von Heiner Busch
Die innen- und justizpolitische Zusammenarbeit der EU-Staaten ist heute eine gut geölte politische Maschine, die fast gänzlich ohne den Treibstoff demokratischer Kontrolle und Öffentlichkeit auskommt. Das Tempo, mit der diese Maschine Vorschläge zum Ausbau der „inneren Sicherheit“ in der EU produziert, hat seit dem Amsterdamer Vertrag erheblich zugenommen.
„Anzeiger der Fortschritte bei der Schaffung eines Raumes der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts in der Europäischen Union“ – diesen Titel trägt ein Dokument, das die EU-Kommission halbjährlich aktualisiert.[1] Den Auftrag dazu erteilte ihr der Europäische Rat, die Staats- und Regierungschefs der EU, bei ihrer Tagung im finnischen Tampere im Oktober 1999. In der dritten Fassung vom Mai 2001 ist dieses Dokument 41 Seiten lang. Es enthält nur wenig Lauftext, dafür um so mehr Tabellen, in denen sämtliche Bereiche der Innen- und Justizpolitik durchgegangen werden: Ziel, erforderliche Maßnahme, Zuständigkeit, Zeitplan, Stand, lauten die Spaltenüberschriften. Hier werden die Hausaufgaben der zuständigen EU-Gremien aufgelistet, damit auch ja nichts in Vergessenheit gerät.
Arbeits- und Zeitpläne gibt es in der Geschichte der gemeinsamen Innen- und Justizpolitik seit dem sog. Palma-Dokument der damaligen „Koordinatoren Freizügigkeit“ (i.e. der zuständigen Staatssekretäre) von 1988. Ziel solcher Dokumente war und ist es, vorgegebene Termine zu retten. 1988 ging es darum, am 31.12.1992 nicht nur den Binnenmarkt Wirklichkeit werden zu lassen, sondern auch den damit eigentlich verbundenen kontrollfreien Personenverkehr über die Binnengrenzen und die vor allem von den Polizeien gewünschten „Ausgleichsmaßnahmen“. Das Vorhaben, das sich am Modell des zu diesem Zeitpunkt schon in Grundzügen vorliegenden Schengener Durchführungsübereinkommens ausrichtete, scheiterte zwar vor allem am britischen Widerstand. Es hatte aber zwei wesentliche Folgen: einerseits die Aufwertung der Schengen-Gruppe als innen- und justizpolitischem Kerneuropa, andererseits die Formalisierung der innen- und justizpolitischen Kooperation der damals zwölf Mitgliedstaaten in der „dritten Säule“ des 1993 in Kraft getretenen Maastrichter Vertrags.
Heute geht es vor allem darum, diejenigen Aufgaben zu realisieren, die im Amsterdamer Vertrag mit einer Fünf-Jahres-Frist versehen, also auf den Mai 2004 terminiert sind. Verglichen mit dem Palma-Dokument ist der „Anzeiger“ der Kommission wesentlich detaillierter und umfangreicher. Die grundlegenden Abkommen über die polizeiliche Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten stehen, die wesentlichen Institutionen und Informationssysteme sind in den 90er Jahren aufgebaut worden. Stand die EU-Innen- und -Justizpolitik Ende der 80er Jahre in den Startlöchern, so geht es heute um Erweiterung und Ausbau.
Fristen und ihre Wirkung
Der Amsterdamer Vertrag hat die Zuständigkeiten und Arbeitsbereiche in der Innen- und Justizpolitik der EU neu definiert. Bis zu seinem Inkrafttreten waren sämtliche Aspekte dieser Politik in der „dritten Säule“ konzentriert und als Regierungszusammenarbeit definiert. Die Kommission war zwar in Fragen der Asyl- und Einwanderungspolitik am Verhandlungstisch geduldet, sie hatte aber kein Initiativrecht. Alle Entscheidungen lagen beim Rat der Innen- und Justizminister und mussten einstimmig getroffen werden. Das Europäische Parlament (EP) wurde allenfalls informiert, hatte aber definitiv nichts zu sagen.
