von Dirk Burczyk, Christian Meyer, Matthias Monroy und Stephanie Schmidt
Um die unkontrollierte Migration aufzuspüren und zu verhindern, setzt die Europäische Union (EU) zunehmend Hochtechnologien ein. Diese lassen sich in sensor- und datenbasierte Anwendungen unterscheiden. Mit der Technologisierung der europäischen Außengrenzen gehen kommerzielle Interessen der Anbieter einher. Es gibt aber auch Ansätze von Nichtregierungsorganisationen, die verwendeten Beobachtungstechnologien im Sinne einer Sousveillance einzusetzen.
Weil man sich seit Jahren nicht auf Verteilungsquoten einigen kann, haben die 27 Regierungen beim EU-Migrationsgipfel Anfang Februar 2023 lieber andere Gemeinsamkeiten betont.[1] Ziele der Union seien demnach gestärkte Außengrenzen und Maßnahmen gegen irreguläre Migration. In den vergangenen Jahren setzt die EU dabei auch zunehmend auf Technologien zur Überwachung und Kontrolle flüchtender Menschen an ihren Außengrenzen. Konzentrierte sich dies bis zum Ende des Kalten Kriegs noch vor allem auf den Schutz des Territoriums, rückte seither der Umgang mit sowie die Verhinderung von Migration in den Fokus grenzpolitischer Interessen.[2] Aufgrund der Befürchtungen, dass sich nach dem Kalten Krieg vor allem Migrationsbewegungen als Auslöser für Krisen zeigen könnten, wurde ein Bedarf an umfassenden Regeln und Normen behauptet, die in dem 1993 (auf Bitte der UN-Kommission für Global Governance und der Regierung Schwedens) von Bimal Gosh entwickelten Konzept des „Migrationsmanagement“ mündeten.[3] Neben den bekannten staatlichen Akteur*innen, wie die EU-Grenzagentur Frontex und ihren Entwicklungen von Grenztechnologien (wie bspw. das seit 2014 aktive Überwachungssystem EUROSUR), zeigen sich auch Industrie und zivile Forschungseinrichtungen im Bereich der Europäischen Migrations- und Grenzpolitik aktiv. So wurden etwa Drohnen, ursprünglich genutzt für die Schifffahrtskontrolle und im Kontext von Umweltüberwachung, letztlich auch im Bereich des Grenzschutzes und zur Überwachung von Migrationsbewegungen eingesetzt.[4]
Dass neue und auch zivile Technologien zur Überwachung schnell gegenüber Migrant*innen und Geflüchteten ihre Anwendung finden, ist im Kontext der „Festung Europa“ wenig überraschend. Denn durch die Markierung von Migration als Bedrohung erscheinen die Technologien der Abwehr und Beobachtung als legitim. Gleichzeitig verstärkt ihr tatsächlicher Einsatz im Feld der Migrationskontrolle genau diese Markierung. Dieser Einsatz erfolgt so in der Regel ohne größeres Aufsehen oder wird meist erst dann zum Politikum, wenn auch Staatsangehörige des eigenen Landes betroffen sind
Entlang des Berichts des Bundestagsausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung „Beobachtungstechnologien im Bereich der zivilen Sicherheit – Möglichkeiten und Herausforderungen“ lassen sich die gegenwärtigen Entwicklungen ziviler Beobachtungstechnologien in ihrer Anwendung im Kontext des EUropäischen Grenzregimes systematisieren. Die Verfasser*innen unternehmen darin den Versuch eines Überblicks zu Technologien, die heute im Bereich der zivilen Sicherheit als Mittel für soziale Kontrolle genutzt werden können oder deren Anwendung in naher Zukunft wahrscheinlich ist. Der dort verwendete Begriff der „Beobachtungstechnologien“ umfasst unterschiedliche Praktiken, die „das menschliche Wahrnehmungs- und Beurteilungsvermögen für Risiken, Gefahren oder Schäden in vielfältiger Weise“ erweitern.[5]
Die Studie unterteilt die technischen Lösungen und Einsatzformen in sensorbasierte und datenbasierte Anwendungen. Sensorbasierte Beobachtungstechnologien erfassen demnach „bestimmte physikalische oder chemische Eigenschaften der realen Welt und bereiten die Messgrößen in für den Menschen leicht interpretierbare Informationen auf“. Datenbasierte Beobachtungstechnologien „erfassen und analysieren Informationen der digitalen Welt“.[6] Sowohl durch ihre bereits erfolgte Verbreitung und Nutzung, als auch aufgrund des Entwicklungspotenzials für neue und erweiterte Anwendungen erfahren diese Technologien eine immer stärkere Bedeutung, heißt es im Vorwort. Davon profitierten etwa die Verkehrsüberwachung, der Brand- und Katastrophenschutz, der Rettungsdienst wie auch die Polizei im Kontext von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung sowie die Geheimdienste. Zugleich werden viele der beschriebenen Beobachtungstechnologien auch zur Überwachung, Kontrolle und Verhinderung von Migration genutzt, etwa an regulären Grenzübergängen oder unkontrollierten Grenzabschnitten. Das Verständnis irregulärer Migration als „Gefahr“ und das politische Ziel der Migrationsabwehr gehen dem Einsatz dieser Beobachtungstechnologien voraus und sind Gegenstand unserer Kritik.
