung sein ideologisches Treibmittel war und folglich „die Sicherheit des Staates … in Frage stand oder zu stehen schien.“[1] Die „Turbulenzen“ hörten aber keineswegs auf, als das Thema Terrorismus in den 80er und 90er Jahren in den Hintergrund trat und – bis zum Herbst 2001 – durch neue Bedrohungsbilder der „organisierten Kriminalität“, des internationalen Drogenhandels, der illegalen Einwanderung etc. abgelöst wurde. Neue europäische Polizeikooperation – Eine Bestandsaufnahme nach mehr als drei Jahrzehnten weiterlesen

VON INTERPOL ZU TREVI – POLIZEILICHE ZUSAMMENARBEIT IN EUROPA

Parallel zur Modernisierung der westeuropäischen Polizeien in den 70er Jahren vollzog sich eine neue Welle der Internationalisierung der Polizei, die über die traditionellen Formen der Rechtshilfe in Strafsachen hinaus zu einer direkteren polizeilichen Kooperation führte und in der Interpol seine Stellung als wichtigste Institution der „internationalen Verbrechensbekämpfung“ eingebüßt hat. Es sind neue, weitgehend unbekannte Gremien und Institutionen entstanden, in denen die Polizeien maßgeblichen Einfluß auf die Gestaltung der europäischen „Politik innerer Sicherheit“ haben – allen voran die Arbeitsgruppe TREVI. VON INTERPOL ZU TREVI – POLIZEILICHE ZUSAMMENARBEIT IN EUROPA weiterlesen