Literatur

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„Welche Bedeutung hat der (ingenieur)wissenschaftliche Fortschritt für die Arbeit der Polizei?“ Um diese Frage beantworten zu können, müssten vorgelagerte Fragen geklärt sein: Im Hinblick auf welche polizeilichen Aufgaben und Tätigkeiten bieten wissenschaftliche Innovationen Lösungen? Und: Auf welchen Wegen werden diese Potenziale in welchem Umfang implementiert? Ein Blick in die aktuelle deutschsprachige Literatur zeigt schnell, dass diese Fragen überraschend selten gestellt werden, weshalb nur Bruchstücke für Antworten auffindbar sind. Dabei ist es durchaus trivial zu behaupten, dass die Fähigkeiten einer Institution ohne die Kenntnis ihrer „Instrumente“ – von den „Hilfsmitteln körperlicher Gewalt“ bis zu Einsatzkonzepten, die von Algorithmen gesteuert werden – kaum zureichend erfasst werden können.

Die Literaturlage ist durch zwei weitere Merkmale gekennzeichnet: Erstens mangelt es an der Offenheit der Akteure. Jenseits der vollmundigen Selbstdarstellungen der Innenministerien gibt es kaum sachliche Informationen über die materiell-technische Ausstattung der Polizeien. Zweitens hat die Aufmerksamkeit gegenüber der „Polizeitechnik“ im letzten Jahrzehnt deutlich nachgelassen. Allein die „Digitalisierung“ der Polizeiarbeit hat externe Aufmerksamkeit auf sich gezogen – und damit die anderen Technikfelder (und deren Folgen) in den Schatten gestellt.

Heinrich, Stepan: Technik und Systeme der Inneren Sicherheit, in: Staatsgewalt. Politisch-soziologische Entbehrungen, in: Lange, Hans-Jürgen; Ohly, H. Peter; Reichertz, Jo (Hg.): Auf der Suche nach neuer Sicherheit, Wiesbaden 2008, S. 203-219

Dieser Aufsatz – fußend auf der 2007 erschienenen Dissertation des Autors – stellt nach wie vor den aktuellsten Versuch dar, die Technikentwicklung im Polizeibereich zu erfassen. Heinrich verweist auf die „polyzentrische Organisationsweise der Technikzuständigkeiten“, die aus der „historisch gewachsenen, pragmatisch geleiteten institutionellen Differenzierung“ des deutschen Polizeisystems resultiere. „Spezifische Akteursgruppen“ innerhalb der Polizei seien prägend für die Aufnahme von Innovationen; die mit der Technisierung verbundenen Hoffnungen differierten und widersprächen sich teilweise. Die Entscheidungen könnten „nur in wenigen Fällen als rationale Antwort“ verstanden werden. Nicht der Gesetzgeber, sondern die Einsatzebene entscheide primär darüber, wie technische Potenziale eingesetzt würden: Es „steuern die Sicherheitsbehörden relativ autonom ihre Technisierung“. Dabei sei die Polizei allerdings häufig von den Produkten abhängig, die die privatwirtschaftlichen Anbieter bereitstellten. – Heinrichs Befunde resultierten aus seiner Untersuchung der „Informatisierung“ der Polizeiarbeit (IT-Ausstattung und des polizeilichen Informationssystems INPOL); sie dürften aber auch für andere Felder der Technisierung gelten.

Sturm, Michael: „Unter mir wird alles weich“ – Eine Geschichte des Polizeischlagstocks, in: Lüdtke, Alf; Reinke, Herbert; Sturm, Michael (Hg.): Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2011, S. 325-347

