von Michèle Winkler und Levi Sauer
Mit großem Tamtam werden seit einigen Jahren polizeiliche Lagebilder zur sogenannten „Clankriminalität“ präsentiert. Darin genannte Zahlen bestimmen die Headlines der Boulevardblätter. Wie die Zahlen zustande kommen und was noch in den Berichten steht, findet kaum Beachtung. Dabei wäre das bitter nötig.
„Als Clan-Kriminalität wird eine Form der organisierten Kriminalität […] bezeichnet“. So beginnt der deutschsprachige Wikipedia-Eintrag mit der Überschrift „Clan-Kriminalität“ und benennt damit eine verbreitete Vorstellung zum Thema. Auch die großen deutschen Tageszeitungen und Boulevardblätter nutzen die Begriffe „Clankriminalität“ und Organisierte Kriminalität (OK) nahezu synonym. Gleiches gilt für Innenminister*innen in Pressemitteilungen und Interviews. Als Bezugsgrößen für diese Gleichsetzungen halten oft die polizeilichen Lagebilder her. Doch die Polizei selbst fasst den Begriff viel weiter. In ihren Veröffentlichungen fällt sämtliche Delinquenz bestimmter ethnischer Gruppen unter das Label „Clankriminalität“. In der Pressemitteilung zur Veröffentlichung des ersten Lagebildes „Clankriminalität“ des Landeskriminalamts (LKA) von Nordrhein-Westfalen (NRW) heißt es gar: „Neben offen illegalen Aktivitäten (Rauschgifthandel, Glücksspiel, Sozialleistungsbetrug) betreiben Clanmitglieder auch scheinbar legale Geschäfte (Autohandel, Sicherheits-Dienstleistungen, Schlüsseldienste), meist mit dem Ziel zu betrügen, Geld zu waschen oder als Tarnung für kriminelle Vorhaben.“[1] Die Lagebilder sollen den Legitimationshintergrund für die Haltung schaffen, die in solchen Aussagen zutage tritt. Sie versuchen die stigmatisierenden und institutionell rassistischen Praktiken mithilfe von Zahlenmaterial zu objektivieren. Wie die Inhalte der Lagebilder und die darin veröffentlichten Zahlen zustande kommen, zeichnen wir im vorliegenden Beitrag nach.
Die Anfänge: Pilotprojekte und Lagebilder
Lagebilder sind jährliche polizeiliche Berichte zu bestimmten Themenfeldern, „Phänomenbereichen“ im Polizeijargon. So gibt es beispielsweise explizite Berichte zu Organisierter Kriminalität oder Wirtschaftskriminalität. Öffentliche Lagebilder zur „Clankriminalität“ (im Folgenden kurz: Lagebild) wurden in Deutschland seit 2018 sukzessive durch die Landeskriminalämter in den Bundesländern Berlin, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen eingeführt. Zuvor wurden teilweise schon interne Auswertungen erstellt. Niedersachsen erstellte erstmals 2013 ein polizeiinternes Lagebild.[2] Bremens Polizeipräsident richtete 2009 eine „Informationsstelle ethnische Clans“ ein.[3] Mittlerweile liegen vier öffentliche Lagebilder zur „Clankriminalität“ für NRW, drei für Berlin und zwei für Niedersachsen (Nds) vor. Zusätzlich integriert das Bundeskriminalamt (BKA) seit dem Berichtsjahr 2018 je ein Unterkapitel zur „Clankriminalität“ in das jährliche „Bundeslagebild Organisierte Kriminalität“. Inhaltlich umfassen die 40 bis 50-seitigen Berichte Begriffsdefinitionen, qualitative Lagebeschreibungen, Informationen zur Datenerhebung, quantitative Analysen, Beschreibungen polizeilicher Tätigkeiten und plakative Beispielfälle. Dabei erfüllen die Lagebilder einen bestimmten Zweck für Polizei und Innenministerien: Sie sind Grundlage zur Legitimierung polizeilichen Handelns und damit zugleich auch Rechtfertigung für bestimmte Maßnahmen. Sie lenken die öffentliche Aufmerksamkeit und setzen politische Themen.
