Wer dieser Tage in die Zeitung schaut, könnte meinen, das Abendland sei wieder am Untergehen. In NRW behauptet die Justizministerin, kriminelle Clans stünden „über dem Recht“. In Essen seien nach einer Schlägerei von ein „paar hundert Arabern“ die „Anwohner angewidert“ und der „deutsche Staat“ machtlos, weiß die WELT. Weil dies die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetze, verfolgt der Innenminister von NRW eine „Null-Toleranz-Strategie“. Auch der Bundesinnenministerin machen Clans „viel Sorge“, denn sie störten „Familien mit Kindern“ (keine Clans) bei ihren Freibadbesuchen. Redaktionsmitteilung weiterlesen
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Mythos Clankriminalität (August 2022)
Mythos „Clankriminalität“: Die Ethnisierung von Kriminalität
von Tom Jennissen und Louisa Zech
„Clankriminalität“ bestimmt die aktuellen öffentlichen Debatten um Kriminalität. Die gesonderte Erfassung bestimmter Bevölkerungsgruppen durch die Behörden führt zur Ethnisierung von Kriminalität und geht mit rassistischen Kontrollpraktiken sowie der Aufweichung rechtsstaatlicher Grundsätze einher.
Seit dem Jahr 2018 ist die sog. „Clankriminalität“ ein vielbeachtetes Thema. In Medienberichten wird teils in martialischer Sprache etwa vom „Schlag gegen die Schattenwelt der Clans“[1] und Großrazzien in Shisha-Bars, Cafés, Barber-Shops u. a. berichtet. Für die Politik ist es ein Thema, mit dem sich Wahlkampf betreiben lässt: So stellte Nordrhein-Westfalens (NRW) Innenminister Herbert Reul das Lagebild Clankriminalität für sein Bundesland in diesem Jahr nicht wie üblich im August vor, sondern bereits im April – pünktlich vor der Landtagswahl in NRW am 15. Mai 2022.[2] Der damalige Kanzlerkandidat Armin Laschet warb kurz vor der Bundestagswahl im September 2021 in einem Besuch in Berlin-Neukölln für die Bekämpfung von „Clankriminalität.“[3] Aber auch Berliner Lokalpolitiker*innen lassen es sich nicht nehmen, sich über das Thema immer wieder in Szene zu setzen. Dies gilt insbesondere für die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) und den Neuköllner Stadtrat Falko Liecke (CDU). Mythos „Clankriminalität“: Die Ethnisierung von Kriminalität weiterlesen
„Clankriminalität“ in Lagebildern – Unklare Definitionen, eindeutiger Rassismus
von Michèle Winkler und Levi Sauer
Mit großem Tamtam werden seit einigen Jahren polizeiliche Lagebilder zur sogenannten „Clankriminalität“ präsentiert. Darin genannte Zahlen bestimmen die Headlines der Boulevardblätter. Wie die Zahlen zustande kommen und was noch in den Berichten steht, findet kaum Beachtung. Dabei wäre das bitter nötig.
„Als Clan-Kriminalität wird eine Form der organisierten Kriminalität […] bezeichnet“. So beginnt der deutschsprachige Wikipedia-Eintrag mit der Überschrift „Clan-Kriminalität“ und benennt damit eine verbreitete Vorstellung zum Thema. Auch die großen deutschen Tageszeitungen und Boulevardblätter nutzen die Begriffe „Clankriminalität“ und Organisierte Kriminalität (OK) nahezu synonym. Gleiches gilt für Innenminister*innen in Pressemitteilungen und Interviews. Als Bezugsgrößen für diese Gleichsetzungen halten oft die polizeilichen Lagebilder her. Doch die Polizei selbst fasst den Begriff viel weiter. „Clankriminalität“ in Lagebildern – Unklare Definitionen, eindeutiger Rassismus weiterlesen
Scheinbare Banalität – Die polizeiliche Alltagskommunikation auf Twitter
von Johanna Blumbach, Ina Eberling, Fabian de Hair und Sigrid Richolt
Neben sachlichen Informationen twittern deutsche Polizeibehörden immer wieder Alltagsanekdoten. Sie kommunizieren damit Plattform-spezifisch eine „Normalität“ polizeilichen Alltags, die ein signifikantes, aber neuartig mediatisiertes Bild von Polizei sowie ihrem Verhältnis zur Gesellschaft konzipiert.