Innovationen begleiten die Polizei auch als gewaltanwendendes Handwerk. Michael Sturm zeichnet hier die Geschichte des Schlagstocks nach, dessen Ausführung sich an polizeilich-politische Einsatzanforderungen (und technische Möglichkeiten) orientierte: Aus Gummi wurde er in der Weimarer Republik eingeführt (als mildere Alternative zu Degen und Säbel) und von den Nazis wieder abgeschafft (Militarisierung der NS-Polizei), nach 1945 erneut eingeführt (teilweise aus Holz), seit Ende der 1960er – als Reaktion auf die Demonstrationen der 68er – durch längere aus Hartplastik oder mit Holzkern ersetzt und diese seit Mitte der 1980er Jahre (Stichwort: Anti-AKW-Proteste, Friedensbewegung) um den aus dem asiatischen Kampfsport stammenden Tonfa – für den „robusteren“ Einsatz – ergänzt. Die Umrüstung der „Normalausstattung“ auf den ausziehbaren „EMS-A“ (Einsatzmehrzweckstock) in den 2010er-Jahren folgte erst nach der Periode, die in dem Aufsatz betrachtet wird. Der Schlagstock erscheint hier als ein Element sich ändernder Polizeistrategien im Umgang mit (protestierenden) Menschenmengen, von dem die Polizeien sich eine dosierte Gewaltanwendung versprechen. Dass hierdurch „die Gewaltpotenziale der Polizei eine Minimierung erfahren hätten“, sei mehr als fraglich. 

Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages: Einsatz von Reizstoffsprühgeräten bei den Polizeibehörden, WD 3 – 3000 – 408/10, Berlin 2010, www.bundestag.de/resource/blob/418216/dadd22c282af39880d7a4ec53 4170c62/WD-3-408-10-pdf-data.pdf

Obgleich dadurch immer wieder Verletzungen hervorgerufen werden, ist die Diskussion um die Polizeien und „Pfefferspray“ eingeschlafen. Die Ausarbeitung des Bundestages gibt den Stand zu Beginn des letzten Jahrzehnts wieder. Im Zentrum stehen die rechtlichen Grundlagen in den Polizeigesetzen, in denen das Pfefferspray entweder als „Hilfsmittel der körperlichen Gewalt“ oder als „Waffe“ aufgeführt wird. Die Ausstattung der Polizeien mit Reizstoffsprühgeräten wurde 1999 von der Innenministerkonferenz empfohlen; in Nordrhein-Westfalen gab es jedoch bereits seit 1983 einen Erlass, der ihren Einsatz regelte. Eine neuere Übersicht ist nicht veröffentlicht. Wie bei den Schlagstöcken ist unbekannt, ob die Zahl der Einsätze mit Pfefferspray erfasst wird; veröffentlicht wird sie auf jeden Fall nicht. Eine Evaluation des Einsatzes in Deutschland existiert nicht. Aber neben Berichten über Verletzungen gibt es auch immer wieder Ereignisse, in denen das Pfefferspray versagte und eskalierend wirkte.

Lürbke, Marc; Gerhardt, Sascha: Politische Entscheidungsprozesse bei der Einführung von Distanzelektroimpulsgeräten für operative Einheiten bei der polizeilichen Alltagsorganisation in NRW, in: Wehe, Dieter; Stiller, Helmut (Hg.): Handbuch Polizeimanagement, Wiesbaden 2023, S. 37-57

„Distanzelektroimpulsgeräte (DEIG“, häufig „Taser“ genannt, wobei das der Name des DEIG einer bestimmten Firma ist) sind eine jüngere Erfindung aus dem Repertoire „weniger tödlicher Waffen“. In der Fallstudie zu Nordrhein-Westfalen wird nachgezeichnet, wie die neue Waffenart in einem langjährigen Prozess politisch mehrheitsfähig (gemacht) wurde. Die zunächst ablehnende Front gegen den Taser wurde schließlich mit Verweis auf „Übergriffe auf Polizeivollzugsbedienstete“ überwunden. Im Sommer 2020 begann ein Pilotprojekt in vier Präsidien bzw. Landkreisen. Die Reihenfolge Spezialeinheiten, Pilotprojekt, allgemeine Ausrüstung ist ebenso typisch wie der Umstand, dass es keine laufende Erfassung von Einsätzen, Folgen und Nebenfolgen gibt. 

