von Andrea Böhm
Die Insolvenz von Enron im Dezember 2001 – bis dahin die größte Pleite in der US-Firmengeschichte – hinterließ Schulden von 40 Milliarden Dollar.[1] Sie markierte den Auftakt zu einer beispiellosen Serie von Bilanz- und Betrugsskandalen in großen US-Unternehmen. Die Aufdeckung der Machenschaften, die zum Zusammenbruch des siebtgrößten US-Unternehmens geführt hatten, zog dramatische Kursverluste an den Weltbörsen nach sich.
Enron war kein „Traditionsunternehmen“. Der texanische Konzern entstand erst 1985 aus der Fusion zweier regionaler Gasversorger, der Houston Natural Gas und der InterNorth. Zunächst vor allem als Betreiber von Erdgaspipelines tätig, rückte Enron unter der Führung von Kenneth Lay zum größten Stromhändler der USA und größten Energiehändler der Welt mit einem Jahresumsatz von 101 Milliarden Dollar auf. Der Hauptteil der späteren Enron-Geschäfte war zur Gründungszeit des Unternehmens noch nicht möglich. Die Basis für den Aufstieg zum transnationalen Energiekonzern wurde erst in den 90er Jahren mit der weltweiten Liberalisierung der Energiemärkte, der Privatisierung der Strom- und Wasserversorgung in vielen Ländern und der versäumten Regulierung bestimmter Finanzderivate geschaffen. Der „Global Player“ mit Tochterunternehmen in über fünfzig Staaten baute und betrieb Erdgasleitungen und Kraftwerke in Argentinien, Brasilien, Indien und Mozambique. Der Hauptteil der Geschäftsaktivitäten bestand jedoch im spekulativen Handel mit Rohstoffen, Datenübertragungskapazitäten und vor allem mit Energie, genauer gesagt: mit deren Derivaten.
Enron kreierte immer neue Derivate und offerierte auf seiner Internet-Handelsplattform nicht nur Terminkontrakte auf Gas und Strom, sondern selbst auf das Wetter im kommenden Sommer.[2] Derivate basieren auf Termingeschäften. Bei einem Termingeschäft wird gewissermaßen ein Kaufvertrag im Voraus abgeschlossen, indem sich zwei Parteien verpflichten, bestimmte Mengen eines Produkts (z.B. einer Währung, einer Aktie oder eines Rohstoffs) zu einem bei Vertragsschluss festgelegten Preis zu einem bestimmten Termin zu kaufen bzw. zu verkaufen. Dies kann bereits der nächste Tag sein, aber auch erst ein beliebiger Zeitpunkt in fünf oder zehn Jahren. Werden die Ansprüche und Verpflichtungen aus Termingeschäften in Form eines Wertpapiers wie Anleihen oder Aktien an der Börse gehandelt, spricht man von Derivaten. Derivate bieten exorbitante Gewinnmöglichkeiten, haben aber auch ein extrem hohes Verlustrisiko. Schneller Reichtum ist damit ebenso möglich wie schneller Ruin.
Höhenflug und tiefer Fall
Die hochriskanten Derivatgeschäfte des Konzerns wurden von den Aktienmärkten mit immer neuen Höchstkursen honoriert. Während des New-Economy-Booms in der zweiten Hälfte der 90er Jahre, als Fabriken und andere physische Produktionsanlagen als hoffnungslos veraltet galten, entwickelte sich Enron zu einem Liebling der Wall Street. Der Börsenwert des Unternehmens stieg 1998 um 40 %, 1999 um 58 % und im Jahr 2000 nochmals um 89 %. Enron wurde als Musterunternehmen gefeiert, dessen Management sich dem Grundprinzip des Shareholder Value, der schnellen Gewinnmaximierung verschrieben hatte. Enron-Manager waren geschätzte Teilnehmer des World Economic Forum in Davos. Das Wirtschaftsmagazin Fortune kürte Enron gar fünf Mal nacheinander zum „innovativsten Unternehmen Amerikas“.[3]