NRW ist Vorreiter der seit 2018 deutlich ausgeweiteten polizeilichen Schwerpunktsetzung auf „Clankriminalität“. In den offiziellen Verlautbarungen der damals amtierenden schwarz-gelben Landesregierung wurde dabei von Anfang an eine semantische Gleichsetzung von OK und „Clankriminalität“ vorgenommen. Die Landesregierung hatte es zum Ziel erklärt, der „Ausbreitung von Organisierter Kriminalität – insbesondere durch […] Familienclans“[4] zu begegnen. Dem sollte u. a. durch die Einführung der Lagebilder Genüge getan werden. Das bundesweit erste Lagebild, das Innenminister Herbert Reul (CDU) am 15. Mai 2019 gemeinsam mit Thomas Jungbluth, Abteilungsleiter OK beim LKA NRW präsentierte, markierte einen Politikwechsel im Umgang mit der „Clankriminalität“ in NRW. Die abgewählte rot-grüne Landesregierung hatte eine solche Analyse stets abgelehnt. „Aus polizeilicher Sicht verbiete sich eine Kategorisierung“, hatte der damalige Innenminister Ralf Jäger (SPD) noch Ende 2015 in einem Bericht für den Landtag argumentiert.[5] Schließlich ermittle die Polizei gegen Personen nicht allein aufgrund ihrer Familienzugehörigkeit.[6]
Ganz unschuldig ist die SPD in NRW allerdings nicht an der Entwicklung: Dem Lagebild 2018 ging das im Jahr 2016 durch den damaligen Innenminister Jäger (SPD) in Auftrag gegebene Projekt KEEAS – „Kriminalitäts- und Einsatzbrennpunkte geprägt durch ethnisch abgeschottete Subkulturen“ voraus. „Ethnisch abgeschottete Subkulturen“ wurde lange Zeit als Überbegriff für die „Clankriminalität“ benutzt, bis dieser vollends als Begriff etabliert war. Heute noch wird die „ethnische Abschottung“ als Hauptmerkmal zur Erkennung von „Clankriminalität“ herangezogen. Der zeitgleich mit dem ersten NRW-Lagebild im Innenausschuss fertig gestellte KEEAS-Abschlussbericht [7] für die Jahre 2016 bis 2018 diente als definitorische Basis für die Beschreibungen im ersten Lagebild NRW und als Blaupause für weitere Lagebilder im Bund. Im Rahmen des KEEAS-Projekts wurde auch die Liste der Nachnamen erarbeitet.[8] Was dem KEEAS-Bericht ebenso wie allen weiteren polizeilichen Veröffentlichungen zum Thema fehlt: eine wissenschaftlich haltbare empirische Grundlage. So scheitern sowohl der KEEAS-Bericht als auch sämtliche Lagebilder schon an einer nachvollziehbaren Definition.
