Streiflichter aus der Strafverfolgung – Wirtschaftskriminalität und ihre „Bekämpfung“

von Anja Lederer

Im Bereich der Wirtschaftskriminalität sind die Strafverfolgungsbehörden vor besondere Probleme gestellt. Ermittlungen erfolgen spezialisiert und höchst selektiv. Sie dienen vor allem dazu, das Vertrauen in die Wirtschaft zu festigen.

Bereits die relevanten Straftatbestände sind schier unüberschaubar: Neben verschiedenen Vorschriften aus dem Strafgesetzbuch (StGB) wird der Wirtschaftskriminalität eine Vielzahl von Deliktsbeschreibungen des sogenannten Nebenstrafrechts zugeordnet. Allein in § 74c Gerichtsverfassungsgesetz, der die Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammern regelt, sind an die 30 strafrechtliche Nebengesetze erwähnt. In kaum einer Deliktsmaterie ist die Zahl der an der Verfolgung beteiligten Behörden so groß und vielfältig, was besonders effektive Ermittlungen erwarten lassen müsste. Nicht nur Polizei und Staatsanwaltschaft, sondern auch Kontroll- und Aufsichtsbehörden des Bundes und der Länder, Vergabe- und Ausschreibungsstellen, die Zoll- und Arbeitsverwaltung sowie Finanz- und Steuerbehörden wirken mit an der Ermittlung strafrechtlich relevanter Sachverhalte.[1] Dabei handelt es sich um in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht sehr komplexe Tatbestände. Die Verfahren sind zwar im Vergleich zu den insgesamt erfassten Ermittlungsverfahren zahlenmäßig gering und werden gegen verhältnismäßig wenige Beschuldigte geführt, weisen aber viele Geschädigte und in der Summe einen außerordentlich hohen Vermögensschaden auf.

Aus Sicht der damit befassten Behörden kann daher die Bedeutung der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität nicht hoch genug eingeschätzt werden: Dabei geht es ihnen nicht nur um die gravierenden materiellen Auswirkungen, sondern vor allem um die immateriellen, nicht messbaren Schäden. Man befürchtet, dass auf Dauer sowohl bei den am wirtschaftlichen Wettbewerb Beteiligten als auch bei den VerbraucherInnen nicht nur das Vertrauen in die Redlichkeit einzelner Berufs- und Handelszweige, sondern auch in die Funktionsfähigkeit der geltenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung schwindet.[2]

Vom Pleitier zum Beschuldigten

„Unternehmen in der Krise – das erzeugt Straftäter“, so Oberstaatsanwalt Bernhard Brocher, Leiter der für Wirtschaftskriminalität zuständigen Hauptabteilung C der Berliner Staatsanwaltschaft. Diese erfüllt im Stadtstaat Berlin jene Funktion, die in Flächenstaaten den seit den 70er Jahren eingerichteten Schwerpunktstaatsanwaltschaften zukommt. Für Wirtschaftsdelikte im engeren Sinne sind dabei die Abteilungen 22, 23 und 24 zuständig. Nach Brochers Einschätzung kommen 50 % der dort bearbeiteten Strafverfahren aus dem Konkursbereich. Neun von zehn Insolvenzfällen führen zur förmlichen Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen Verantwortliche der Pleite gegangenen Firmen. Im Vordergrund steht das Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt nach § 266a StGB. Dass jemand in der Endphase eines Unternehmens noch Sozialversicherungsbeiträge abführt, ist laut Brocher selten. In über der Hälfte der nach Konkursen eingeleiteten Verfahren gibt es darüber hinaus auch Anzeichen für Konkursverschleppung, Bilanzierungsdelikte, Betrug, Steuerhinterziehung u.a.m.

Bei der Berliner Staatsanwaltschaft wurden bis 2001 jährlich zwischen 1.800 und 2.050 Insolvenzfälle auf strafrechtlich relevantes Verhalten hin überprüft. Die Tendenz ist steigend. 2002 waren es bereits 3.500 Fälle, für das laufende Jahr wird mit etwa 4.000 gerechnet. Große Firmen sind davon nur gelegentlich betroffen. Von Branchenkrisen abgesehen, besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Unternehmens und der Wahrscheinlichkeit für deren Verantwortliche, in einem wirtschaftsstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren beschuldigt zu werden. Die Durchschnittsklientel der Wirtschaftsabteilungen der Staatsanwaltschaft kommt denn auch aus dem Mittelstand bzw. aus kapitalschwachen Jungunternehmen.