Sensorbasierte Beobachtungstechnologien
Zu den am weitesten verbreiteten bodengestützten Sensortechnologien gehört die Videotechnik im öffentlich zugänglichen Raum. An internationalen Flughäfen und Bahnhöfen, wie auch an sogenannten Hotspots oder in Lagern für geflüchtete Menschen gehören sie beispielsweise in Griechenland zur Grundausstattung.[7] Die Kameras können mithilfe von Software und vernetzten Technologien über Echtzeit-Funktionen zur Muster- oder Gesichtserkennung verfügen, wenngleich der Einsatz dieser Funktionen in Deutschland bislang nur in zeitlich begrenzten Pilotprojekten erfolgt. Im Projekt SMILE hat Frontex jedoch bereits an Verfahren zur Objektklassifizierung in Foto- oder Videodaten geforscht. Nach Einführung des Einreise-/Ausreisesystems (EES) ab 2023 könnten damit die länger dauernden Kontrollprozeduren wieder verkürzt werden.[8] Im Projekt konnten die Reisenden über eine SMILE-App Reisepassdaten, Fingerabdrücke und ein Gesichtsfoto importieren. Das System glich die Daten dann mit nationalen und EU-Datenbanken zur Grenzkontrolle ab. Erfolgte der Übertritt mit dem Auto, konnte die Fahrer*innen im Fahrzeug bleiben und ihre Reisedokumente in ein Lesegerät einführen. Eine Kamera erfasste automatisiert das Nummernschild des Fahrzeugs, eine weitere Kamera erledigte die Gesichtserkennung. Stimmten die Angaben mit den vorregistrierten Daten überein, öffnete sich die Grenze. Das System soll auch bei Busreisenden funktionieren.
Retrograd, also nicht in Echtzeit, wird die Gesichtserkennung auf EU-Ebene bereits im Visa-Informationssystem zur Verifikation von Visaantragssteller*innen genutzt. Noch 2023 sollen diese und andere biometrische Datenbanken zusammen mit Gesichtsbildern aus dem neuen EES in einem „gemeinsamen Identitätsspeicher“ mit einem „Abgleichsystem“ zentralisiert gespeichert und durchsuchbar werden. Auch „Mehrfachidentitäten“ sollen so automatisiert detektiert werden können. Allein das hierfür nötige System zur Gesichtserkennung kostet über 300 Mio. Euro.[9] Darüber hinaus forscht unter anderem Frontex bereits seit über zehn Jahren im Bereich der Emotionsanalyse zur Erkennung von Täuschungen, wenngleich sich diese Systeme noch nicht im Einsatz befinden. Das Forschungsprojekt iBorderCtrl hat beispielsweise untersucht, inwiefern eine solche Technik im Europäischen Reiseinformations- und -genehmigungssystems (ETIAS), das noch 2023 in Kraft treten soll, eingesetzt werden könnte. Bereits seit 2009 hat Frontex Forschungen der Universität Arizona finanziert, in denen die Treffergenauigkeit eines „Automatic Deception Detection Systems“ (ADDS) ausgewertet wurde.[10] Die Funktionsweise der Technik beschreibt Lise Endregard Hemat in diesem Heft.