Definitionsversuche
Im KEEAS-Bericht heißt es noch, weder auf Bundesebene noch auf NRW-Landesebene bestehe ein einheitliches Verständnis darüber, welchen Kriterien einen Clan ausmachen, ab wann eine Gruppierung darunter falle oder welche Phänomene oder Sachverhalte unter „Clankriminalität“ zu subsumieren seien.[9] In der Tat unterschieden sich die von einzelnen Landeskriminalämtern und dem BKA genutzten Definitionen von „Clankriminalität“ zum Teil erheblich. Gemeinsam ist allen Definitionsversuchen, dass sie zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe verwenden. Das LKA NRW nutzt beispielsweise diese Definition: „Der Begriff Clankriminalität umfasst die vom Gewinn- oder Machtstreben bestimmte Begehung von Straftaten unter Beteiligung Mehrerer, wobei
- in die Tatbegehung bewusst die gemeinsame familiäre oder ethnische Herkunft als verbindende, die Tatbegehung fördernde oder die Aufklärung der Tat hindernde Komponente einbezogen wird,
- die Tatbegehung von einer fehlenden Akzeptanz der deutschen Rechts- oder Werteordnung geprägt ist, und
- die Straftaten einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung“[10]
Die definitorische Grundlage wurde vom LKA NRW nicht aus der Luft gegriffen, sondern orientiert sich an der Definition für „Organisierte Kriminalität“ des BKA.[11] Die oben kursiv hinterlegten Satzteile wurden wörtlich aus der gängigen OK-Definition, auf die sich Justiz- und Innenminister bereits 1986 verständigt hatten, übernommen und um ethnisierende Definitionsteile angereichert. Wir haben also in NRW eine Definition für „Clankriminalität“, die maßgeblich der OK-Definition gleicht. Damit wird zwar suggeriert, dass es sich bei der „Clankriminalität“ ausschließlich um Organisierte Kriminalität handele, die Lagebilder selbst zeigen jedoch ein anderes Bild. Umfasst werden dort neben OK-Verfahren auch sämtliche Straftaten „aus dem Bereich der Allgemein- und Massenkriminalität“[12] sowie Verstöße gegen das Verkehrsrecht, Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz, Gewerberecht, Jugendschutzgesetze, Tabaksteuer, Hygienevorgaben, Glücksspielgesetze, Nichtraucherschutzgesetz und die Gaststättenverordnung. Teilweise werden auch vollkommen legale Aktivitäten wie „Bezüge zur Poser- und Raser-Szene und dem Gangster Rap“ erfasst.[13] Letztlich findet sich in den Lagebildern jegliche polizeilich erfasste Delinquenz bestimmter ethnisch definierter Bevölkerungsgruppen.
Herkunft und Familienname als Maßstab für Kriminalität?
Was die Lagebilder maßgeblich prägt, sind ethnisierende „Zuordnungskriterien und Indikatoren“[14] – letztlich stereotype orientalistische und rassistische Beschreibungen, die einen institutionell rassistischen Zugriff auf bestimmte Bevölkerungsgruppen legitimieren. Dabei fokussieren alle Lagebilder explizit „auf die kriminellen Mitglieder türkisch-arabischstämmiger Großfamilien, soweit diese Bezüge zur Bevölkerungsgruppe der Mhallamiye oder zum Libanon haben“;[15] „auf die Kriminalität […] von Angehörigen ethnisch abgeschotteter arabisch-stämmiger Strukturen, deren ethnische Wurzeln insbesondere auf so genannte Mhallami-Kurden, Libanesen und staatenlose Palästinenser zurückgeführt werden können und die seinerzeit als Kriegsflüchtlinge aus dem Libanon zugewandert sind“[16] bzw. „auf die Zählung von Straftaten, die durch Angehörige von Clanstrukturen aus dem Kreis der Mhallamiye begangen wurden“.[17]
Nur das BKA will sich nicht so stark festlegen und unterteilt den Bereich „Clankriminalität“ „nach Herkunft“ in „Mhallamiye“, „arabischstämmig“, „türkeistämmig“, „Westbalkan“, „Maghreb-Staaten“ und „andere“.[18]