Nach der milliardenschweren Pleite des einstigen Börsenstars ergaben die Anhörungen mehrerer Untersuchungsausschüsse und die Ermittlungen des US-amerikanischen Justizministeriums, dass Enrons Manager hauptsächlich beim Frisieren der Unternehmensbilanzen bemerkenswert innovationsfreudig gewesen waren. Um den Aktienkurs hochzuhalten, hatten sie im Zusammenspiel mit der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Arthur Andersen und führenden US-Investmentbanken über Jahre einen gigantischen Schuldenberg außerhalb der Bilanz versteckt. Zu diesem Zweck war ein weit verzweigtes Netz von über 3.500 „Partnerschaften“ gegründet worden.[4] Eigentümer der vorgeblich unabhängigen Unternehmen, in Wahrheit meist Briefkastenfirmen mit Sitz in Steueroasen wie den Cayman-Islands, waren Enron-Manager, befreundete Banker und Geschäftspartner, denen ihr Engagement Traumrenditen sicherte. Diese Unternehmen, deren Kapital vornehmlich aus Enron-Aktien bestand, schlossen mit Enron Derivatgeschäfte ab und versteckten Verluste und Gewinne, die dann in den Enron-Bilanzen nicht auftauchten. Auf diese Weise konnte Enron von 1996 bis 2000 einen Vorsteuergewinn von insgesamt 1,79 Milliarden Dollar ausweisen, musste jedoch nur in einem Jahr, 1997, Bundessteuern (17 Millionen Dollar) entrichten.[5]
Ein weiteres Enron-Manöver zur Verschleierung der realen Verschuldung war die Tarnung von Kreditaufnahmen als Handelsgeschäfte. Dies geschah unter aktiver Mithilfe der Gläubigerbanken, die so höhere Gewinne erzielen wollten. Die beiden größten US-Finanzinstitute Citigroup und J.P. Morgan Chase stellten Enron und zehn weiteren Unternehmen Kredite mittels verschleierter Rohstoff-Geschäfte bereit. Wie die Anhörungen des US-Senats ergaben, hatten beide Geldhäuser über Tochterfirmen ein kompliziertes System von Transaktionen entwickelt, das es Enron ermöglichte, Kredite von 8,5 Milliarden Dollar als Umsätze zu buchen.[6] Um die Umsätze zusätzlich aufzublähen, tätigte Enron überdies im großen Stil sogenannte „Roundtrip“-Transaktionen mit Tochterfirmen, bei denen wechselseitige Lieferungen von Strom oder Gas im gleichen Umfang abgewickelt wurden. Tatsächlich wurde bei diesen Verkäufen und sofortigen Rückkäufen nie etwas geliefert.[7]
Derartige Scheingeschäfte sollen auch eine Rolle bei der schweren Energiekrise im US-Bundesstaat Kalifornien vor zwei Jahren gespielt haben. Ermittlungen zufolge hatten Enron und andere Unternehmen die Strompreise durch fingierte Käufe und Verkäufe gezielt in die Höhe getrieben. Die Preistreiberei mit Hilfe von Derivatgeschäften war begleitet von vorgetäuschten Engpässen im kalifornischen Stromnetz, in deren Folge allein im Februar 2001 in ganz Kalifornien 32 Mal der Strom abgeschaltet werden musste. So exportierte Enron den für Kalifornien bestimmten Strom – auf dem Papier – in andere Bundesstaaten, um ihn dann zu höheren Preisen wieder einzuführen und verkaufte sogar Strom, über den das Unternehmen gar nicht verfügte. Die „Megawatt-Wäsche“ brachte Enron fette Gewinne, während die Stromrechnungen der kalifornischen Haushalte in ungeahnte Höhen schnellten und der Staat zusätzliche Milliarden aufwenden musste, um die vorsätzlich herbeigeführte Notlage zu beheben. Die Deregulierung des kalifornischen Energiemarktes im Jahre 1998 hatte die Preismanipulationen erst möglich gemacht.[8]
Für heftige Diskussionen in der US-Öffentlichkeit sorgten auch die engen Beziehungen führender Enron-Manager zur Bush-Administration. Enron war mit 550.000 Dollar der größte Einzelspender von George W. Bushs Wahlkampagne. Dieser hatte bereits als Gouverneur von Texas dem von seinem Duzfreund Kenneth Lay („Kenny Boy“) geführten Unternehmen neue Märkte eröffnet, indem er ein Gesetz zur Deregulierung des texanischen Energiemarktes unterzeichnete. Enron unterstützte auch den Senatswahlkampf von Justizminister John Ashcroft, der sich deshalb aus den späteren Ermittlungen seines Ministeriums gegen den Konzern zurückziehen musste.[9] Lay konnte als einziger Manager der Stromindustrie ein Zweiergespräch mit Vizepräsident Richard Cheney über dessen Arbeiten an der Energiegesetzgebung führen und beeinflusste auch die Auswahl der Mitarbeiter der staatlichen Stromregulierungsbehörde.[10] Die Justiz sah dennoch keine Anhaltspunkte für eine unrechtmäßige Einwirkung auf die Energie- und Deregulierungspolitik der Regierung.