Die Nutzung sozialer Medien durch deutsche Polizeibehörden rückt seit einigen Jahren zunehmend in den Fokus der kriminologischen Forschung und des öffentlichen Interesses. Die Plattformen Facebook, Twitter, Instagram, YouTube und TikTok gehören mittlerweile zum Standardrepertoire moderner Polizeiarbeit.[1] Scheinbare Banalität – Die polizeiliche Alltagskommunikation auf Twitter weiterlesen
Literatur
Zum Schwerpunkt
Kann man zugleich vor den Gefahren des Feuers warnen und selbst neues Brennholz zur Verfügung stellen? Eindeutig „ja“, wenn der Blick auf die Innen- gleich Polizeiminister*innen, auf die Polizeipräsident*innen und -funktionär*innen fällt: Vormittags warnen sie öffentlichkeitswirksam vor den Gefahren, die der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ und einer liberalen Gesellschaft durch Extremismen und „Fremdenfeindlichkeit“ drohen. Und am Nachmittag haben sie kein Problem damit, mit dem Kampf gegen die „Clankriminalität“ einen rassistischen Diskurs mit quasi staatsoffiziellen Würden zu versehen. Dass dieser Begriff weder kriminologisch noch einen kriminalistischen Sinn macht, ist offenkundig. Inwiefern er wenigstens geeignet ist, einzelne Phänomene kriminellen Verhaltens beschreibend „auf den Begriff“ zu bringen, darf bezweifelt werden. Eindeutig ist hingegen: „Clankriminalität“ ist von hohem inszenatorischem Wert: Der Feind, das sind die „Fremden“ – arabisch-libanesische Groß- bzw. Riesenfamilien mit undurchschaubaren Verflechtungen, abgeschottet von „uns“, deren Freiheit und Reichtum sie durch ihr skrupellos-raffiniertes kriminelles Handeln bedrohen. „Die“ und „Wir“, unterschieden durch ethnische Zuschreibungen: das ist die klassische Dichotomie des Rassismus. Die, die sie nutzen, haben auch kein Problem damit, dass ihre Verwendung notwendig alle jene trifft, die dem ethnisch definierten „Die“ zugerechnet werden. So werden nicht nur gesellschaftlich wirkmächtige Feindbilder erzeugt, sondern zugleich werden die vermeintlichen „Clanmilieus“ zum Objekt besonderer staatlicher Überwachung und Schikane. Bereits die Razzia (nicht deren Ergebnis) bestätigt das Feindbild aufgrund dessen sie initiiert wurde. Die verheerenden Folgen derartiger Feinderklärungen – für die Integration, für das friedliche Zusammenleben, für eine vor ungerechtfertigten und unverhältnismäßigen Staatseingriffen geschützte Gesellschaft – nehmen die Propagandist*innen der „Clankriminalität“ sehenden Auges in Kauf. Zu nützlich scheint das Konzept, die je eigenen Interessen zu befördern. Literatur weiterlesen
Summaries
Thematic Focus: The Myth of “Clan Crime”
The Myth of “Clan Crime“
by Tom Jennissen und Louisa Zech
The article provides an introduction to the current main topic “clan crime“. The discourse on “clan crime“ leads to racist control practices and the weakening of constitutional principles. It serves to project crime onto the supposedly “foreign” and is politically exploited. Summaries weiterlesen
129 (August 2022) Mythos Clankriminalität
Die Ethnisierung von Kriminalität
Tom Jenissen, Louisa Zech
Behördliches Vorgehen gegen „Clankriminalität“
Felix Rauls
Traditionslinien des Antiziganismus
Guillermo Ruiz, Tobias von Borcke
„Clankriminalität“ in Lagebildern
Michèle Winkler, Levi Sauer
„Clankriminalität“ in der Praxis der Strafverfolgung
Interview mit Ulrich von Klinggräff
Rassistische Razzien in Neukölln
Melly Amira, Jorinde Schulz
Clankrimininalität und Migrationsrecht
Karsten Lauber
Polizeiliche Alltagskommunikation auf Twitter
Johanna Blumbach, Ina Eberling, Fabian de Hair, Sigrid Richolt
Transnationales Abschieberegime
Reta Barfuss, Charlotte Vöhl
Werte- und Menschenrechtsbildung für Polizist*innen?
Emanuel John, Nanina Marika Sturm
Inland aktuell
Meldungen aus Europa
Literatur
Summaries
Mitarbeiter*innen dieser Ausgabe
Überwachungs-Gesamtrechnung sucht Ministerium
In ihrem Koalitionsvertrag hatten sich SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP auf die Erhebung einer „Überwachungsgesamtrechnung“ verständigt. Der Begriff geht auf die rechtswissenschaftliche Debatte um das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung von 2010 zurück. Das Gericht hatte angemahnt, dass der Gesetzgeber bei der Einführung neuer Datenspeicherungspflichten seinen Blick „auf die Gesamtheit der verschiedenen schon vorhandenen Datensammlungen“ zu richten habe (1 BvR 256/08, Rn. 218). Überwachungs-Gesamtrechnung sucht Ministerium weiterlesen