Wie kommen wir nun von der Definition und ethnischen Fokussierung zur konkreten Zuordnung der „Clankriminalität“ zu Personen? Hier hilft der Musterschüler NRW im Lagebild 2020 weiter: „Die in der Definition geforderte familiäre oder ethnische Verbundenheit wird in diesem Lagebild durch den gemeinsamen Nachnamen als gegeben angesehen, die Identifizierung von Clanangehörigen beruht auf einem namensbasierten Ansatz.“ Bereits die KEEAS-Projektgruppe hatte hierfür eine umfangreiche Liste mit „Clannamen“[19] erstellt: 211 Familiennamen, deren unterschiedliche Schreibweisen gebündelt wurden, sodass letztlich 104 Namen übrig blieben. Für das Jahr 2021 beläuft sich die Liste in NRW auf 113 Namen.[20] (Ein fiktives Beispiel zum besseren Verständnis: Meyer, Mayer, Meier und Mayr gehören zum selben Clan. Aber wie viele Straftaten, Ordnungswidrigkeiten und Vorfälle von Posen, Rasen und Gangsterrap bei den Meyers/Mayrs/Meiers aufliefen, wird uns nicht präsentiert, da sie es bisher – mangels entsprechender ethnischer Zuschreibung – nicht auf die Liste der Clannamen geschafft haben.) Auch Niedersachsen operierte mit einem namensbasierten Ansatz, hat nun aber zusätzlich einen Auswertemerker eingeführt. Damit wird bereits bei der polizeilichen Vorgangserfassung im Datensystem der Clanbezug gesetzt, um Auswertungen zu erleichtern. Ein „Innovationssprung“ bestehe zudem darin, dass nun „clankriminelles Verhalten ethnienunabhängig betrachtet“ werden könne, „da relevante kriminelle Verhaltensweisen auch durch Clans anderer ethnischer Zugehörigkeit feststellbar sind.“[21] Wahrscheinlich ist damit die Erweiterung des Fokus über Mhallamiye hinaus auf Gruppen gemeint, die das BKA schon einbezieht, etwa aus den Maghreb-Staaten.
Berlin ist das einzige Bundesland, das in den Lagebildern nicht offen einräumt, auf der Basis von Familiennamen zu arbeiten. Sie haben einerseits „umfangreiche innerbehördliche Meldeverpflichtungen implementiert“ und zudem im landespolizeilichen Datenerfassungssystem zwei ermittlungsunterstützende Hinweise (EHW) eingeführt: „Clankriminalität“ und „Clankriminalität-Umfeld“.[22] Die Vergabe des EHWs löst zusätzlich eine Abfrage im Ausländerzentralregister zur Feststellung der Staatsangehörigkeit aus. Wie die personengebundenen Ermittlungshinweise vergeben werden, erfährt man nur in einer vagen Fußnote: „per definitionsbezogener Einzelfallprüfung“.[23] Wie diese Einzelfallprüfung vorgenommen wird, ist bis dato nicht bekannt.
Zahlensalat
Nun sind also die Familien und Personen identifiziert, die als „Clankriminelle“ in die Lageberichte eingehen werden. Aber wo sind die präsentablen Zahlen? Wie kommen die „fast 400 Berliner Clanverdächtigen“ in den dpa-Newskanal? [24] Wie landen „fast 1.000 Straftaten“[25] in der Clan-Bilanz? Wir konzentrieren uns hier auf das Beispiel Berlin: Die EHW „Clan“ und „Clan-Umfeld“ werden per Stichtagsbetrachtung ausgewertet, um eine konkrete Anzahl von Personen auszugeben, die in Berlin als „Clanverdächtige“ gelten. Zum Stichtag 31. Dezember 2021 waren 426 Personen mit dem EHW „Clankriminalität“ und 93 Personen mit EHW „Clankriminalität-Umfeld“ versehen. Im Vorjahr waren es noch 388 Personen (316 plus 72), welche als „fast 400 Clanverdächtige“ im dpa-Newskanal landeten. Zusätzlich werden für diese erfassten Personen Recherchen im Landeserfassungssystem POLIKS durchgeführt, die eine Anzahl polizeilich registrierter Straftaten im Berichtszeitraum ausgeben. Für das Jahr 2021 waren dies 849, im Vorjahr 1.013 erfasste Straftaten. Unklar ist hierbei, ob es sich um die polizeiliche Eingangsstatistik (alle gefertigten Anzeigen) oder Ausgangsstatistik (ausermittelte und an die Staatsanwaltschaft übergebene Verfahren) handelt. In den Berliner Lagebildern finden sich dazu keine Informationen. Anders ist dies in NRW, wo explizit vermerkt ist, dass die aufgeführten Zahlen die polizeiliche Eingangsstatistik darstellen. In Niedersachsen hingegen wurde mit dem Berichtsjahr 2020 von der Eingangs- auf die Ausgangsstatistik umgestellt. Dies heißt zum einen, dass die Zahlen zwischen den Bundesländern kaum miteinander vergleichbar sind, zum anderen, dass auch Vergleiche mit der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) schwierig sind, da dort die Ausgangsstatistik abgebildet wird. Ein weiterer Unterschied zur PKS besteht darin, dass Verkehrsstraftaten darin nicht enthalten sind, diese jedoch in die Lagebilder aufgenommen werden – und dort mit rund 14-15% für Berlin das umfangreichste Deliktfeld bilden. Das heißt, das Zahlenmaterial im Bereich „Clankriminalität“ ist nicht mal für die Polizei selbst länderübergreifend nutzbar, noch kann es problemlos mit der PKS in Relation gesetzt werden.