Die Enron-Manager wurden auch für ihre dubiosen Aktiengeschäfte nicht zur Verantwortung gezogen, da wie in ähnlich gelagerten Fällen der erforderliche detaillierte Nachweis des Insiderhandels kaum zu erbringen war. Kurz vor dem Kollaps hatten 29 Topmanager des Unternehmens ihre Aktienpakete abgestoßen und auf diese Weise insgesamt 1,1 Milliarden Dollar eingenommen. Noch zwei Monate vor dem Insolvenzantrag hatte Firmenchef Lay seine Angestellten ausdrücklich zum Kauf von Enron-Aktien ermuntert, was ihn selbst jedoch nicht davon abhielt, gleichzeitig den Großteil seiner eigenen Anteile zu verkaufen.[11] Nachdem die Schieflage des Unternehmens im Oktober 2001 offenkundig geworden war, verhängte die Firmenleitung für alle Angestellten mit Ausnahme des obersten Managements ein fast einmonatiges Verkaufsverbot von Firmenaktien. In dieser Zeit fiel der Kurs der Enron-Aktie von immerhin noch 32 auf unter einen Dollar (nach einem Höchstkurs von 100 Dollar im Sommer 2000). Da der größte Teil der Pensionskassenguthaben in Firmenaktien angelegt war, verloren 12.000 der 21.000 Mitarbeiter nicht nur ihren Arbeitsplatz, sondern auch ihre Alterssicherung.[12]
Unbeachtete Verbrechen
Während die meisten US-amerikanischen Medien mit dem Namen Enron in erster Linie suspekte Bilanzierungspraktiken in Zusammenhang bringen, wird die zweifelhafte Rolle des Energiekonzerns beim Bau des Gaskraftwerks Dabhol im indischen Bundesstaat Maharashtra weitgehend ausgeblendet. Die Weltbank hatte das Projekt bereits 1993, unmittelbar nach der Einigung zwischen dem von Enron angeführten US-Firmenkonsortium und der Regierung des Bundesstaates, für unrentabel erklärt und jegliche Fördergelder versagt.[13] In Indien sah sich der Konzern daher von Anfang an massiven Bestechungsvorwürfen ausgesetzt.[14] Nach dem Wahlsieg der Opposition in Maharashtra 1995 wurde der umstrittene Vertrag umgehend annulliert. Dank der Lobbyarbeit des damaligen US-Botschafters in Indien, Frank Wisner, wurde 1996 ein neuer, kaum abgeänderter Vertrag unterzeichnet, wenig später entlohnte ihn Enron dafür mit einem lukrativen Job.[15] Das US-Firmenkonsortium bezahlte – Menschenrechtsgruppen zufolge – auch die Polizei, die den Protest der Anwohner gewaltsam erstickte. Phase I des Kraftwerks ging 1999 ans Netz und produzierte Strom zu einem Preis, der weit über dem indischen Durchschnitt lag. Im Sommer 2001 wurden die Bauarbeiten gestoppt, nachdem die Regierung des indischen Bundesstaates bekannt gegeben hatte, dass die Abnahmeverträge mit Enron aus finanziellen Gründen nicht mehr eingehalten werden könnten. Enron zog sich daraufhin ganz aus dem Projekt zurück und forderte im Rahmen des Konkursantrages von der US-Organisation zur Förderung von Auslandsinvestitionen 200 Millionen Dollar aus Steuermitteln als Kompensation für die Verluste in Indien. Beträchtliche Entschädigungszahlungen wird in jedem Fall auch der indische Staat leisten müssen. Die US-Behörden haben bisher keinerlei Interesse an einer Strafverfolgung der verantwortlichen Enron-Manager wegen der Bestechung indischer Amtsträger oder der aktiven Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen gezeigt, die Bush-Regierung verwendete sich stattdessen sogar direkt in Indien für die Zahlung ausstehender Beträge an Enron.[16]