Zu den sensorbasierten Beobachtungstechnologien gehören auch Körperscanner für die Personenkontrolle, wie sie immer mehr an Flughäfen eingesetzt werden und dort die vorhandenen Metalldetektorschleusen ersetzen. Mit solchen Millimeterwellenscannern können auch Fahrzeuge in Gänze durchleuchtet werden. Wie Detektionstechnologien mithilfe von Infrarot-, Radar- und Röntgenstrahlung sowie dem Einsatz von CO2-und Herzschlagdetektoren versteckte Personen aufspüren sollen, problematisiert der Beitrag von Clemens Arzt in dieser Ausgabe.
Am Boden eingesetzte Tageslicht- und Wärmebildkameras können auch an Flugzeugen, Hubschraubern und Drohnen angebracht werden. Zur Lageaufklärung dienen sie dabei der Beobachtung von Grenzabschnitten oder zur Verfolgung von Personen, die mutmaßlich irregulär die Grenze überschreiten wollen. Frontex hat hierzu ab 2016 einen eigenen Flugdienst aufgebaut, der auf Anfrage einzelner Staaten an den Außengrenzen des Schengen-Raums patrouilliert. Die EU-Kommission finanziert zudem ein Forschungsprojekt zur Überwachung aus der Stratosphäre mithilfe zeppelinartiger Ballons oder Solarseglern, die ebenfalls mit bildgebenden Sensoren ausgestattet sind.[11]
Frontex greift – ebenso wie wohl die meisten nationalen Grenzbehörden – auf weltraumgestützte Beobachtungstechnologien zu und hat hierzu ab 2014 das bereits erwähnte Überwachungssystem EUROSUR in Betrieb genommen. Es basiert auf verschiedenen Satellitendiensten, darunter zur Erkennung auffälliger Muster etwa von kleinen Booten an Seeaußengrenzen der EU. Dabei kann es sich um optische Aufnahmen passiver Systeme ohne künstliche Beleuchtung der Erdoberfläche oder aktive Systeme mit elektromagnetischen Wellen handeln (Synthetic Aperture Radar). Sie stammen aus dem europäischen Erdbeobachtungsprogramm „Copernicus“ oder von privaten Betreibern von Satellitendiensten.
Ebenfalls zu den sensorbasierten Beobachtungstechnologien zählt die akustische Beobachtung mithilfe von Mikrofonen. Im Bereich der Grenzüberwachung wurden derartige Systeme etwa im EU-Projekt FOLDOUT erprobt. Sie gehörten dort zu einer Kaskade verschiedener Überwachungstechnologien am Boden und in der Luft, die Norbert Pütter in diesem Heft darstellt. Zudem können offen oder verdeckt eingesetzte Ortungstechnologien wie GPS-Empfänger zur Bestimmung des Aufenthaltsorts von Personen genutzt werden. Wie elektronische Fußfesseln bzw. mit Apps zur Geolokalisierung ausgestattete Smartwatches in Großbritannien zur Aufenthaltsüberwachung von abzuschiebenden Personen eingesetzt werden, erklärt der Beitrag von Lucie Audibert in diesem Heft.