Zusätzlich zu den Auswertungen anhand der EHW listen die Berliner Lagebilder die Bilanzen von Kontrolleinsätzen auf, und zwar inkl. der Großeinsätze im Verbund, bei denen es sich im Grunde um Gewerbekontrollen handelt, welche die Polizei formal nur unterstützt. In den letzten beiden Jahren wurden jeweils etwas mehr als 500 Kleingewerbe wie Cafés, Shisha-Bars, Barber-Shops o.ä. kontrolliert. Oft werden zugleich Straßenzüge gesperrt und umfangreiche Verkehrs- und Passant*innenkontrollen durchgeführt. Im Jahr 2020 fertigte die Polizei dabei 1.091 Strafanzeigen und leitete 5.631 Ordnungswidrigkeitenverfahren ein, in 2020 waren es 577 und 2.512.[26] Es sind insbesondere die Zahlen aus diesen Verbundeinsätzen, die werbewirksam der Öffentlichkeit präsentiert werden; sowohl mithilfe von „embedded journalists“ vor Ort als auch in Pressemitteilungen zu den Einsätzen und Lagebildern.
Was fehlt sind Referenzen für die präsentierten Zahlen, die vor allem ohne Zusammenhang hoch wirken. Denn stellt man – trotz allen zuvor aufgezählten Unzulänglichkeiten zwecks Annäherung – die Gesamtzahl der Straftaten in der PKS der Anzahl EHW-basierter Straftaten des Lageberichts „Clankriminalität“ gegenüber, so ergibt das für Berlin einen Anteil von 0,17 % für das Jahr 2020 bzw. 0,15 % für das Jahr 2021 (bereinigt um Verkehrsstraftaten).[27] Diese Berechnung konterkariert die dramatischen Botschaften von Polizei und Politik zum Thema. Trotz des massiven Verfolgungsdrucks ist der Anteil dieser Straftaten am Gesamtaufkommen in Berlin verschwindend gering.
„Clankriminalität“ und Organisierte Kriminalität
Last but not least, bilden die Lagebilder die OK-Fälle ab, die dem jeweiligen Bundesland zugerechnet werden. Auch hier lohnt eine tiefere Analyse der präsentierten Zahlen: Im Jahr 2021 wurden laut Bericht von 90 in NRW erfassten OK-Ermittlungsverfahren „18 Verfahren von türkisch-arabischstämmigen Clanfamilien dominiert“.[28]
Dasselbe Bild zeigt sich für Berlin: für das Jahr 2019 wurden elf von 56 OK-Verfahren der „Clankriminalität“ zugerechnet. Der Bericht führt weiter aus: „Sechs OK-Verfahren richteten sich gegen OK-Gruppierungen arabischstämmiger Herkunft und bei vier OK-Verfahren bestehen nachweislich Verbindungen zu Personen arabischstämmiger Herkunft, die der „Clankriminalität“ zugerechnet werden“.[29] Für das Berichtsjahr 2018 waren für Berlin noch 5 OK-Verfahren durch „arabischstämmig dominierte Tätergruppierungen“ gezählt worden.[30]
Die Zählweise macht stutzig: zum einen die Mehrfachzählung fortgeführter Verfahren in laufenden und Vorjahresberichten, zum anderen die Hinzuzählung von Gruppierungen, die nicht zum selbst deklarierten ethnischen Fokus gehören anhand von „Verbindungen“. Zu guter Letzt wirft auch das Wort „dominiert“, das der NRW-Bericht von 2021 nannte, Fragen auf. Denn wir erinnern uns: „Clankriminalität ist die Begehung von Straftaten durch Angehörige ethnisch abgeschotteter Strukturen“. Diese Ungereimtheit fällt selbst dem BKA auf: „Obwohl den Großfamilien der Mhallamiye bzw. arabisch- und ‘türkeistämmiger‘ Herkunft ein hohes Maß an Abschottung nach außen zugeschrieben wird, spiegelt sich dieses Merkmal nicht übermäßig in den OK-Verfahren gegen diese Gruppierungen wider. Lediglich in vier OK-Gruppierungen (2018: 2) stellten die Ermittler eine homogene Täterstruktur fest, alle weiteren OK-Verfahren setzten sich hinsichtlich der Nationalitäten ihrer Mitglieder heterogen zusammen.