Im vergangenen Jahr haben verschiedene internationale Medien zusammengetragen und mit Videos und Berichten von Betroffenen belegt, wie Griechenlands Küstenwache in großem Umfang Geflüchtete in der Ägäis völkerrechtswidrig in die Türkei zurückschiebt. An diesen Push Backs sind auch Einheiten beteiligt, die einzelne EU-Mitgliedstaaten im Rahmen der Frontex-Mission „Poseidon Sea“ nach Griechenland entsandt haben. Auch die Bundespolizei soll dabei mitgeholfen haben, etwa am 10. August 2020, als die Beamt*innen ein überfülltes Schlauchboot mit rund 40 Menschen an Bord gestoppt und anschließend der griechischen Küstenwache übergeben haben.[1] Im Rahmen der NATO-Einsatzgruppe „Maritime Group 2“ hat zudem die Bundeswehr vom Einsatzgruppenversorger „Berlin“ am 19. Juni 2020 beobachtet, wie ein Boot mit Geflüchteten von griechischen Behörden in türkisches Seegebiet abgedrängt worden ist. Die Soldat*innen griffen dabei nicht ein.
Der Frontex-Verwaltungsrat hat auf die zahlreichen Vorwürfe mit der Einrichtung einer Arbeitsgruppe reagiert, die am 5. März ihren Abschlussbericht vorlegte. Zu den meisten Fällen wird eine Beteiligung oder Mithilfe abgestritten, fünf Vorfälle konnten jedoch nicht aufgeklärt werden. Frontex-Direktor Fabrice Leggeri behauptet seitdem sinnentstellend, die Arbeitsgruppe, die ihn selbst und die griechische Küstenwache als „Experten“ anhörte, habe keinen Beleg gefunden dass Frontex-Einheiten an rechtswidrigen Rückführungen beteiligt waren.[2]
In den Frontex-Verwaltungsrat entsenden alle EU-Mitgliedstaaten Vertreter*innen, außerdem ist die EU-Kommission daran beteiligt. Einfluss auf die alltägliche Arbeit der Grenzagentur hat der Verwaltungsrat aber nicht. Frontex ist eine unabhängige Agentur, die der Rat der Europäischen Union 2004 mit der Verordnung (EG) Nr. 2007/2004 ohne Parlamentsbeschluss eingerichtet hat. Sie besitzt demnach eine eigene Rechtspersönlichkeit und verfügt über Durchführungsbefugnisse. Als Leitungsorgan fungieren der Exekutivdirektor und seine inzwischen drei Stellvertretenden. Diese sind gemäß der aktuellen Verordnung von den anderen EU-Organen sowie den Mitgliedstaaten „in der Wahrnehmung seiner Aufgaben völlig unabhängig“. Direktor Leggeri darf „Weisungen von Regierungen oder sonstigen Stellen weder anfordern noch entgegennehmen“. Es gibt also kein Organ, das Frontex gegenüber eine Fachaufsicht übernimmt.
Mit den massenhaften Push Backs an griechischen Land- und Seegrenzen wird dieses Kontrolldefizit zu einem drängenden Problem. Das EU-Parlament hat deshalb im Februar im Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) eine „Frontex Scrutiny Working Group“ eingerichtet, die nach vier Monaten einen Bericht zu den Push Backs und eine Entschließung vorlegen soll. Weisungen kann der Sonderausschuss aber nicht erteilen.
Auch das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) untersucht seit Dezember ein mutmaßliches Fehlverhalten des Exekutivdirektors Leggeri, dessen Büro hierzu sogar durchsucht wurde. Dabei soll es sich um einen möglichen Betrugsfall und Vorwürfe wegen Belästigung am Arbeitsplatz handeln, außerdem um Informationen, die dem Grundrechtsbeauftragten vorenthalten wurden. Mindestens fünf weitere Verfahren sind bei der Europäischen Bürgerbeauftragten Emily O’Reilly anhängig. Dabei geht es um die Wirksamkeit des Beschwerdemechanismus der Agentur und zur Rolle des Grundrechtsbeauftragten. O’Reilly untersucht außerdem die Transparenz der Agentur, die etwa der Plattform „Frag den Staat“ den Zugang zu Dokumenten zur Nachverfolgung der Frontex-Schiffen verweigert.
In einem Vorverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof fordern drei Anwält*innen Frontex außerdem gemäß Art. 265 AEUV auf, den Einsatz in der Ägäis angesichts schwerwiegender und anhaltender Menschenrechtsverletzungen gemäß Artikel 46 der Frontex-Verordnung auszusetzen oder einzustellen. Weitere drei Anwält*innen haben eine Mitteilung an die Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofs gerichtet, Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen syrische Flüchtlinge in Griechenland zu untersuchen.[3]