Frontex und die Gewaltfrage

Mit der „Ständigen Reserve“ verfügt die EU erstmals über eine bewaffnete Polizeitruppe. Der Einsatz von Pistolen und anderen Zwangsmitteln soll von einem „Ausschuss für die Anwendung von Gewalt“ beobachtet werden, dessen Mitglieder der Frontex-Direktor aussucht. Das verstärkt das Kontrolldefizit bei der größten EU-Agentur.

Bislang verließ sich Frontex in ihren Einsätzen ausschließlich auf Personal und Ausrüstung, die aus den EU-Mitgliedstaaten entsandt wurden. Die Grenzagentur verfügte zwar über eigenes Personal von bis zu 1.500 Beamt:innen, die aber lediglich in zivil und vorwiegend am Sitz in Warschau eingesetzt wurden. Inzwischen ist Frontex in Bezug auf Personal und Haushalt zur größten Agentur der Union geworden. Das Budget für dieses Jahr beträgt 544 Millionen Euro, für die kommenden sieben Jahre erhält Frontex 5,6 Milliarden Euro.

Das meiste Geld wird derzeit für eine neue Grenztruppe ausgegeben, die das gestärkte Mandat der Grenzagentur umsetzen soll. Die vor zwei Jahren erneuerte Frontex-Verordnung bestimmt den Aufbau einer „Ständigen Reserve“ („Standing Corps“) von insgesamt 10.000 Beamt:innen, die sich in vier Kategorien für Kurz- und Langzeiteinsätze aufteilen. 3.000 Einsatzkräfte der „Kategorie 1“ werden als sogenanntes Statutspersonal direkt dem Hauptquartier in Warschau unterstellt. Sie tragen Frontex-Uniformen und dürfen neben Pistolen weitere Einsatzmittel zur Ausübung von Zwang einsetzen. Damit verfügt die Europäische Union erstmals über eine bewaffnete Polizeitruppe.

„Neue rechtliche Herausforderungen und Fragen“

Die EU-Kommission bezeichnet diesen „ersten uniformierten europäischen Strafverfolgungsdienst“ als eine „einzigartige, bahnbrechende Gelegenheit, Teil der operativen Komponente der EU für das integrierte europäische Grenzmanagement zu werden“. Der Aufbau der „Ständigen Reserve“ und ihre Einsätze werfen demnach aber auch „verschiedene neue rechtliche Herausforderungen und Fragen auf“.

Unter anderem beinhaltet die Verordnung von 2019 keine Rechtsgrundlage für den Erwerb, die Lagerung und den Transport von Waffen in Polen, wo Frontex ihren Sitz hat. Auch polnische Gesetze oder das Sitzabkommen, das Frontex mit der polnischen Regierung abgeschlossen hat, enthalten keine entsprechende Regelung. Darauf hatte letztes Jahr auch die Kommission hingewiesen, diese Einschätzung wurde in zwei externen Gutachten bestätigt. Die Bewaffnung des Statutspersonals der „Kategorie 1“ ist deshalb nicht wie geplant am 1. Januar erfolgt.

Die rechtliche Lücke hat Frontex erst kürzlich in einem Zusatzabkommen mit Polen geschlossen, wo die Waffen nun registriert werden. Neue Gutachten zur rechtlichen Bewertung dieses Abkommens hält die Agentur geheim.

2.500 Feuerwaffen und 3,6 Millionen Patronen

Laut den „Frontex Files“ hat die Agentur bereits 2019 einen „Industriedialog zu Waffen, Munition und Holster“ mit den Firmen Heckler & Koch, SigSaur, Glock und Grand Power abgehalten. Diese wurden aufgefordert, sich für eine etwaige Vergabe bereitzuhalten. Erst zwei Jahre später, am 15. Februar dieses Jahres, hat die Grenzagentur schließlich die europaweite Ausschreibung veröffentlicht.

Versorgung mit Waffen und Munition bis 2024 (Frontex).

Die ersten halbautomatischen 9mm-Pistolen sollen im Sommer geliefert werden, bis 2024 will Frontex insgesamt 2.500 Feuerwaffen und 3,6 Millionen Patronen beschaffen. Die Gesamtkosten des Auftrags sollen fünf Millionen Euro betragen. Zur Lieferung gehören Holster, Pistolenkoffer, Ersatzteilsätze, Taschenlampen und ein Reinigungsset. Schließlich umfasst der Vertrag auch das Training von 15 Schießausbilder:innen.

Zur „Kategorie 1“ gehört außerdem „nichtletale Ausrüstung“ zur Ausübung von Zwang. Frontex beschafft dazu laut ihrem Direktor Fabrice Leggeri 300 kugelsichere Westen und fast 1.000 Gummi-Schlagstöcke, außerdem weitere 700 Teleskopschlagstöcke in verschiedenen Größen. Die Beamt:innen tragen ferner insgesamt 3.800 Dosen Reizstoffe, die für kurze, mittlere und lange Distanzen eingesetzt werden können. Ob es sich dabei um Pfefferspray oder auch um Tränengas handelt, teilt die Kommission nicht mit.