Wegen des Verdachts auf Bilanzbetrug, Geldwäsche, Verschwörung zur persönlichen Bereicherung auf Kosten von Enron und den Aktionären sowie Behinderung der Justiz wurde hingegen im November 2002 Anklage gegen Enrons ehemaligen Finanzchef Andrew Fastow erhoben. Zuvor hatte sich sein Chefbuchhalter Michael Kopper vor Gericht wegen Geldwäsche und Verschwörung zum Betrug schuldig bekannt. Weder der ehemalige Unternehmenschef Kenneth Lay noch Jeffrey Skilling, der 2001 für nur sechs Monate den Chefposten innehatte, sind bisher angeklagt worden, auch wenn ähnliche Verfahren in Vorbereitung sein sollen. Lay und Skilling behaupten beide, die illegalen Bilanztransaktionen nicht bemerkt zu haben.[17] Ob sie damit durchkommen, ist noch ungewiss. Derzeit hat es jedoch den Anschein, dass die Rolle des Sündenbocks Finanzvorstand Fastow zugedacht worden ist. Die Justiz sieht ihn als Drahtzieher jenes komplexen Netzes von Partnerschaften, mit dessen Hilfe die Bilanzen geschönt wurden.[18] Diese Vorgehensweise ist freilich keineswegs von vornherein gesetzwidrig, sondern bewegt sich innerhalb der Grenzen legaler Bilanzpolitik. Fastow kann offensichtlich nur deshalb belangt werden, weil er die „kreative Bilanzierung“ weiter als üblich getrieben und sich dabei auch illegal bereichert hat. Nach den US-Bilanzierungsstandards, den „Generally Accepted Accounting Principles“ (US-GAAP), ist die Gründung von Partnerschaften eine legale Möglichkeit, finanzielle Risiken zu separieren, im Klartext: die Schuldenlage und die tatsächliche Gewinnsituation zu verbergen. Ihre Rechtsform heißt „Special Purpose Entity“. Nicht nur für US-Firmen, sondern auch für europäische Unternehmen, deren Aktien an US-amerikanischen Börsenplätzen gehandelt werden, ist die Bilanzierung nach US-GAAP Pflicht. Anders als die Bilanzierungsnormen nach deutschem Handelsgesetzbuch (HGB) sind die US-GAAP keine allgemein gefassten Rechtsvorschriften, sondern basieren auf Einzelfällen. Dies hat zu einer sehr komplexen und kaum mehr überschaubaren Anzahl von Detailregelungen geführt, die es dem Management ermöglicht, Bilanzen vorzulegen, die zwar pro forma dem Wortlaut einzelner Normen, jedoch nicht der zugrunde liegenden Intention entsprechen.
Die Zweifel, ob im Fall Enron überhaupt gegen die Regeln der US-GAAP verstoßen worden war, zeigt der gerichtliche Umgang mit dem Wirtschaftsprüfungsunternehmen Arthur Andersen, das Enrons Bilanzen testierte. Andersen hatte bei den Bilanzmanipulationen tatkräftig mitgeholfen und auf diese Weise neben den Prüfungsgebühren auch noch ein beträchtliches Beratungshonorar kassiert. Das einst renommierte Unternehmen ist mittlerweile liquidiert, die Reste wurden weltweit von der Konkurrenz aufgekauft. Im Oktober 2002 hatte ein texanisches Gericht Andersen wegen Behinderung der Justiz zu einer Geldbuße von 500.000 Dollar verurteilt, weil die Wirtschaftsprüfer kurz nach dem Enron-Konkurs im großen Stil Beweismaterial vernichtet hatten.[19] Andersen wurde jedoch nicht wegen Betruges verurteilt. Das Gericht versäumte es zu überprüfen, ob das Unternehmen überhaupt gegen die Bilanzierungsregeln verstoßen hatte. Diese Feststellung hätte weitreichende Konsequenzen gehabt, denn im Prinzip hat Andersen nicht anders gehandelt als andere lizenzierte Wirtschaftsprüfungsunternehmen.