“[31] Das BKA stellt die eigene Konstruktionen allerdings nicht tiefgreifend in Frage, sondern löst das Dilemma über die Konstruktion ethnisch homogener Führungsebenen. So heißt es direkt im Anschluss: „Nach wie vor dürfte sich die Ebene der Entscheidungsträger innerhalb dieser OK-Gruppierungen weitestgehend aus kriminellen Mitgliedern des engsten Familienkreises zusammensetzen und Tatverdächtige anderer Nationalitäten den nachgeordneten Hierarchieebenen zuzuordnen sein.“[32]
Gewalt und Stigmatisierung in Kauf genommen
Es zeigt sich, dass die Lagebilder zur „Clankriminalität“ nicht nur völlig andere Aussagen enthalten, als in der öffentlichen Wahrnehmung transportiert werden, sondern auch zentral auf ethnisierende Kategorien abstellen, die nicht nur durch das eigene Zahlenmaterial konterkariert werden, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit verfassungswidrig sind.
Dass trotzdem der Aufbau des Begriffs der „Clankriminalität“ als Synonym zur Organisierten Kriminalität kein Zufall ist, sondern die gezielte Kommunikationsstrategie zumindest der zuständigen Innenministerien, zeigt beispielhaft eine Pressemitteilung des Berliner Senats aus dem Jahre 2019 mit der Überschrift „Ressortübergreifende Bekämpfung der Organisierten Kriminalität“. In dieser steht der bemerkenswerte Satz geschrieben: „Schwere Straftaten, aber auch Regelverstöße im niedrigschwelligen Bereich durch die Organisierte Kriminalität wirken sich negativ auf das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung und auf die hiesige Rechtsordnung aus.“[33] In der gleichen Pressemitteilung lässt sich der damalige Innensenator Geisel (SPD) folgendermaßen zitieren: „Mit dem heutigen Beschluss unterstreicht der Senat von Berlin noch einmal sehr deutlich, dass die Bekämpfung der Clankriminalität eine Gemeinschaftsaufgabe ist. Das Agieren bestimmter Krimineller in dieser Stadt verursacht nicht nur materiellen Schaden.“[34]
Innensenator Geisel nimmt ähnlich wie seine Amtskollegen in NRW und Niedersachsen in Kauf, für eigene politische Vorteile ganze Bevölkerungsschichten zu stigmatisieren. Diese werden öffentlich und medial mit schwerer Kriminalität und Verbrechen assoziiert. Die Bedrohungslage, die dadurch suggeriert wird, nutzen die Innenminister wiederum, um weitere Maßnahmen zu rechtfertigen und Ressourcen auszubauen. Sie befeuern damit einen institutionellen und gesellschaftlichen Rassismus, der die betroffenen Bevölkerungsgruppen nicht nur für die Polizei, sondern auch für rassistische Hetze und die extreme Rechte als Ziele markiert und damit in tödliche Gefahr bringt. Das muss aufhören!