Eick, Volker: Videos zum Hinfassen. BodyCams in den USA und der BRD, in: Bürgerrechte & Polizei/Cilip 112 (März 2017), S. 74-81

Körperkameras an der Kleidung von Polizist*innen wurden erst möglich durch die Miniaturisierung von Aufnahme- und Speicherkapazitäten infolge der Digitalisierung. Schon in der Diskussion um den Taser ging es nicht zentral um ein Hilfsmittel zur Durchsetzung einer polizeilichen Aufgabe, sondern um den Schutz des eingesetzten Personals. Das gilt auch für die Body Cams. Hier gab es deutliche Befunde, so Volker Eick, die auf das Eskalationspotenzial hinweisen, das aus dem sichtbaren Filmen resultiert. Dass das Filmen auf die Polizist*innen zivilisierende Wirkungen hat, konnte ebenfalls nicht nachgewiesen werden.

Labudde, Dirk; Spranger, Michael (Hg.): Forensik in der digitalen Welt, Berlin 2017

Die größten technischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte haben vermutlich im Bereich der Forensik stattgefunden. Dabei wirken die Verbesserung von chemisch-physikalischen Nachweismethoden und die Potenziale der Digitalisierung zusammen. Der Sammelband gibt einen (nicht mehr ganz aktuellen) Überblick über die „forensische Fallarbeit in der digitalen und digitalisierten realen Welt“.

Thurn, Roman; Egbert, Simon: Predictive Policing: Die Algorithmisierung der Polizei als Risiko für die Bürgerrechte?, in: Vorgänge 227 (2019, H. 3), S. 71-84

Egbert, Simon: Datafizierte Polizeiarbeit – (Wissens-)Praktische Implikationen und rechtliche Herausforderungen, in: Hunold, D.; Ruch, A. (Hg.): Polizeiarbeit zwischen Praxishandeln und Rechtsordnung, Wiesbaden 2020, S. 77-100

Egbert, Simon; Kornehl, Karolin: Kommerzielle Software vs. Eigenentwicklung. Verbreitung und Ausgestaltung von Predictive Policing in Deuschland, in: Kriminologisches Journal 2022, H. 2, S. 83-107

Die Diskussion um Predictive Policing – als eine auf softwaregestützten Prognosen fußende Polizeiarbeit – ist seit einigen Jahren auch in Deutschland angekommen. In dem Beitrag von Egbert und Kornehl wird die Umsetzung in den Länderpolizeien bilanziert. Zwei Wege werden dort beschritten: Einige Bundesländer kaufen Systeme privatwirtschaftlicher Anbieter (etwa Baden-Württemberg, Hessen und Bayern), andere entwickeln ihre Software selbst (z. B. auch Hessen, Nordrhein-Westfalen und Berlin). Alle Systeme sind auf den Wohnungseinbruch ausgerichtet; sie folgen im Grundsatz der kriminalistischen „Near Repeat-Hypothese“. Bedeutsam sind die Motive für die Wahl der jeweiligen Wege: Die „Software-Käufer“ sehen die größere fachliche Kompetenz bei den kommerziellen Softwareherstellern, während es für die „Selbstentwickler“ prioritär ist, die Algorithmen vollständig – d. h. ohne Schranken durch Betriebsgeheimnisse der Hersteller – verstehen zu können. In dem Beitrag aus den Vorgängen von 2019 werden zwar denkbare im „bürgerrechtlich positiven Sinn“ wirkende Chancen des Predictive Policing erwähnt (durch „non discrimination by design“, plausibler scheint jedoch der Hinweis auf die Reproduktion und Verfestigung des „Hot Spot Policing“, indem die Kontroll- und Eingriffsintensität an polizeilich definierten Orten und gegenüber bestimmte Menschen prognosegestützt erhöht wird. Im Aufsatz zur „Datafizierten Polizeiarbeit“ wird u. a, herausgearbeitet, dass die auf Prognosen angelegten Analysesystemen mit Eingriffen in das Vorfeld kriminalisierter oder gefahrenträchtiger Handlungen verbunden sind. Die Datenanalysen seien mit einer Reihe rechtlicher Probleme verbunden; die Stichworte sind: Recht auf informationelle Selbstbestimmung, Gebot der Datenminimierung und Zweckbindung, Diskriminierungsverbot. Dass die „Datafizierung“ besonderer (besonders strenger) Rechtsgrundlagen bedarf, hat das Bundesverfassungsgericht im sog. „Palantir-Urteil“ vom 16. Februar 2023 bestätigt (www.bverfg.de/e/rs20230216_1bvr154719. html). Das Gericht bewertete die am Ende des Artikels erwähnte Hamburger Polizeirechtsnovelle – ebenso wie die Bestimmung in Hessen – als verfassungswidrig.