Informationstechnische Beobachtung
Zur Aufdeckung irregulärer Migration beobachten die zuständigen Behörden auch das Internet, etwa um die Entwicklung von Grenzübertritten zu beobachten, aber auch die Unterstützung diese zu verhindern und zu verfolgen. Die EU-Polizeiagentur Europol hat hierfür – eigentlich zur Bekämpfung des islamistisch motivierten Terrorismus – 2014 eine Meldestelle für Internetinhalte eingerichtet, deren Aufgabenbereich ein Jahr später nach einer Ratserklärung um „Internetinhalte, mit denen Schlepper Migranten und Flüchtlinge anlocken“, erweitert wurde.[12] Allein für Inhalte, die „für Schleuserdienste von Belarus nach Europa werben“ hat die Meldestelle 2021 insgesamt 455 Accounts in Sozialen Medien ausgemacht und zur Entfernung an die Internetdienstleister gemeldet.[13] Noch weiter geht das britische Innenministerium, das Anbieter von Sozialen Medien auffordern will, Beiträge zu entfernen, wenn diese das Übersetzen über den Ärmelkanal in kleinen Booten „verherrlichen“. Facebook, Instagram und Twitter sollen auf Geheiß des Ministeriums „völlig inakzeptable Clips“ löschen, wenn diese „tödliche Überfahrten“ fördern.[14]
Zur Bewältigung und Interpretation der großen Datenmengen kommen bei Europol auch Techniken der „Social Media Intelligence“ (SOCMINT) zum Einsatz. Europol sucht dabei „nach gängigen, frei verfügbaren Informationen in sozialen Medien, z. B. Facebook, Twitter und Instagram hinsichtlich einer möglicher Ermittlungsrelevanz“.[15] Auf diese Weise verfolgen einzelne Mitgliedstaaten und Europol unter anderem die Fluchthilfe über den Ärmelkanal nach Großbritannien. Dabei suchen die Behörden im Internet nach verdächtigen Angeboten für den Verkauf von Schlauchbooten oder Rettungswesten.[16]
Neben der Beobachtung offener Quellen sind Migrant*innen und Asylsuchende auch von Eingriffen in ihre digitale Privatsphäre betroffen. Der Bericht für Technikfolgenabschätzung spricht dabei von der Überwachung von Daten, „die eine Person in der berechtigten Erwartung, dass sie vertraulich bleiben, einem informationstechnischen System anvertraut hat“.[17] So liest etwa das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Mobiltelefone von vielen Asylsuchenden aus. Die Maßnahme soll die Feststellung von Identität und Staatsangehörigkeit ermöglichen, wenn die Antragsteller*innen keinen gültigen Pass oder Passersatz vorweisen können. Die Behörden prüfen die Plausibilität der Angaben, indem sie beispielsweise kontrollieren, ob im Adressbuch oder bei Anrufen und Nachrichten häufig Ländervorwahlen vorkommen, die dem genannten Heimatland entsprechen. Auch besuchte Webseiten werden nach derartigen Länderendungen durchsucht. Zudem extrahieren BAMF und Ausländerbehörden aus Fotos und Anwendung Daten, in denen der jeweilige Aufenthaltsort gespeichert ist. Wird die Mitwirkung bei der Maßnahme verweigert, können entweder Leistungen gekürzt oder sogar ein Asylantrag als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt werden. In den ersten Monaten des Jahres 2022 hat das BAMF über 16.000 Datenträger auf diese Weise ausgelesen, davon hauptsächlich von Menschen aus Afghanistan, Syrien und dem Irak.[18] Weniger als ein Fünftel der Geräte wurde anschließend auch analysiert, bei rund 4 Prozent der Betroffenen wurde die Identität angeblich widerlegt. In rund zwei Dritteln der Fälle brachte die Handyauswertung keine verwertbaren Erkenntnisse. Unter anderem wegen der fehlenden Verhältnismäßigkeit hat das Bundesverwaltungsgericht die Praxis deshalb im Februar für rechtswidrig erklärt.[19] Auch Frontex und Europol geben in einem Bericht zur „Digitalisierung des Menschenschmuggels“ Handreichungen über die von Geflüchteten am häufigsten genutzten Messenger sowie Informationen darüber, wie die Behörden Zugang zu den dort gespeicherten Inhalten erhalten.[20]
Auch die Ortung von Telefonen wird von Grenzbehörden bereits genutzt. Im EU-Forschungsprojekt FOLDOUT haben die Beteiligten etwa ermittelt, ob sich Handys in einer bestimmten Region in Funkmasten einbuchen und ob sich daraus Hinweise auf einen irregulären Grenzübertritt in der Nähe ergeben können. Das von den Menschen mitgeführte Telefon dient dabei als Ortungssender. Nach Angaben von Airbus ist auch die Drohne „Heron 1“, die der Rüstungskonzern im Auftrag von Frontex fliegt, mit Technik zur Ortung von Mobil- und Satellitentelefonen ausgerüstet – Frontex selbst hat dies in Anfragen bislang bestritten.[21] Laut Airbus trägt die Drohne im zentralen Mittelmeer aber sogenannte COMINT-Sensoren an Bord.[22] Die Abkürzung stammt aus dem Militär und steht für „Communication Intelligence“, gemeint ist die Erfassung oder Auswertung von Telefonverbindungen zur Informationsgewinnung. Gegenüber den ebenfalls mitgeführten Tages- und Nachtsichtkameras und Radargeräten hat die Technik den Vorteil, dass eine Ortung auch nachts oder bei schlechtem Wetter möglich ist. Die Ergebnisse der Drohnenaufklärung werden per Satellit in Echtzeit ins Frontex- Hauptquartier in Warschau gestreamt.