Überbrückungslösung aus Griechenland

Bislang verfügt Frontex erst über 500 Beamt:innen der „Kategorie 1“, ihre Ausbildung erfolgte in Spanien und Italien. Bis Ende des Jahres sollen insgesamt 700 von ihnen zur Verfügung stehen. Eine zweite Staffel von rund 300 Beamt:innen wird 2022 trainiert. Der erste Einsatz der Truppe erfolgt seit Ende Januar zur Unterstützung von Abschiebungen durch die italienische Polizei am Flughafen Fiumicino in Rom. Für dieses Aufgabenprofil ist keine Bewaffnung erforderlich.

Aufgaben der „Ständigen Reserve“ (Frontex).

Damit die „Ständige Reserve“ wie vorgesehen ihren ersten robusten Einsatz an einer EU-Außengrenze beginnen kann, rüstet übergangsweise Griechenland die „Kategorie 1“ an der griechisch-türkischen Grenze mit Waffen aus. Das schreibt das Bundesministerium des Innern in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage und bestätigt damit Aussagen des Frontex-Direktors, der von den Plänen Mitte März vor dem Europäischen Parlament berichtet hatte.

Die Regierung in Athen hat demnach „die nationalen rechtlichen Rahmenbedingungen“ für eine solche Überbrückungslösung geschaffen. Der Vertrag beinhaltet zudem das Schießtraining, das laut einem Video von Frontex längst begonnen hat. Die Registrierung der an Frontex ausgeliehenen 9mm-Pistolen erfolgt in Griechenland, die Agentur kümmert sich um deren sachgerechte Lagerung. Frontex hat hierfür eine Ausschreibung für Metallkoffer gestartet. Ihre Lieferung soll „an verschiedene Standorte in Griechenland“ erfolgen.

Waffenleihe auch von anderen Gaststaaten geplant

Ähnliche Abkommen plant Direktor Leggeri auch mit anderen Gaststaaten. Ob es sich dabei auch um Drittstaaten handelt, ist unklar. Den ersten Einsatz außerhalb der Europäischen Union begann Frontex vor zwei Jahren in Albanien, ein zweiter folgte letztes Jahr an Land- und Seegrenzen in Montenegro.

Die Anwendung von Zwang mit Waffen, Munition und „nichtletaler Ausrüstung“ ist in einem Anhang der Frontex-Verordnung geregelt. Sie dürfen demnach nur während der Dienstzeiten geführt und dort als letztes Mittel benutzt wer­den. Das Statutspersonal darf auf „physische Mittel“ zurückgreifen, „um seine Aufgaben auszuüben“. Als weiterer Zweck wird die Notwehr aufgeführt. Einzelheiten regelt ein Einsatzplan, der zwischen dem Frontex-Direktor und dem Einsatzmitgliedstaat vereinbart wird.

Die Führung der „Ständigen Reserve“ obliegt einer stellvertretenden Direktor:in, deren Stelle neu eingerichtet wird und derzeit ausgeschrieben ist. Zum Fähigkeitsprofil der gesuchten Person gehören „hervorragende Entscheidungsfähigkeiten“, einschließlich eines „starken Bewusstseins für strategisch und politisch heikle Themen“.

Keine Fachaufsicht

Heikel sind die Einsätze der „Kategorie 1“ nicht nur wegen ihrer Bewaffnung, sondern auch wegen des allgemeinen Kontrolldefizits von Frontex. Es existiert kein übergeordnetes Gremium, das der Grenzagentur oder deren Direktor Weisungen erteilen darf. Zwar kann der Frontex-Verwaltungsrat, in dem sich die Mitgliedstaaten und die EU-Kommission organisieren, den Direktor absetzen. Das EU-Parlament kann sich zudem weigern, den Haushalt der Agentur zu verabschieden. Eine Fachaufsicht über die laufenden Einsätze gibt es jedoch nicht.

Das ist nicht zuletzt deshalb problematisch, weil der Direktor laut der Frontex-Verordnung auch für die Überwachung der korrekten Anwendung von Gewalt durch das Statutspersonal des Ständigen Korps verantwortlich ist. Leggeri wird dabei gemäß Artikel 8 von einem „Beratenden Ausschuss für die Anwendung von Gewalt“ (ACUF) unterstützt.

Das erst in letzter Minute eingerichtete Gremium hat jedoch nur beratende Funktion und soll „Empfehlungen“ abgeben. Der Ausschuss ist überdies alles andere als unabhängig, denn seine Mitglieder werden von Leggeri selbst ernannt. Ähnlich wie zu der inzwischen vielfach berichteten Mithilfe bei völkerrechtswidrigen Zurückweisungen ist also auch hinsichtlich der neuen bewaffneten EU-Grenztruppe eine ernsthafte Aufsicht nicht zu erwarten.

Beitragsbild: Frontex.

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