Kleemann, Steven; Hirsbrunner, Simon; Aden, Hartmut: Fairness, Erklärbarkeit und Transparenz bei KI-Anwendungen im Sicherheitsbereich – ein unmögliches Unterfangen?, in: Vorgänge 242 (2023, H. 2), S. 29-47

Wenn die Polizei mit Methoden der „Künstlichen Intelligenz“ arbeitet, stellt dies eine Herausforderung für die rechtsstaatliche Einhegung polizeilichen Handelns dar. Im Klartext: Wenn die Betroffenen von polizeilichen Ermittlungen oder Eingriffen nicht verstehen, was, wie mit ihnen, ihren Handlungen und Daten geschieht, dann können sie sich nicht gegen diese und die aus ihnen gewonnenen Erkenntnisse/Beweise wehren. In dem Aufsatz werden verschiede Vorschläge diskutiert, wie Transparenz in KI-gestützten Verfahren als Voraussetzungen von „erklärbarer Fairness“ hergestellt werden kann. Vorgestellt wird das „Zwiebelmodell“ einer „adressatenspezifischen Ausdifferenzierung“ der Transparenz, die von den Ermittler*innen bis zu den Aufsichtsbehörden reicht. Auch wenn das nur eine exemplarische Aufzählung ist – wo bleiben die Betroffenen oder Rechtsanwält*innen? –, so wird doch deutlich, dass KI-gestützte Polizeiarbeit eines Sets aufwändiger Vorkehrungen bedarf, soll sie nicht zu unkontrollierbaren Ergebnissen (und nachfolgenden polizeilichen Handlungen) führen.

Neuerscheinungen

Banita, Georgiana: Phantombilder. Die Polizei und der verdächtige Fremde, Hamburg (Edition Nautilus) 2021, 479 S., 24,00 Euro

Der Band verspricht eine „so umfassende wie erschreckende Kulturgeschichte der polizeilichen Verdachtsschöpfung und ihrer immer wieder tödlichen Folgen“ (Umschlagtext). Die umfangreiche Darstellung löst diese Ankündigung ein. Allenfalls irritiert, warum die Autorin statt von den naheliegenden „Feind-“ (nur) von „Phantombildern“ schreibt. Denn ihre zentrale These besagt: Die Polizei zeichnet ein Bild ihres Gegenübers, indem sie „Fremdheit“ zuschreibt. Die Dichotomie zwischen den Guten & Gesetzestreuen auf der einen, den Bösen & Gefährlichen auf der anderen Seite scheidet zwischen denen, die dazugehören, und denen, die „eigentlich“ nicht dazugehören, den „Fremden“. Dabei erfolgt die Zuweisung dieses Status durch stereotype Verallgemeinerungen, die sich vorzugsweise, aber keineswegs ausschließlich, auf vermeintliche ethnische Merkmale beziehen. Wenn am Ende derartiger Konstruktionen Menschen zu Tode kommen – von Oury Jalloh bis George Floyd – dann materialisieren sich die „Phantombilder“ in realer Polizeipraxis.

Banitas Darstellung ist in vier Teile gegliedert, die auf das einleitende Kapitel „Polizeisyndrom“ folgen. Einzelne Aspekte dieses „Syndroms“ werden anhand der US-amerikanischen Verhältnisse vorgestellt („konstante Paranoia“ Schwarzer gegenüber der Polizei und die „von einer paranoiden Fremdenfurcht durchdrungen(en)“ Polizist*innen, S. 40f.). Dass „die Polizei zunehmend zu Gewalt greift“ (S. 46) wird mit Hannah Arendt als Indiz „fortschreitender Ohnmacht“ des Staates“ (S. 47) interpretiert. Und mit Alex Vitale wird als „untilgbare Erbsünde“, als „intrinsischer“ Defekt aller Polizeisysteme“ das „Grundprinzip der Polizei“ darin gesehen, dass „sie es hervorragend (schafft), privilegierte Bevölkerungsgruppen zu schützen, indem sie gegen diejenigen hart vorgeht, die am unteren Ende der sozialen Hierarchie rangieren“ (S. 49).