Mobil- und Satellitentelefone können auch aus dem Weltraum geolokalisiert werden. Neue miniaturisierte Satelliten und Elon Musks Raumfahrtunternehmen SpaceX haben diese Spionagetechnologie auch für Grenzbehörden erschwinglich gemacht. Anbieter dieser Technik sind Firmen, die ansonsten Militär und Geheimdienste beliefern. Frontex vergibt Verträge über mehrere Millionen Euro für diese neue Technik.[23] Auch Boote mit Geflüchteten könnten auf diese Weise geortet werden, sofern die Menschen an Bord Satellitentelefone mitführen.
Predictive Border Policing
Wenn das Ziel Prävention ist,[24] man irregulärer Migration also zuvorkommen will, dann kann die Informationslage nicht gut genug sein. Unter digitalen Vorzeichen bedeutet das, dass der staatliche Hunger nach Daten nicht stillbar ist. Zur vorausschauenden Migrationskontrolle können Behörden außerdem anonymisierte Daten von Mobiltelefonen nutzen, die von den Netzbetreibern zur Verfügung gestellt werden. Die Geräte hinterlassen digitale Spuren, die sich für die Handhabung von Naturkatastrophen, Konflikten, Krankheiten oder Volkszählungen nutzen lassen.[25] Wohl überall auf der Welt erfassen Anbieter routinemäßig, wenn ein Anruf über ihr Netz erfolgt oder eine SMS gesendet wird. Diese Verkehrsdaten enthalten den Ort des Funkmasts und einen Zeitstempel. Noch mehr Datensätze entstehen durch die Internetnutzung von Smartphones, die auch ohne aktives Zutun permanent im Hintergrund erfolgt. Behörden oder Forschende können keine Personen dahinter ermitteln, aber die Wege der Telefone nachvollziehen und daraus Prognosen erstellen. Werden Daten verschiedener Mobilfunknetzbetreiber verwendet, kann damit Migration auch über Nachbarländer hinweg verfolgt werden. Ähnliche Angaben erfasst Google mit seiner „Standort-Historie“, wenn Nutzer*innen des Android-Betriebssystems in ihren Einstellungen die Aufzeichnung von geografischen GPS-Koordinaten oder WLAN-Netzen erlauben. Diese Informationen können durch weitere Datenquellen angereichert werden, darunter etwa Geldüberweisungen, die ebenfalls häufig über Mobiltelefone erfolgen. Das Gleiche gilt für Geodaten, die bei jeder Anmeldung beim eigenen E-Mail-Dienst oder Sozialen Medien gespeichert werden.
Mithilfe von Daten verschiedener Quellen will auch die EU-Kommission über ein sogenanntes EUMigraTool „Migrationsströme“ in Europa vorhersagen und steuern.[26] Die Modellierung und Vorhersage soll unter Verwendung von „Deep Learning“ erfolgen. Das Projekt ITFLOWS, in dem das Tool entwickelt wird, will in erster Linie eine Lösung erarbeiten, die eine „verlässliche Vorhersage von Migranten“ in ganz Europa ermöglicht. Bislang gebe es diese Ansätze lediglich länderbezogen, etwa für das Vereinigte Königreich und Schweden. Dort würden unterschiedliche Datenquellen und Zeitrahmen für die Vorhersage genutzt. Einige der Frühwarnmodelle könnten zudem vorhersagen, „welche Länder das Potenzial haben, Flüchtlingsströme auszulösen“. Hierzu können etwa politische Ereignisdatenbanken herangezogen werden, wie sie in Deutschland die Bundeswehr und das Auswärtigen Amt nutzen.[27] In seinem ersten Stadium soll das EUMigraTool offiziellen Angaben zufolge zwar nicht der Abwehr irregulärer Migration dienen, sondern deren Aufnahme, Um- und Ansiedlung unterstützen. Später plant ITFLOWS das Instrument zu nutzen, um „potenzielle Risiken für Spannungen zwischen Eingewanderten und EU-Bürgerinnen und -Bürgern zu erkennen“[28]. Schließlich will das Projekt Empfehlungen für politisch Verantwortliche, Regierungen und die Unionsorgane aussprechen.