Die Aufklärungs- und Anklagequoten auf dem Feld der Insolvenz- und Insolvenzfolgedelikte sind außerordentlich hoch. Dies ist u.a. darauf zurückzuführen, dass die Insolvenzgerichte sämtliche Akten aller Insolvenzfälle der Staatsanwaltschaft zur Auswertung vorzulegen haben. Dort werden die eingehenden Insolvenzverfahrenssachen in ein eigenes Vorprüfungsregister eingetragen. WirtschaftsreferentInnen prüfen routinemäßig, ob sich nach Aktenlage der Anfangsverdacht einer Straftat ergibt. Wenn ja, entscheidet der Leiter einer der Wirtschaftsabteilungen über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens im engeren Sinne, das dann bei der Amts- bzw. Staatsanwaltschaft weiter bearbeitet wird. Da bereits die Insolvenzakten in der Regel eine Vielzahl relevanter Informationen, darunter die Prüfungsergebnisse der KonkursverwalterInnen enthalten, gibt es in diesen Verfahren eine Menge „Material“, das durch die Staatsanwaltschaft ausgewertet wird, gegebenenfalls zu weiteren Ermittlungen Anlass gibt und letztlich überwiegend auch zur Anklageerhebung führt.

Weitere Verdachtsmeldungen

Im Unterschied zur Strafverfolgung in anderen Bereichen spielen Strafanzeigen für die Einleitung von Verfahren, die der Wirtschaftskriminalität zugerechnet werden, eine eher untergeordnete Rolle. Zwar werden einzelne Delikte, beispielsweise Kapitalanlagebetrug oder Verstöße gegen das Marken- und Urheberrecht, auch von Privatpersonen angezeigt. In der Mehrzahl handelt es sich jedoch um „Überwachungs- und Kontrolldelikte“. Dabei kann sich die Staatsanwaltschaft häufig auf bereits vorbearbeitete Akten und Meldungen anderer Stellen stützen. Dies ist nicht nur bei den von den Wirtschaftsabteilungen 22-24 bearbeiteten Insolvenzdelikten der Fall, sondern auch bei den Steuer- und Zollsachen der Abteilungen 26 und 27. Zoll- und Steuerbehörden haben eigene Ermittlungs- (und Einstellungs-)befugnisse. Viele Fälle werden daher bereits auf dieser Stufe erledigt.

Auch bei Geldwäscheermittlungen kommt der Anstoß von außerhalb, von den Verdachtsmeldungen insbesondere der Banken.[3] Bei der für Geldwäsche, Finanzermittlungen und ausgewählte Verfahren der „organisierten Kriminalität“ zuständigen Abteilung 21 gingen im letzten Jahr mehr als 500 solcher Anzeigen ein. Anders als noch Mitte der 90er Jahre, in der Anfangsphase nach der Einführung des Geldwäsche-Tatbestandes, führen laut Brocher Geldwäschekontrollanzeigen heute in 9 % der Fälle zu einer Identifizierung der Vortat, der das „verdächtige“ Geld entstammt. Dies sei zwar immer noch eine „niedrige Quote“, aber aus der Identifizierung der Vortat ergäben sich in der Regel relevante Straftaten und überproportional viele „große“ Verfahren. Die Geldwäschegesetzgebung sei inzwischen ein großer Erfolg.

Entsprechend der zunehmenden Zahl der eingehenden Verdachtsanzeigen nimmt in den letzten Jahren auch die Zahl der Verfahrenseingänge im Bereich „Geldwäsche“ zu – von 2000 auf 2001 um 6,4 %. Die Steigerung um 30,6 % von 2001 auf 2002 ist laut Brocher allerdings nicht repräsentativ, sondern der Währungsumstellung geschuldet. Etliche Verdachtsanzeigen betrafen im letzten Jahr Personen, die aus Anlass der Euro-Umstellung ihr Bargeld auf Bankkonten eingezahlt haben. Generell aber würden die Banken bei den Verdachtsmeldungen deutlich besser, da sie sich infolge der Geldwäschegesetze nun selbst vor Strafverfolgung schützen müssten.

Ermittlungsverfahren eigener Art

Einschließlich des Leiters und der Dezernenten der nicht im engeren Sinne dazugehörigen „Ermittlungsgruppe Bankgesellschaft“[4] arbeiten in der Hauptabteilung C 59 StaatsanwältInnen, die infolge von Weiter- und Zusatzausbildungen über besondere Kenntnisse im Wirtschaftsleben verfügen. Unterstützt werden sie von 21 ebenfalls in der Hauptabteilung beschäftigten WirtschaftsreferentInnen, die in der Regel ein kaufmännisches Studium absolviert haben und daher u.a. in der Lage sind, Bilanzen und Bücher der ins Visier der Ermittlungsbehörde geratenen Unternehmen zu prüfen.

Die Arbeit der Staatsanwaltschaft besteht entsprechend der Besonderheit der Delikte vor allem in der Auswertung von Unterlagen, die in großem Umfang bei Durchsuchungen beschlagnahmt werden oder durch andere Spezialdienststellen vorbereitet an die Staatsanwaltschaft abgegeben werden. Angesichts der im Verhältnis zu sonstigen Verfahren arbeitsintensiveren Ermittlungen entfallen auf die einzelnen DezernentInnen zahlenmäßig deutlich weniger zu bearbeitende Verfahren als in den sonstigen Abteilungen der Staatsanwaltschaft. Die Bearbeitungszeit bis zum Abschluss der Ermittlungen liegt etwa bei den Insolvenzstraftaten oder in sogenannten Groß- oder Komplexverfahren wesentlich höher als bei Ermittlungsverfahren außerhalb der Wirtschaftskriminalität.