Das US-amerikanische Rechnungslegungssystem, das vor dem Enron-Crash als eines der weltweit strengsten galt, erlaubt die wachsende Diskrepanz zwischen dem realen und dem in den Bilanzen ausgewiesenen Unternehmenswert. Die ohnehin beträchtlichen Spielräume werden von vielen Unternehmen mit Hilfe unterschiedlichster Finanzgeschäfte noch weiter ausgedehnt – ohne gegen geltendes Recht zu verstoßen. Durch die fortgesetzte Liberalisierung sind die wesentlichen Finanzgeschäfte weder reguliert noch werden sie von der US-Börsenaufsicht (SEC) überwacht. Damit haben auch die strengen Regeln der SEC, die nach dem Börsencrash 1929 ins Leben gerufen wurde, ihre Wirkung inzwischen weitgehend verloren. In den Steueroasen geht die Zahl der „Special Purpose Entities“ mittlerweile in die Hunderttausende. Alle großen Wirtschaftsprüfungsunternehmen unterhalten dort ebenfalls Geschäftsstellen, wo sie nicht der US-Börsenaufsicht unterstehen.
Gesetzesverschärfungen als Ablenkungsmanöver
Jene auf den ersten Blick zutreffenden Medienkommentare, Enron oder die im Juli 2002 zusammengebrochene Telefongesellschaft WorldCom stünden für die Ausbreitung korrupter Machenschaften in der legalen Wirtschaft und einen dramatischen Sittenverfall beim Topmanagement, erfassen deshalb nicht das eigentliche Problem. Die Konzentration auf die offensichtlichen Rechtsbrüche lenkt davon ab, dass viele fragwürdige Praktiken weder strafbar noch ungewöhnlich sind und auch keine Fehltritte einer ausschließlich von Gier geleiteten Managerelite darstellen. Sie sind vielmehr das zwangsläufige Ergebnis der fortwährenden Deregulierungen in den letzten zwanzig Jahren und einer Shareholder-Value-Ideologie, bei der der Aktienwert das alleinige Kriterium für den Unternehmenserfolg ist.
In den USA begannen die Deregulierungen bereits Mitte der 70er Jahre. Zu diesem Zeitpunkt kennzeichnete eine ausgeprägte Wachstumsschwäche die amerikanische Wirtschaft, als deren Hauptursache eine zu restriktive staatliche Regulierung vieler Wirtschaftsbereiche galt. In den 80er Jahren stand der Abbau vorhandener Beschränkungen im Mittelpunkt der „Reaganomics“. Die Clinton-Administration führte die Deregulierungspolitik in den 90er Jahren fort. In zahlreichen Industrieländern vollzogen sich etwa ab Mitte der 80er Jahre ähnliche Entwicklungen. Der Grundgedanke der Deregulierungspolitik lautet, dass der Markt rascher und innovativer als schwerfällige staatliche Behörden auf Veränderungen reagiere. Staatliche Eingriffe in den Wirtschaftskreislauf seien daher auf ein Minimum zu reduzieren, der Markt müsse weitgehend sich selbst überlassen werden. Dies steigere die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft und letztlich auch den gesellschaftlichen Wohlstand, weil die Unternehmen durch die Entwicklung neuer Produkte versuchen würden, ihren Gewinn zu maximieren, ohne durch unnötige Regulierungen oder Zulassungsbeschränkungen daran gehindert zu werden. Soweit die Theorie. In der Realität bedeutet Deregulierung auch den Abbau bewährter Überwachungs- und Kontrollmechanismen und damit die Eröffnung breiter Entfaltungsmöglichkeiten für die verschiedensten Marktmanipulationen. Die Shareholder-Value-Ideologie, die im Gefolge der Deregulierung zur dominierenden Geschäftsphilosophie börsennotierter US-Unternehmen geworden war, bewirkte Druck und Anreiz zugleich, die neu geschaffenen, quasi rechtsfreien Räume auch auszunutzen. Einzige Aufgabe des Managements ist es demnach, so schnell und so viel wie möglich für die Aktionäre zu verdienen. Auf dem Höhepunkt des Wirtschaftsbooms Ende der 90er hieß das eine Rendite von mindestens 15 %, wenn das Unternehmen nicht am Aktienmarkt abgestraft werden wollte. Angesichts üppiger Aktienoptionspläne haben die Firmenlenker auch ein eigenes Interesse daran, den Aktienkurs so hoch wie möglich zu treiben.