Mit Sousveillance gegen die Überwacher?[29]
Zur Technologisierung von Migrationsbewegungen gehört auch ein Blick auf die technische Ermächtigung von flüchtenden Menschen, Aktivist*innen sowie zivilen Akteur*innen beispielsweise im Bereich der Seenotrettung. Die zunehmende freie Verfügbarkeit von Daten ermöglicht es beispielsweise, diese Daten zur Kontrolle von Behörden zu nutzen. Satellitenbilder und Positionsdaten von Schiffen können etwa zur nachträglichen Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen im Mittelmeer und der Verfolgung von Verantwortlichen beitragen (siehe hierzu den Beitrag von Giovanna Reder in diesem Heft). Hochaufgelöste Bilder aus der Erdbeobachtung könnten außerdem bei der nichtstaatlichen Seenotrettung im Mittelmeer helfen. So experimentiert etwa der deutsche Verein Space-Eye mit der Nutzung von Satellitendaten.[30] Die rund ein Dutzend Wissenschaftler*innen und Studierenden nutzen dafür Bilder aus den Sentinel-Satelliten des EU-Erdbeobachtungsprogramms Copernicus der Europäischen Weltraumorganisation. Diese EU-Satellitendienste generieren Bilder mit geringer Auflösung und kurzer zeitlicher Abdeckung. Für eine effektive Beobachtung müsste der Verein daher weitere, teure Bilder von Satellitendiensten kaufen. Auch deshalb befindet sich das Projekt derzeit in einem wissenschaftlichen Stadium, dazu arbeitet Space-Eye mit verschiedenen Universitäten und Hochschulen zusammen.
Einen anderen Ansatz mit eigenem Überwachungsgerät verfolgt der Verein Searchwing, der mit der Hochschule Augsburg eine günstige, wasserdichte Drohne entwickelt hat.[31] Sie kann von einem Schiff aus der Hand gestartet werden, in einem bis zu zweistündigen Einsatz fliegt der Starrflügler bis zu 120 Kilometer weit. Die Technik wurde bereits mehrfach auf zivilen Rettungsschiffen im Mittelmeer getestet. Die Fähigkeiten sind jedoch durch die Nutzlast begrenzt, die bislang nur eine Zuladung von Kameras mit einer Auflösung von 3280 x 2464 Pixel erlaubt. Eine Suche in der Nacht ist ebenfalls noch nicht möglich. Zudem muss die Drohne im Wasser landen und dort geborgen werden. Das größte Manko dürfte aber in der fehlenden Echtzeitübertragung bestehen.
Schließlich experimentieren Aktivist*innen auch mit der Nutzung von personenbezogenen Positionsdaten, um damit Menschenrechtsverletzungen zu verhindern oder zu dokumentieren. Die Unterstützungsplattform LeaveNoOneBehind programmiert dazu unter dem Namen „Claim Asylum EU“ eine Web-App, die Menschen im Asylverfahren unterstützen soll.[32] Die Zielgruppe sind etwa Schutzsuchende in Griechenland oder Polen, die von den dortigen Grenzbehörden über die Grenze zurückgeschoben werden ohne dass sie einen Asylantrag stellen können. Mit der App sollen die Betroffenen sofort nach Erreichen eines EU-Mitgliedstaates auf elektronischem Weg einen Asylantrag stellen können und den Standort mit GPS-Daten protokollieren. Weil diese leicht zu verfälschen sind, können die Nutzer*innen Bilder von sich und der Umgebung aufnehmen, die mit Zeit- und Ortsstempel versehen in einer Cloud gespeichert werden können. Diese Bilder könnten im Nachhinein als Nachweis dienen, dass die Person tatsächlich europäischen Boden betreten hat. Mit der App verlören die Schutzsuchenden aber auch die Freiheit, undokumentiert in ein anderes Land weiterzureisen und erst dort ihren Asylantrag zu stellen. Denn gemäß der Dublin-Richtline ist jener Staat für die Bearbeitung des Antrags zuständig, über den die Einreise in das EU-Gebiet erfolgt ist.