Da sich die „typischen“ Beschuldigten im Wirtschaftsbereich deutlich von den sonst „üblichen Verdächtigen“ unterscheiden und viele der sogenannten Wirtschaftsstraftaten nicht im gängigen Sinne als „kriminell“ verstanden werden, verwundert es nicht, dass die Staatsanwaltschaft seltener den Erlass von Haftbefehlen beantragt. Die Ausnahmen, die die Regel bestätigen, finden sich typischerweise bei den von der Hauptabteilung C bearbeiteten Fällen Organisierter Kriminalität (OK) sowie bei den Steuer- und Zolldelikten, wo es die Berliner Staatsanwaltschaft in jüngerer Vergangenheit zum großen Teil mit dem Komplex „illegaler Zigarettenhandel“ durch vietnamesische Staatsangehörige zu tun hatte. Begründet wird dies mit einer geringeren Strafempfindlichkeit beispielsweise vietnamesischer Beschuldigter.

Schuld und Sühne

Ähnliche Besonderheiten zeigen sich bei den Arten der Verfahrenserledigungen. Während bei der Berliner Staatsanwaltschaft allgemein etwa 80 bis 90 % der eingeleiteten Ermittlungsverfahren – vielfach aus Opportunitätsgründen – eingestellt werden, kommt es im Wirtschaftsbereich in mehr als 25 % der Fälle zur Anklageerhebung. Die Ursache dafür liegt hauptsächlich darin, dass bereits die Einleitung der Ermittlungsverfahren selektiver erfolgt, weil vielfach im Vorfeld schon andere spezialisierte Behörden damit befasst waren und die relevanten Sachverhalte ausgesondert haben.

Ungeachtet der relativ großen Zahl von Anklageerhebungen wegen Wirtschaftsstraftaten bewegen sich die diesen folgenden Sanktionen im Verhältnis zu denen der übrigen Deliktsfelder eher im unteren Bereich. Nach Angaben von Oberstaatsanwalt Brocher handelt es sich ganz über­wiegend um kleine Fälle, die zu Geld- bzw. Bewährungsstrafen führen. Nur in einer bescheidenen Anzahl von Strafverfahren würden Freiheitsstrafen ohne Bewährung verhängt – auch hier vorrangig gegen „OK“-Täter, die vollständig außerhalb des legalen Wirtschaftssystems operierten. Demgegenüber sei allerdings die Höhe der Tagessätze, die in der Regel bei den Geldstrafen verhängt werde, im Wirtschaftsbereich deutlich höher als in den sonstigen Verfahren.[5] Zudem hätten die Nebenwirkungen der Strafverfahren eine größere Bedeutung: Verfahren wegen Korruptionsstraftaten etwa zögen in der Regel dienstrechtliche Konsequenzen nach sich. Schon das Bekanntwerden eines Ermittlungsverfahrens könne dem Ruf eines Unternehmens oder einzelner Geschäftsleute nachhaltig schaden. Aufgrund der größeren Komplexität vieler Wirtschaftstrafverfahren und der längeren Verfahrensdauer bei den Wirtschaftsstrafkammern spielen in einer größeren Anzahl von Verfahren sogenannte „Deals“ zwischen den Verfahrensbeteiligten eine Rolle.

Selektive „Kriminalitätsbekämpfung“

Die engen systemimmanenten Grenzen, an die Verfolgung und „Bekämpfung“ kriminellen wirtschaftlichen Handelns stoßen müssen, sind offensichtlich. Fließend verläuft die Demarkationslinie zwischen legalen, durch die ökonomischen Grundlagen vorgegebenen Handlungen und „Verbotenem“, zwischen erlaubtem, sogar erwünschtem Risiko und Betrug. „Anything goes“, doch wer aus dem nur schemenhaften Rahmen heraus- und auffällt, weil er das Maß des Schicklichen überschreitet oder schlicht scheitert, ohne die Kurve zu kriegen, wird maßvoll zur Verantwortung gezogen. „Freie“ Wirtschaft einerseits, Repression, Kontrolle und Überwachung andererseits vertragen sich gerade so weit, wie es unumgänglich erscheint, um die auffälligsten Auswüchse des Strebens nach Profit zu beschneiden. Die Strafverfolgungsbehörden haben neben der kosmetischen vor allem die Funktion, die ersichtlich „kranken Triebe“ des Baumes zu stutzen, bevor sich die BürgerInnen womöglich darum sorgen, ob nicht vielmehr der Stamm fault.

Anja Lederer ist Rechtsanwältin und Redakteurin von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] Bundeskriminalamt: Jahresbericht Wirtschaftskriminalität 2001, Wiesbaden 2002, S. 11
[2] ebd., S. 26
[3] vgl. den Beitrag „Die Suche nach der Geldwäsche“ in diesem Heft, S. 50-55
[4] vgl. zum Komplex Berliner Bankgesellschaft in diesem Heft, S. 26-33
[5] Die Höhe der Tagessätze bei einer Geldstrafe bemisst sich nach dem durchschnittlichen täglichen Nettoeinkommen des Täters und beträgt höchstens 5.000 Euro.