Unter der Überschrift „Racial Profiling“ werden keineswegs die Praktiken „verdachts- und ereignisunabhängiger Personenkontrollen“ verhandelt, sondern zunächst das Zusammenwirken von (migrantischen) Jugendlichen und der Polizei. Die Stuttgarter Krawalle vom Juni 2020 interpretiert Banita als „Scheingefecht der Sündenböcke“, als einen „Karnevalszug vermummter Gestalten in entsprechender Kampfmontur“ (S. 83); später spricht sie vom „Marionettentheater“ (S. 105), weil hier Sündenböcke und nicht Sünder (S. 89) aufeinanderstießen, d. h. die zugrunde liegende Ursachen unberücksichtigt blieben. In zweiten Kapitel wird mit Oury Jalloh und den polizeilich lange als „Döner-Morde“ behandelten NSU-Taten der Mechanismus der Täter-Opfer-Umkehr dargestellt.

Die folgenden drei Teilen des Buches gelten besonderen Ausprägungen moderner Polizeien. Banita bezeichnet sie als „Nekro-, Krypto- und Xenopolizei“. Die Präfixe sollen nicht nur ein spezifisches Merkmal betonen, sie sollen zugleich kenntlich machen, dass nicht alle Polizist*innen gemeint sind, denn „der Kampf gegen Vorurteile bei der Polizei wird oft auf dem Rücken kompetenter und einfühlsamer Polizist*innen ausgetragen“ (S. 23). Teil II gilt der „Nekro-Polizei“, der Polizei, die mit tödlicher Gewalt agiert. Die drei Kapitel dieses Teils beginnen mit der Folter und enden bei der Bewaffnung. In Anschluss an Jean Amérys Analyse heißt es, die Folter sei „fester Bestandteil jeder Polizeimacht“ (S. 140); auf S. 175 wird behauptet: „das Zeitalter der Polizeischläger wird durch das Zeitalter der Polizeischützen abgelöst“; später wird festgestellt, dass sich „die Polizei so weit von ihrer Zivilschutzfunktion emanzipiert hat, dass sie einen Teil der Bevölkerung … als feindliche Staatsmacht betrachtet, die straffrei vernichtet werden kann und sollte“ (S. 201).

Teil III ist mit „Krypto-Polizei“ überschrieben, was in wörtlicher Übersetzung „verborgene Polizei“ bedeutet. Die Leser*innen werden in den beiden Kapiteln jedoch nicht mit verdeckten Ermittlungen, „undercover policing“ etc. vertraut gemacht, sondern mit der Funktionsweise und den Wirkungen von „predictive policing“. Dabei mündet die Kritik an prognosegesteuerter Kriminalitätsbekämpfung in einer Würdigung des Strafsystems, da es „dem Straftäter oder der Straftäterin gewissermaßen gerade durch die Haft die Freiheit gibt, sein*ihr Leben zu ändern“ (S. 295)! Im nachfolgenden Kapitel wird die „Krypto-Polizei“ anhand von literarischen Detektivgeschichten beleuchtet. Der rassistische Subtext in A. E. Poes „Mord in der Rue Morgue“ wird nachvollziehbar herausgearbeitet; Sherlock Holmes wird als Protagonist der naturwissenschaftlichen Kriminalistik deutlich; es folgen Betrachtungen zu Geschichten von Dürrenmatt und Mankell. Überzeugend sieht man die (gebrochenen) Umsetzungen allgemeiner Tendenzen in der Literatur. Ob daraus jedoch irgendetwas für die reale Polizei folgt, ob wir sie durch die künstlerische Umsetzung besser verstehen etc., das bleibt offen.

Teil IV gilt der „Xeno-Polizei“, also der Polizei, die sich mit dem Fremden beschäftigt. Das erste Kapitel ist den staatlichen Grenzsicherungsregimen gewidmet, das zweite der Praxis der Abschiebungen. Die Grenzmauern führten zu einem neuen Typus von Wachpersonal, „das die Unterschiede zwischen Polizei und Militär immer mehr aufweicht“ (S. 356). Die Abschottung nach außen fördere die Gewalt nach innen. Die Autorin schreibt von „sich häufenden, teils öffentlichen Gewaltexzesse(n) der deutschen Polizei gegen geflüchtete Menschen“ oder dass „in Deutschland – und vermehrt seit 2015 – die Polizei mit tödlicher Gewalt gegen Geflüchtete vorgeht“ (S. 372).

Jenseits der vielen Facetten, die in diesem Buch zusammengetragen wurden, und jenseits der vielen zutreffenden Einsichten über die in der Institution Polizei verankerten ausgrenzenden Strukturen, löst die Methodik der Untersuchung Unbehagen aus. Zwischen der US-amerikanischen und der deutschen (mitunter auch der britischen oder französischen) Polizei wird beliebig gewechselt. So als ob Polizei immer dasselbe sei. Das führt immer wieder zu Aussagen, die für die deutschen Verhältnisse in die Irre führen. Zudem bleibt die Bedeutung des ständigen Einbeziehens von Filmen (fiktionale oder dokumentarische) und von belletristischer Literatur für die Polizeipraxis unklar.

Am Ende des Buches unterbreitet Georgiana Banita einige Vorschläge, was zu tun sei: Racial Profiling verbieten, physische Gewalthaftigkeit der Polizei einschränken, Predictive Policing „rechtlich einhegen“, gegen „eine Welt voller Mauern“ sein, sich selbst die „unbequeme Frage der Eigenverantwortung“ stellen (S. 410ff.). Dieses begrüßenswerten, aber eher bescheidenen Antworten passen nicht so recht zum apodiktisch-kritischen Ton in den vorangegangenen Kapiteln. Auch an anderen Stellen schimmert ein differenzierter Blick durch, der an eine Polizei jenseits des Kritisierten glaubt: Etwa wenn die Autorin von dem der Polizei „anvertrauten Sozialauftrag“ (S. 402) schreibt oder wenn sie bedauert, es werde nicht genug getan „zur Bekämpfung und Verhütung schwerwiegender Straftaten, etwa der häuslichen Gewalt“ (S. 405). Das klingt, als ob die Polizei(welt) ohne „Phantombilder“ in Ordnung wäre. Mehr als fraglich. (sämtlich: Norbert Pütter)

Maurer, Nadja; Möhnle, Annabelle; Zurawski, Nils (Hg.): Kritische Polizeiforschung. Reflexionen, Dilemmata und Erfahrungen aus der Praxis., Bielefeld (transcript) 2023, 254 S., 39,00 Euro, www.transcript-verlag.de/978-3-8376-6557-4/kritische-polizeiforschung

Sie verrichten ihren Dienst unter schwierigen Voraussetzungen. Das ist eine der zentralen Erkenntnisse, die diese Publikation aus der Forschungsstelle für strategische Polizeiforschung an der Akademie der Polizei Hamburg durchzieht. In zehn Kapiteln teilen die größtenteils ethnologisch arbeitenden Polizeiforscher*innen ihre Erfahrungen im Feld und die Schwierigkeiten, zu diesem Zugang zu erhalten. Gerahmt sind die Berichte aus konkreten Forschungsprojekten – mehrheitlich mit Rassismusbezug – von einordnenden und Ausblick gebenden Worten. Der wissenschaftliche Leiter der Forschungsstelle und Mitherausgeber Nils Zurawski lenkt seinen Blick kritisch auf die Forschenden. Denn nicht nur die Fragestellung und das Thema würden sich auf den Feldzugang auswirken, sondern auch die Einstellung der Wissenschaftler*innen. Politisch Engagierte würden zuweilen durch ideologisch-motivierten Aktivismus einen Dialog mit der Polizei verunmöglichen. „Ich bin aber immer Forscher, ich bin immer offen, ich bin immer transparent. Ich kann nicht als Forscher das versprechen und dann als Aktivist arbeiten” (S. 224). Beide Herangehensweisen seien redlich, aber man sollte diese auf die Gefahr hin, keiner Seite gerecht zu werden, nicht vermischen.

Weitere Autor*innen beklagen, dass einige Polizeiforscher*innen durch methodische Unzulänglichkeiten und Empirieferne die innerwissenschaftliche Debatte aufhielten. Vorwürfe von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Extremismus und Radikalisierung würden oftmals undifferenziert behandelt und in der diffus bleibenden Unterstellung resultieren, „Polizist:innen seien (alle) rechtsradikal” (S. 80). Über mediale Verstärkung findet sich dieses Wahrnehmungsmuster in der öffentlichen Diskussion und produziert bei Gesprächspartner*innen aus der Polizei „Unsicherheit und Zurückhaltung” zu diesen Themen (S. 197). Forschungsprojekte wie die MEVAGO- und KviAPol-Studie hätten „vermintes Gelände” hinterlassen und polizeiseitig Abwehrhaltungen produziert (S. 18, 83, 182, 184). Doch gerade für Polizeiethnologie, die „letztlich zu guten Erkenntnissen“ gelangen will, spielten „Offenheit, Reflexivität und Vertrauen“ eine Schlüsselrolle (S. 12, 106).

Wie lassen sich diese erreichen? Nadja Maurer schießt leider forschungsethische Leitlinien anthropologischer Verbände in den Wind. Diese hätten sich „als überhaupt nicht hilfreich“ erwiesen (S. 130). Doch gerade die Leitlinien der erwähnten American Anthropological Association resultiert aus Klagen der Beforschten (s. American Anthropological Association: AAA Statement on Ethics. Principles of Professional Responsibility, 2012. https://americananthro.org/about/policies/statement-on-ethics). Die Reflexionen der Autor*innen erinnern an Forderungen indigener Gruppen im Forschungskontext: die „drei Rs“ – Respect, Relationship, Reciprocity. Zum Aufbau und Erhalt des nötigen Vertrauens brauche es einen respektvollen Umgang, der Beziehungsarbeit einschließt und den Nutzen aller Beteiligten im Auge hat. Zu einem respektvollen Umgang gehöre, dass Forschende sich offen und vorbehaltlos mit den Anforderungen an den Polizeiberuf auseinandersetzen und davon absehen, „kulturelle Lebensäußerungen … negativ zu sanktionieren“ (S. 229). Durch fast alle Kapitel zieht sich die Erkenntnis, dass es zu Gelingensbedingungen der Forschungsprojekte gehört, „Beziehungsarbeit“ zu leisten, bei der „Formulierung produktiver und nachhaltiger Partnerschaften“ frühzeitig Kontakt aufzunehmen und „im Sinne eines verstetigten Dialogs“ diesen „dauerhaft durch eine offene Forschungsperspektive einzulösen“ (S. 189, 241, 236, 100). Angesichts der feldspezifischen Erfordernisse, so die Erfahrungen nicht nur aus Berlin und Rheinland-Pfalz, seien zukünftige qualitative Polizeistudien möglichst als Langzeitstudien anzulegen.

Die größte Herausforderung scheint darin zu bestehen, Reziprozität sicherzustellen und die Interessen der Beforschten – Praxisrelevanz und konkrete Handlungsempfehlungen – ernst zu nehmen. Doch, so informiert das letzte Kapitel des Buches, will man durch die Einrichtung des Hamburger Initiativkreises Polizeiforschung nun vieles besser machen. Über diese Initiative, die im Januar 2024 zu einer dritten Tagung einlud, werden diverse Akteur*innen dauerhaft vernetzt (s. Akademie der Polizei Hamburg: 3. HIP-Veranstaltung, 2024, https://akademie-der-polizei-hamburg.de/3-hip-veranstaltung-700850). So sollen eine „für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit“ hergestellt und „Hemmnisse und Hürden für Forschung und Forschungsnutzen überwunden werden“ (S. 241, 232). Wir sind gespannt. (Sonja John)

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