Die Umkehr der neuen Beobachtungstechnologien, um diese gegen die europäische Migrationsabwehr in Stellung zu bringen, gelingt allenfalls in Ansätzen. Die neuen Formen der Sousveillance – oder besser: die neuen, hierfür verfügbaren Technologien – sind außerdem mit der Aufgabe von Datenschutz und Privatheit verbunden, wenn etwa bei der Nutzung einer App zum Stellen eines Asylantrags persönliche Fotos ins Internet geladen werden müssen. Diese Waffenungleichheit könnte sich allenfalls verändern, wenn die „Überwacher“ ihre Daten teilen würden. Seenotrettungsorganisationen fordern seit Jahren von Frontex, die Aufnahmen ihrer Flugzeuge und Drohnen auch für deren Zwecke zur Verfügung zu stellen, das Gleiche könnte für Satellitendaten gelten, die Frontex von kommerziellen Anbietern kauft. Die Rettungsorganisationen beschreiben das Mittelmeer zu Recht als das wohl am besten überwachte Seegebiet der Welt und fragen ebenfalls zu Recht, wieso dort also überhaupt noch Menschen ertrinken müssen.
Geschäftsfeld Migrationskontrolle
Anfang 2023 hat die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in einer Rede vor dem Europäischen Parlament die Bereitschaft zur technischen Migrationsabwehr bekräftigt. Die „dringendsten Probleme“ gebe es demnach an der Landgrenze zwischen Bulgarien und der Türkei. Dort könne die EU weitere „Infrastruktur und Ausrüstung bereitstellen, wie Drohnen, Radar und andere Mittel zur Überwachung“.[33] Die Kommissionspräsidentin bezeichnete dies als „nachhaltige Lösungen im Bereich Asyl und Migration“. Damit liegt von der Leyen auf einer Linie mit den Regierungen von acht EU-Staaten, die in einem offenen Brief mehr Geld aus Brüssel für „operative und technische Maßnahmen für eine wirksame Grenzkontrolle“ gefordert hatten. Zu den Unterzeichnenden gehören Griechenland, Österreich, Malta und Dänemark. Die Überwachungstechnologien sind an der griechisch-türkischen Grenze, der kroatisch-bosnischen Grenze, der serbisch-ungarischen Grenze und der bulgarisch-türkischen Grenze aber längst vorhanden. Dazu gehören Drohnen, Kameras, Wärmebildsensoren, Nachtsichtgeräte, Sensoren zur Detektion von Mobiltelefonen, Ortungsgeräte und Überwachungstürme.
