Tödlicher Schußwaffeneinsatz 1993

von Otto Diederichs

Im zurückliegenden Jahr verstarben an den Folgen eines Polizeischusses (zweifelsfrei) 15 Personen. Dies ist die größte Zahl seit zehn Jahren. Damals, 1983, mußte mit 24 Todesopfern der höchste Stand verzeichnet werden, den CILIP seit dem Beginn seiner Zählung und Auswertung (rückwirkend bis 1974) bisher zu vermelden hatte.

Seither sank die Zahl tödlich verlaufener Schußwaffeneinsätze kontinuierlich. Dieser Trend hielt auch nach der Vereinigung Deutschlands an, obwohl damit die Zahl der polizeilichen Waffenträger kräftig gewachsen ist.1 Wie der plötzliche sprunghafte Anstieg des letzten Jahres zu bewerten ist, kann gegenwärtig noch nicht beurteilt werden.

Besorgnis erregen müssen allerdings die folgenden Zahlen zum Schußwaffengebrauch, die eine Anfrage der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag zutage förderte: Danach setzte der Bundesgrenzschutz 1992 insgesamt 46mal die Waffe ein; in 21 Fällen sei sie dabei gegen Personen gerichtet gewesen. Im Vorjahr war dies „nur“ siebenmal der Fall. Zur Begründung für den ge-stiegenen Einsatz der Schußwaffe nannte die Bundesregierung einen „Anstieg der Warnschüsse“, um (insbesondere an der deutschen Ostgrenze) Grenz-durchbrüche zu verhindern.2

Bad Kleinen fehlt

Trotz aller damit verbundenen ‚Bauchschmerzen‘ wurde darauf verzichtet, den tödlichen Ausgang des Polizeieinsatzes vom 27.6.93 gegen die mutmaßlichen RAF-Mitglieder Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams im mecklenburgischen Bad Kleinen mit in die Übersicht aufzunehmen. Er wird statt dessen an dieser Stelle gesondert dargestellt:

Während einer heftigen Schießerei bei der Festnahme des flüchtigen Wolfgang Grams wurde dieser von mehreren Schüssen getroffen und stürzte auf die Gleise. Hier wurde er von zwei GSG 9-Beamten gestellt. Spätere Zeugenaussagen berichten, in dieser Situation seien auf Grams nochmals zwei Schüsse abgegeben worden3. Teilergebnisse zweier rechtsmedizinischer Gutachten aus Lübeck und Münster ergaben, daß der aufgesetzte Kopfschuß, der Grams getötet hatte, nicht von einer der untersuchten Polizeiwaffen stammt. Das münsteraner Gutachten hält Grams‘ eigene Waffe für die mögliche Tatwaffe; ein drittes (Teil)Gutachten, das bei der Züricher Stadtpolizei angefordert wurde, kam zum selben Ergebnis. Die entscheidende Frage, wer den tödlichen Schuß abgab, blieb allerdings bei allen Gutachten ausgeklammert. Nachdem das endgültige Gutachten aus Zürich schließlich zu dem Ergebnis kam, eine „exekutionsähnliche Handlung“ könne „praktisch ausgeschlossen“ werden4, stellte die ermittelnde Schweriner Staatsanwaltschaft im Januar 1994 die Ermittlungsverfahren gegen zwei GSG 9-Beamte ein. Im Abschlußbericht des Bundesinnenministeriums heißt es daraufhin zum Ablauf des Todes des 40jährigen Grams: „Er stürzte rückwärts auf das Gleis, wo er sich in Selbstmordabsicht einen Kopfdurchschuß versetzte.5

Die Merkwürdigkeiten und „Zufälle“, die die Ermittlungen und Gutachten immer wieder begleiteten6, lassen zumindest erhebliche Zweifel an der Frage aufkommen, ob an der notwendigen, wahrheitsgemäßen Aufklärung des Falles überhaupt ein Interesse bestand. (Zweites Opfer des Einsatzes wurde der 25jährige GSG 9-Beamte Michael Newrzella, der von Grams erschossen wurde.)

Todesschüsse 1992: Ein Nachtrag

Nachzutragen ist ein (zumindest überregional) bislang unbekannt gebliebener Todesschuß aus dem Jahr 1992: Am 19.1.92 wurde die Polizei über einen Einbruch in eine Verkaufsstelle in Bernburg (Sachsen-Anhalt) informiert. Nachdem zwei Beamte sich den Schlüssel des Ladens besorgt hatten, gingen sie mit gezogenen Waffen in das Geschäft, wo sich der Täter, der 24jährige Peter Sund, noch befand und sie pausenlos beschimpfte. Als die Beamten ihn stellten, steckte einer der Beamten seine Waffe zurück ins Holster, während der andere mit gezogener Waffe sicherte. Bei der anschließenden Festnahme trat der Täter wild um sich und brachte dabei den sichernden Beamten aus dem Gleichgewicht; als dieser strauchelte, löste sich aus seiner Makarov-Pistole ein Schuß und traf den Täter in den Kopf.
Am 23.11.93 wurde der Beamte vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen; die Staatsanwaltschaft hat Berufung eingelegt.7

Die Zahl tödlich verlaufender Schußwaffeneinsätze8 muß damit von 9 auf 10 korrigiert werden.

 

1 Bürgerrechte & Polizei/CILIP 44 (1/93)
2 BT-Drs. 12/6690 v. 28.1.94
3 die tageszeitung v. 2.7.93, Der Spiegel v. 5.7.93
4 Berliner Morgenpost v. 21.11.93
5 Berliner Zeitung v. 18.2.94
6 vgl. Der Spiegel, Ausgaben Juli 93 – Januar 94
7 alle Angaben nach telefonischer Auskunft der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dessau v. 23.2.94
8 Bürgerrechte & Polizei/CILIP 44 (1/93)