Für die Zusammenarbeit in den Bereichen Polizei, Strafrecht und die strafrechtliche Zollkooperation gilt dieses Modell auch weiterhin. Die Asyl- und Einwanderungspolitik, die Binnen- und die Außengrenzen sowie die zivilrechtliche Kooperation sind dagegen „vergemeinschaftet“ worden, d.h. sie gehören nun zur „ersten Säule“ der EU. Wie in Fragen des Binnenmarktes werden hier jetzt Verordnungen und Richtlinien erarbeitet, die nicht mehr der Ratifikation durch die nationalen Parlamente bedürfen. Allerdings behalten die im Rat vertretenen Regierungen bis 2004 nicht nur weiterhin das Initiativrecht. In diesen ersten fünf Jahren gilt für die neuen Bereiche der „ersten Säule“ nur das Konsultationsverfahren. D.h., die Kommission (oder eine Regierung) produziert einen Vorschlag, das EP darf eine Stellungnahme abgeben. Die eigentliche Entscheidung trifft aber der Rat alleine. Erst nach Ablauf der Fünf-Jahres-Frist entscheidet der Rat, ob das sog. Mitentscheidungsverfahren eingeführt werden soll und damit das Parlament ein Vetorecht erhält. Voraussetzung dafür ist aber, dass sämtliche im Titel IV des Vertrags über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) bis dahin vorgesehenen Arbeiten erledigt sind. Allein im Asylrecht gehören dazu Mindestnormen für die Aufnahme und Anerkennung von Asylsuchenden, für das Asylverfahren und den temporären Schutz für Kriegsflüchtlinge. Anders ausgedrückt: erst wenn die Exekutive alle wesentlichen Entscheidungen in der Asyl- und Einwanderungspolitik getroffen hat, wird diese Exekutive, d.h. der Rat, darüber nachdenken, ob er dem EP wirkliche Mitbestimmungsrechte erlaubt. Gerade die liberaleren Vorschläge der Kommission etwa in Bezug auf das Familiennachzugsrecht für Angehörige von Drittstaaten werden vom Rat regelmäßig blockiert.
Fünf-Jahres-Fristen gibt es auch für die dritte Säule (Titel VI Vertrag über die Europäische Union, EUV), insbesondere in Bezug auf die Ausweitung der Kompetenzen von Europol. Ein großer Teil dieser Fragen wird durch ratifizierungsbedürftige und damit zeitraubende Änderungen der Europol-Konvention geregelt werden müssen. Um den durch den Amsterdamer Vertrag und mehr noch durch die darauf aufbauenden Tampere-Beschlüsse entstandenen Zeitdruck abzufedern, versucht der Rat mit Empfehlungen und Provisorien unterhalb der Vertragsebene Fakten zu schaffen. Verträge und deren Ratifikation werden damit zur reinen Formsache.
Schengen und das Prinzip der Besitzstandswahrung
Nur ungern haben sich die Regierungen der Schengen-Staaten von ihrer separaten Form der Zusammenarbeit verabschiedet. Handelte es sich doch – abgesehen von der Ratifikation des Schengener Übereinkommens – ausschließlich um eine Kooperation von Exekutiven und Polizeien. Gemäß dem zum Amsterdamer Vertrag gehörenden Schengen-Protokoll wurde der gesamte Schengen-Acquis – d.h. die Schengener Verträge von 1985 und 1990, die diversen Beitrittsabkommen der seit 1990 zu Schengen hinzugestoßenen Staaten sowie die ca. 200 Beschlüsse des Schengener Exekutivausschusses – unter die erste und die dritte Säule aufgeteilt und gelten nun vollständig als EU-Recht.
Genauer betrachtet hat also gar kein wirklicher Abschied von Schengen, sondern nur eine Eingliederung in die EU-Strukturen stattgefunden. In einer Erklärung zum Schengen-Acquis haben sich die Regierungen festgelegt, dass zukünftige Regelungen der EU „zumindest dasselbe Maß an Schutz und Sicherheit“ bieten müssten. Damit wurde nicht nur der rechtliche „Besitzstand“ der Schengen-Gruppe, sondern auch die dahinter stehende politische Konzeption für sakrosankt erklärt. Erhalten blieb aber auch ein Teil der Schengen-Arbeitsgruppen. Dies gilt nicht nur für jene Gremien, die den Betrieb des Schengener Informationssystems gewährleisten, sondern auch für die erst Ende 1998, kurz vor Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags, geschaffene Arbeitsgruppe Evaluation, die die Einhaltung des Schengen-Acquis durch die beteiligten Staaten kontrollieren und überprüfen soll, ob beitrittswillige Staaten (z.B. die Kandidaten aus Osteuropa) reif für die Aufnahme sind.
Das Prinzip der Besitzstandswahrung gilt aber längst nicht nur für Schengen. Auch in anderen Bereichen der innen- und justizpolitischen Kooperation wird das Erreichte jeweils in einem Acquis fixiert, hinter den niemand zurückfallen darf. Angesichts der Tatsache, dass Verhandlungen zwischen 15 Staaten mit unterschiedlichen rechtlichen und politischen Traditionen mühsam sind, mag das Bedürfnis nach einer solchen Fixierung von Verhandlungsergebnissen nachvollziehbar sein. Die Konsequenz daraus ist allerdings, dass sich die Innen- und Justizpolitik nur in die bereits vorgegebene Richtung entwickeln kann.
Dieser Richtung passt sich leider auch das EP immer weiter an. Ein Bericht wie der von Heinz-Oskar Vetter, der 1987 die Verankerung eines umfassenden Grundrechts auf Asyl in der gesamten damaligen Europäischen Gemeinschaft forderte, scheint heute ausgeschlossen.[2] Je mehr Kompetenzen das Parlament erhält, desto eher sind vor allem die größeren nationalen Mutterparteien daran interessiert, „zuverlässige“ Abgeordnete in das Parlament zu schicken. Die polizeipolitische Maschine bremsen oder gar einen demokratischen Rückwärtsgang einlegen werden solche Abgeordnete nicht.