Irreguläre Migration, insbesondere Fluchtbewegungen, wird also vor allem unter Sicherheitsaspekten diskutiert. Es ist jedoch nicht die Migration selbst, die krisenhaft ist, vielmehr ist es das EUropäische Grenzregime, das in die Krise gerät, wenn es sich auf Fluchtbewegungen nicht vorbereitet sieht. Kommen weitere Faktoren wie bspw. eine unvorbereitete Logistik in den Aufnahmegesellschaften hinzu, können dies mitunter ganze Gesellschaften als Krise erleben. Egal ob innenpolitisch oder wenn es um Migration auf EU-Ebene geht, reagiert der neoliberale Staat auf Krisen schnell mit autoritären Mitteln, die er nicht zuletzt technisch umgesetzt sieht. Dann bestimmt sich der Diskurs durch Diskussionen über technisch Machbares und nicht über politisch Umkämpftes. Der Einsatz solcher Technologien hat nach Angaben des Border Violence Monitoring Netzwerks bereits jetzt für rechtswidrige Zurückweisungen gesorgt. Dabei wurden seit 2017 36 Zeugenaussagen aufgezeichnet, in denen der Einsatz von Drohnen zur Ortung, Festnahme und illegalen Zurückschiebung von Migrant*innen und Asylsuchenden beschrieben wird. Davon sollen mehr als 1.000 Personen betroffen gewesen sein.[34]
Ausgehend von der Idee des Krisenhaften, das mit Migrationsbewegungen einhergeht, verbindet sich vor allem mit vorausschauenden und vorhersagenden Technologien, samt ihrer mathematischen wie physikalischen Verfahren, das Versprechen einer berechenbaren Kontrolle über menschliche Verhaltensweisen. In der Technologisierung von Grenzen und technischen Bearbeitung von Migrationsbewegungen zeigen sich zugleich „entmenschlichende Tendenzen“, und zwar in doppelter Weise: „einmal im Sinne der Abwesenheit und Unsichtbarkeit von Menschen als Grenzkontrolleure und -passant*innen und dann auch im Sinne eines anti-humanitären Blicks“.[35] Denn die hier vorgestellten Technologien eint, dass sie den menschlichen Körper in den Fokus ihrer technischen Beobachtung stellen. Beobachtungstechnologien rücken mit ihrer Fortentwicklung so näher an das Subjekt. Dies beginnt bei der höheren Auflösung von Kamerabildern und geht über die Einbeziehung von sozialen Beziehungen, Bewegungsprofilen und Biometrie bis zur Beurteilung individueller Risikopotentiale (Stichwort Gefährder). Gleichzeitig ist es beim aktuellen Stand der Technologie möglich, bei der Beobachtung auf Distanz zu gehen und den Blick auf größere Strukturen zu lenken – sei es der Schiffsverkehr oder auffällige Ansammlungen von Mobiltelefonen.
Dabei haben wir es hier mit einer Form des technologischen Solutionismus[36] zur Bearbeitung eines eigentlich globalen gesellschaftlichen Problems zu tun: Anstatt über globale Ungerechtigkeit, fehlende Entwicklungsperspektiven für Individuen und Gesellschaften aufgrund von ökonomischen Interessen sowie den daraufhin folgenden politischen bis militärischen Intervention des globalen Nordens zu sprechen, wird hier die (illegalisierte) Migration als problemhaft in den Fokus gestellt – und dieses „Problem“ dann unter hohem Einsatz von Ressourcen einer technologischen Lösung zugeführt.
Die betreffenden Technologien sind letztendlich Produkte eines kommerziell orientierten Sektors und werden als solche vermarktet. Dadurch werden nicht nur ökonomische Logiken in der Bearbeitung von Migration verstärkt, sondern Grenzkontrollen zu einem Geschäftsfeld. Gestärkt von einem staatlich propagandierten Narrativ der Bedrohung und Gefahr durch so genannte „unkontrollierte Migrationsbewegungen“, erschließt sich der Grenzschutzindustrie ein profitables Geschäftsfeld. Die technische Basis des EUropäischen Grenzregimes wird unter den Prämissen von abzuwehrender Gefahr und technologischer Lösbarkeit stetig differenziert, ausgebaut und gefestigt. Dabei wird auch versucht, das ungleiche Kräfteverhältnis zwischen Globalem Süden und Norden mittels Technologie festzuschreiben und zu objektivieren.
Der Diskurs um irreguläre Migrationsbewegungen als potenzielle Auslöser für Krisen und der damit verbundenen Sicht auf Migration als problemhaft prägt die Beobachtungstechnologien und deren Anwendung. Zugleich zeigt sich eine zunehmende Kommerzialisierung der sicherheitstechnologischen Bearbeitung von Grenzen, durch die sich auch die Ziele und Prioritäten der Programmierer und ihrer Auftraggeber in Hard- und Software stets präsent zeigen. Versuche, diese Technologien im Sinne von Sousveillance gerade zum Schutz von Menschen, ihres Lebens, ihrer Rechte und ihrer Würde zu nutzen, verweisen aber selbst auf dieser Ebene darauf, dass es sich letztlich um eine politische Auseinandersetzung handelt.