Der im Juli 2002 von Präsident Bush unterzeichnete Sarbanes-Oxley-Act, der als größtes Reformwerk des amerikanischen Kapitalismus seit 1933 gefeiert wurde, vermag hier keine Abhilfe zu schaffen. Mit diesem Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität wurden weder Anläufe unternommen, bestimmte Finanzgeschäfte zu regulieren, noch die breite Grauzone zwischen legaler Bilanzkosmetik und illegaler Bilanzfälschung zu verkleinern. Dies war scheinbar auch gar nicht beabsichtigt. Der Sarbanes-Oxley-Act sollte ebenso wie die medienträchtige Verhaftung einiger Skandalmanager lediglich ein energisches Vorgehen der Behörden demonstrieren und auf diese Weise das angeschlagene Vertrauen in- und ausländischer Investoren schnellstens wiederherstellen. Immerhin enthält das Gesetzeswerk mehrere wichtige Änderungen: Die maximale Gefängnisstrafe für Wertpapierbetrug wurde auf 25 Jahre erhöht. Unternehmenschefs, die die Börsenaufsicht hinters Licht führen oder Dokumente vernichten, droht zukünftig eine Strafe von 5 Millionen Dollar und bis zu 20 Jahren Gefängnis. Vorstandsvorsitzende und Finanzvorstände müssen jetzt persönlich für ihre Zahlen bürgen. Außerdem wird mit dem Accounting Oversight Board eine neue Behörde geschaffen, die die Wirtschaftsprüfer überwachen soll. Letztere dürfen darüber hinaus bestimmte Beratungsleistungen nicht mehr anbieten und müssen alle fünf Jahre rotieren. Schließlich wird der Etat der SEC erhöht; die Behörde erhält ferner neue Strafverfolgungsbefugnisse.[20]
Die neuen Regelungen sind jedoch keine Garantie dafür, dass das vorgebliche Ziel der Reform, die Bestrafung krimineller Manager, erreicht wird. Anlegerbetrug und Insiderhandel werden auch in Zukunft nur schwer zu belegen sein. Überdies ist die Vorschrift, Firmenchefs für die Richtigkeit der Bilanzen persönlich bürgen zu lassen, durch den Zusatz „nach meinem besten Wissen“ nahezu wertlos. Diese kleine Ergänzung erlaubt jedem Vorstand im Notfall weiterhin die „Kenneth-Lay-Verteidigung.“ Wie bereits erwähnt, beteuert der ehemalige Enron-Chef bis heute, nicht eingeweiht gewesen zu sein.
Die im Zuge des Enron-Skandals sichtbar gewordenen, vielfältigen Verbindungen von Enron-Managern und Politikern und das Beziehungsgeflecht zwischen Managern, Banken, Wirtschaftsprüfern und Rating-Agenturen, die alle Interesse an der Kursentwicklung und Einfluss auf diese haben, veranlassten zwischenzeitlich selbst die Kommentatoren konservativer Blätter von einen Günstlingskapitalismus, einem „crony-capitalism“ US-amerikanischer Machart zu schreiben. Dieser Begriff, seinerzeit benutzt, um den Nepotismus der Marcos-Familie auf den Philippinen zu beschreiben, galt vor vier Jahren als eine Hauptursache der so genannten Asienkrise. Zwar ist dieser Befund nur ein Symptom, nicht die Ursache der vielen Bilanzskandale, die die US-Wirtschaft im vergangenen Jahr erschüttert haben, trotzdem ist diese Einschätzung zutreffender, als die These von einzelnen schwarzen Schafen, die mittels ethischer Grundsätze wieder auf den Pfad der Tugend zurückgeführt werden könnten oder auch die pauschalen Klagen, in den Chefetagen breite sich die Wirtschaftskriminalität aus. Der Fall Enron ist keine einmalige Entgleisung, sondern liegt in der Logik des gegenwärtigen Wirtschaftssystems. Die Manager haben sich durchaus „rational“ gegenüber den „Anreizen des Marktes“ verhalten, nämlich die Grenzen des Erlaubten beständig auszutesten, um höchste Gewinne zu erzielen. Das Enron-Debakel kann daher als Krise des dominanten, auf Deregulierung und Liberalisierung um jeden Preis setzenden Modells verstanden werden. Eine breite Diskussion über die Problematik ist gegenwärtig allerdings nicht zu erwarten. Angesichts des Irak-Krieges ist Enron nahezu vollständig aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden.