von Wolfgang Kaleck
Am 29. und 30. Juni 2001 haben sich Anwältinnen und Anwälte aus acht west- und südeuropäischen Anwaltsvereinigungen, die in dem Dachverband Europäische Demokratische Anwälte (EDA) zusammengeschlossen sind, im Preußischen Landtag in Berlin versammelt, um auf einem Kolloquium über die am 7.12.2000 feierlich proklamierte Europäische Grundrechtecharta zu diskutieren.
Den Grundsatzvortrag hielt der Politologe, Bürgerrechtler und Demokratieforscher Prof. Wolf-Dieter Narr von der Freien Universität in Berlin. Unter dem Titel „Grundrechtecharta: Auf dem Weg zu einer Verfassung Europas?“ betonte er, dass er nach 1945 ein begeisterter Europäer war, für den Europa den „endgültigen Abschied vom Kriegsblut triefenden Nationalstaat“ und „von den unsäglichen nationalstaatlich herrschaftlich bornierten Konflikten“ bedeutete. Er begreife Europa nach wie vor als unabgegoltene Chance jenseits aller nationalistischen Bornierungen. Die EU-Grundrechtecharta sei jedoch ein Versuch, Grundrechte ohne demokratisches Verfahren zu suchen. Die mangelnde Rechtsgeltung der Charta sei problematisch. Die Formulierungen der einzelnen Grundrechte seien kritikwürdig. Insgesamt sei die Charta dem „Haupt der parlamentarisch ein wenig ergänzten europäischen Exekutive“ entsprungen. Er wies darauf hin, dass Europa bereits eine Realverfassung habe, welche zum einen aus den Spitzeninstitutionen der EU (Kommission, Ministerrat, Europäisches Parlament und Gerichtshof) bestehe. Vor allem aber sei die Europäische Union von einer global orientierten, konzentrierten europäischen Ökonomie dominiert. Deswegen müsste das Verhältnis europäischer Politik, europäischer Demokratie, europäischer Menschenrechte und europäischer Ökonomie erörtert werden. Erst danach könne man das Verhältnis der europäischen Realverfassung zur geschriebenen Verfassung diskutieren. Er wies darauf hin, dass unsere aktuellen Vorstellungskräfte und institutionellen Phantasien für die angemessene Organisation von Politik und Gesellschaft gegenüber denen historischer Vorbilder wie Locke, Montesquieu und de Toqueville bisher unterentwickelt seien.
Aus dieser Kritik folgerte er, dass eine europäische Verfassung sich nicht an dem vielfach überholten Muster eines modernen Nationalstaates ausrichten könne. Eine europäische Verfassung könne nur eine Rahmenverfassung sein, die für eine Vielfalt von Verfassungstraditionen und Kulturen offen bleiben müsse. Es müsse zwar auf der einen Seite Rechtssicherheit für die BürgerInnen geben. Auf der anderen Seite aber käme es darauf an, unterhalb dieser Verfassung demokratische Zustände zu schaffen. Dies beginne bei einer funktionierenden Gemeindedemokratie und müsse aufsteigen bis zur europäischen Ebene. Mit diesem Vortrag steckte er einen weit über das eigentliche Thema der Europäischen Grundrechtecharta hinausgehenden Rahmen ab.
Unabhängig von der Tagung in Berlin, aber durchaus passend, proklamierte Jürgen Habermas in „Die Zeit“ vom 28.6.2001 „Warum braucht Europa eine Verfassung?“ ebenfalls das Projekt eines politischen Gemeinwesens Europa. Er sieht dies an drei Voraussetzungen geknüpft: „erstens die Notwendigkeit einer europäischen Bürgergesellschaft, zweitens die Konstruktion einer europaweiten politischen Öffentlichkeit, und drittens die Schaffung einer politischen Kultur, die von allen EU-Bürgern geteilt werden kann“. Die Debatte unter Juristen auf dem Kolloquium sollte die Vorgaben von Narr und Habermas erfüllen. Zunächst wurden einzelne Kapitel der Grundrechtecharta kritisch gewürdigt und zur Frage Stellung genommen, ob die Grundrechtecharta für die jeweils untersuchten Bürger- und Menschenrechte einen Fortschritt bedeute.
Sowohl in den nachfolgenden Referaten als auch in den Diskussionsbeiträgen dazu war vor allen Dingen auffallend, dass die Grundrechtecharta von den in europäischen Institutionen tätigen Referenten als Fortschritt und als Chance bewertet wurde. Die Diskussionen unter den Anwältinnen und Anwälten verlief entlang einer imaginären Grenze zwischen Italienern, Franzosen und teilweise Belgiern auf der einen und vor allem Deutschen und Spaniern auf der anderen Seite. Erstere begriffen die Charta als Chance und hatten schon trotz der Rechtsunverbindlichkeit der Charta versucht, diese in einzelnen Verfahren zur Anwendung zu bringen. Letztere verwiesen auf eine grundsätzliche Kritik und stellten vor allem immer wieder die Frage, ob eine Konzentration auf die Grundrechtecharta nicht die teilweise darüber hinausgehende europäische Menschenrechtskonvention schwäche.
Soziale Grundrechte, justizielle Rechte, Flüchtlingsrechte
Der Richter am Berufungsgericht Potenza/Italien Antonio Manna beschrieb die Sicht der vor allem arbeitsrechtlich orientierten italienischen Kollegen zum Thema Soziale Grundrechte, insbesondere Arbeitnehmerrechte. Trotz vereinzelter Kritik begrüßte er die Aufnahme des Streikrechts in die Charta. Er wies auf die seiner Meinung nach bedeutsame Tatsache hin, dass Grundrechte der ersten, zweiten und dritten Generation in der Charta gleichgestellt seien. Dies bedeute insbesondere bei den sozialen Grundrechten einen Fortschritt, da diese immer unter einem Legitimations- und Geltungsdefizit zu leiden gehabt hätten.
Alles in allem sah er die Charta als eine positive europäische Entwicklung an und schlug zahlreiche Möglichkeiten vor, wie Arbeitsrechtler diese bereits im aktuellen Kontext einsetzen könnten. Hinter der Verankerung der sozialen Grundrechte stehe der Grundsatz der sozial nachhaltigen Entwicklung. Weiterhin sei es positiv zu vermerken, dass der Status des Arbeitnehmers in der Charta verankert sei.
Zu einem gegenteiligen Ergebnis kam Prof. Felix Herzog von der Humboldt-Universität in Berlin, der zum Thema Bürgerrechte und justizielle Rechte sprach. Er war der Auffassung, dass die essentiellen Grundrechte in der Europäischen Menschenrechtskonvention gut aufgehoben und durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gut integriert worden seien. In der Innen- und Kriminalpolitik in Europa dominiere allerdings die Sicherheit. Dieses Spannungsverhältnis zwischen europäischen Grundrechten auf der einen und Sicherheit auf der anderen Seite werde nicht rational aufgelöst, sondern einseitig für die Sicherheit entschieden. Dies sei erkennbar am Schengener Abkommen, an der weitgehend unkontrolliert arbeitenden EU-Polizeibehörde Europol, an Eurojust sowie an dem auf Effektivität zugeschnittenen Vorschlag eines europäischen Strafgesetzbuches Corpus Juris. Insgesamt beschreibe jedoch Kapitel 6 der Charta zumindest einen Kern justizieller Grundrechte. Dieser Kern stelle zwar viel Altbekanntes und Selbstverständliches dar, böte jedoch genügend freiheitlich-liberale Substanz, um die Grundlage der Begrenzung von Macht zu bilden. Bei aller Betonung der sozialen Grundrechte dürften die klassischen Abwehrrechte nicht vernachlässigt werden. Es müsse auf europäischer Ebene ein „Verbrechensbekämpfungsbegrenzungsrecht“ geschaffen werden.
Am kontroversesten wurde das Referat von Alain Brunn von der EU-Kommission in Brüssel diskutiert. Er sollte über Grund- und Menschenrechte von Flüchtlingen sprechen. Er verteidigte dabei zunächst den Artikel 18 der Charta, in dem bezüglich des Rechts auf Asyl auf die Genfer Flüchtlingskonvention verwiesen wird. Er beschrieb diesen Artikel als neutrale Vorschrift, die an und für sich weder positiv noch negativ sei und auch nicht die Diskussion um die Genfer Konvention wiederspiegele. Die Grundrechtecharta habe jedoch nur die Aufgabe, bestehende Rechte zu kodifizieren und nicht neue Rechte zu schaffen. Mit dieser prinzipiellen Sichtweise reagierte er auf die zahlreichen Einwände von Ausländer- und FlüchtlingsanwältInnen aus dem Publikum, die eine Vielzahl von Lücken gerade der nationalstaatlichen Gesetzgebung und Praxis in der Bundesrepublik Deutschland kritisierten. Er wies allerdings auch auf eine sehr entscheidende Perspektive hin, dass nämlich mit der Verankerung des Rechtes auf Bildung und des Rechtes auf Arbeit für jede Person in den Artikeln 14 und 15 ein Spannungsverhältnis zu entsprechenden Einschränkungen in der nationalstaatlichen Gesetzgebung entstehe, das es produktiv zu nutzen gelte.
Grundrechtecharta und Menschenrechtskonvention
Der Nachmittagsblock begann mit einem ausführlichen Vortrag der belgischen Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, Françoise Tulkens. Auch sie beschrieb die Europäische Grundrechtecharta als prinzipiellen Fortschritt auf europäischer Ebene. Sie analysierte ausführlich die Charta und beschrieb das Verhältnis zur Europäischen Menschenrechtskonvention. In ihrem Vortrag und auch in weiteren Diskussionsbeiträgen aus dem Publikum wurde dabei immer wieder die Frage aufgeworfen, warum die Europäische Union nicht der Europäischen Menschenrechtskonvention beitrete. Aufgrund eines seinerzeit in Auftrag gegebenen Rechtsgutachtens war lange Zeit die Auffassung verbreitet, dass ein solcher Beitritt nicht möglich sei, ohne einerseits die Konvention und anderseits die europäischen Verträge zu ändern. Selbst wenn dies jedoch so erforderlich sein sollte, stelle sich die Frage, ob nicht der Ausbau Europas zu einem auch politischen Gemeinwesen genau dies erfordere.
Das Optimale erreicht?
Silvia-Yvonne Kaufmann aus Berlin beschrieb anschließend ihre Arbeit als Mitglied des Konvents zur Ausarbeitung der Europäischen Grundrechtecharta. Sie ist Mitglied des Europäischen Parlaments und gehört der PDS an. Sie vertrat den linken und sozialdemokratischen Flügel des Konventes und dessen Auffassung, dass zwar mehr an sozialen Rechten, mehr Flüchtlingsrechte und anderes wünschenswert gewesen wäre. Die europäische Realität sehe jedoch anders aus, und angesichts dieser Realität sei die Grundrechtecharta in ihrer aktuellen Fassung durchaus begrüßenswert. Sie wies darauf hin, dass bei den Diskussionen im Konvent sowohl nationale als auch europäische Parlamentarier mit Vertretern der verschiedenen europäischen Institutionen gemeinsam diskutiert hätten. Im Gegensatz zu sonstigen Entscheidungsprozessen auf europäischer Ebene sei die Öffentlichkeit soweit wie möglich beteiligt worden. Man habe die verschiedenen Entwürfe und Zwischenfassungen der Charta jeweils ins Internet gestellt und ferner viele Nichtregierungsorganisationen in die Diskussionen einbezogen.
Sie beschrieb noch einmal ausführlich, welche zahlreichen, teilweise absurden Widerstände der verschiedenen politischen Lager und Nationalstaaten es gegen die Schaffung einer Grundrechtecharta prinzipiell gegeben hatte. So habe man das Verbot der Todesstrafe gegen den vehementen Widerstand des spanischen Vertreters durchsetzen müssen, der darauf hingewiesen hatte, dass in der Militärgerichtsbarkeit in Spanien die Todesstrafe ausgesprochen werden könne. Hier wie bei der Verankerung des Asylgrundrechtes sei man über den eigentlichen Auftrag an den Konvent hinausgegangen: Denn im Prinzip sollten die Chartagrundrechte nur für die europäischen Institutionen gelten; da sowohl das Asylrecht als auch die Strafgerichtsrechtsprechung nationale Domänen seien, könne man zufrieden sein, dass diese beiden grundlegenden Rechte in der Charta verankert worden seien.
Ebenso wie die im Anschluss an sie sprechende italienische Richterin Amelia Torrice aus Rom, die im übrigen auch die fortschrittliche europäische Richtervereinigung MEDEL vertrat, empfand sie es als beachtlichen Fortschritt, dass soziale Grundrechte als gleichberechtigte Rechte in der Charta verankert seien. Man habe gerade hier gegen den vehementen Widerstand der Engländer und auch eines Teiles der deutschen Vertreter kämpfen müssen.
Die Organisatoren der Tagung vom RAV hatten sich ein hohes Ziel gesteckt: Am 29. und 30. Juni 2001 sollte anlässlich der Diskussion um die Grundrechtecharta ein Stück europäischer Öffentlichkeit hergestellt werden. Die Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit sei überhaupt die Grundlage für die Initiierung eines demokratischen Prozesses, aus dem eine Verfassung mit starken Grundrechtsgarantien hervorgehen könne. Der Verlauf der Diskussionen bewies einmal mehr, dass die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Diskussionskultur selbst in kleineren Berufsgruppen wie den Rechtsanwälten und selbst unter politisch nahestehenden Rechtsanwälten verschiedener Nationen äußerst schwierig ist. Die eher sozialdemokratisch und sozialistisch orientierten Franzosen und Italiener wussten zwar die grundsätzliche Kritik an der Charta durchaus zu würdigen, propagierten aber den offensiven Gebrauch der Charta und ihre Anwendung auf allen rechtlichen Ebenen.
Die Veranstalter des RAV begrüßten zwar ebenfalls die Proklamationen von Grundrechten als Beginn einer europäischen Verfassungsdiskussion. Das Primat des Politischen sei in der Europäischen Union gegenüber dem bisher herrschenden Primat der Ökonomie durchzusetzen. Demokratie, soziale Gerechtigkeit und wirksame Grund- und Bürgerrechte müssten auf europäischer Ebene verwirklicht werden. Dabei könne eine europäische Verfassung als Instrument dienen. Kernstück einer solchen Verfassung müsse ein ausformulierter Grundrechtekatalog sein.
Allerdings sei eine Verfassung nur wirksam, wenn sie auf einer tragfähigen gesellschaftlichen Substanz beruhe. Demokratie sei auf europäischer Ebene nur durch eine politische und gesellschaftliche Dynamik zu schaffen. Eine Verfassung mit einem Grundrechtekatalog und einem noch zu schaffenden institutionellen Teil könne in einem solchen Prozess eine wichtige Rolle spielen, ihn aber nicht ganz ersetzen.
Auf europäischer Ebene müssten das Gewaltenteilungs- und das Demokratieprinzip uneingeschränkt gelten. In den Konvent seien zahlreiche Vertreter der Exekutive entsandt worden. Eine Verfassung dürfe aber nicht unter maßgeblicher Beteiligung der Exekutive verabschiedet werden, sie bedürfe einer Legitimation durch den Souverän.
Das Europa der Wirtschafts- und Währungsunion funktioniere ebenso wie die europäische Exekutive und das Schengener Grenzregime zur Abwehr von Flüchtlingen. Es fehle daher eine institutionelle durchgreifende parlamentarische Kontrolle ebenso wie eine flächendeckende gerichtliche Kontrolle. Ein rechtlich verbindlicher Grundrechtekatalog mit Individualrechtsschutz könne hier in Ansätzen Hilfe schaffen. Daher müsse die Grundrechtecharta als Herzstück eines künftigen Europas unmittelbare rechtliche Verbindlichkeit für alle europäischen Institutionen haben. Jede Bürgerin und jeder Bürger innerhalb der EU müsse das Recht haben, Verletzungen wirksam einzuklagen.
Wolfgang Kaleck ist Rechtsanwalt in Berlin und Bundesvorsitzender des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV).
Avocats Européens Démocrates (AED) – Europäische Demokratische Rechtsanwälte (EDA)Seit 1988 sind bei den Europäischen Demokratischen Rechtsanwälten (EDA) Anwaltvereinigungen aus den Niederlanden, Großbritannien, Spanien, Italien, Belgien, Frankreich und der BRD zusammengeschlossen. Die EDA haben sich zur Aufgabe gemacht, auf nationaler und europäischer Ebene die Rechtsentwicklung zugunsten betroffener BürgerInnen zu beeinflussen und die Grund- und Freiheitsrechte schützen zu helfen. In den vergangen Jahren lag ihr Augenmerk insbesondere auf der aktuellen europäischen Polizeirechtsentwicklung, den Konzepten eines europäischen Straf- und Strafverfahrensrechts (Corpus Juris) und der Kritik von Kooperationsmodellen wie dem Europäischen Justiziellen Netz (EJN) und Eurojust.
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