von Helmut Pollähne
Nach dem Tod des 35-jährigen Laye-Alama Condé aus Sierra Leone will Bremen vorerst auf zwangsweise Brechmitteleinsätze verzichten: Wer nicht „freiwillig“ ein Brechmittel nimmt, soll „bis zum Ausscheiden der Beweismittel“ in Haft genommen werden.
Dass die zwangsweise Verabreichung des Brechmittels ‚Ipecacuanha‘ an Personen, die mutmaßlich sog. ‚Drogen-Bubbles‘ verschluckt haben, zu ernsthaften gesundheitlichen Komplikationen und in Einzelfällen auch zum Tode führen kann, ist bekannt. Ebenso wenig überrascht, dass das erste Todesopfer eines zwangsweisen polizeilichen Brechmitteleinsatzes ein Schwarzafrikaner war: der 19-jährige Archidi John aus Kamerun, der Ende 2001 in Hamburg starb. Wer nach dieser Eskalation auf ein Ende dieser Praxis hoffte, sah sich getäuscht: Hamburger Polizisten beglückwünschten sich kürzlich zu zwei Jahren Brechmitteleinsatz, Berlin hat im Frühjahr 2004 die umstrittene Praxis wieder eingeführt.[1] Und in Bremen, das bereits auf eine lange ‚Tradition‘ zurückblicken kann, hieß es auch weiterhin: „Kotzen für den Staatsanwalt!“[2]
Behaupte niemand, es sei nicht vorhersehbar gewesen, dass es auch in Bremen einen Schwarzafrikaner ‚erwischen‘ würde. Wen sonst sollte es treffen, wenn sich die polizeiliche Suche nach Kleindealern systematisch und traditionell auf schwarze Männer konzentriert?[3] Und schließlich blieb in Bremen wie zuvor in Hamburg das bewährte ‚blaming the (police-)victim‘ nicht aus: Dazu gehört, dass der politisch verantwortliche Innensenator Thomas Röwekamp den bereits im Sterben Liegenden auf dem „Wege der Besserung“ wähnte und die Version verbreitete, jener sei letztlich selbst schuld, denn er habe ja nicht nur die Kokain-Kügelchen verschluckt, sondern sie nach dem Erbrechen auch noch zerbissen und erneut herunter geschluckt (und sich also wohl selbst vergiftet). Dazu gehört weiter das Fehlen irgendeiner Form des Bedauerns: „Und ich bleibe dabei, bei Schwerstkriminellen, die solche schweren Straftaten begehen, die müssen mit körperlichen Nachteilen rechnen.“[4]
Der öffentliche Druck war aber letztlich zu groß, als dass man erneut nach dem Motto „Weiter so!“ verfahren und ein drittes Todesopfer in Kauf nehmen konnte. Nach einem vom Innen- und Justizressort gemeinsam unterzeichneten Erlass vom 1.3.2005 gilt deshalb nun:
„Nach Belehrung durch die Polizei und erfolgter medizinischer Untersuchung wird dem Tatverdächtigen (TV) im Polizeigewahrsam das Brechmittel Ipecacuanha zur freiwilligen Einnahme unter ärztlicher Aufsicht angeboten. Die Beschleunigung der Exkorporation mit Hilfe eines freiwillig eingenommenen Abführmittels findet statt, wenn anzunehmen ist, dass sich die Gegenstände bereits im Darm befinden, was etwa zwei Stunden nach dem Verschlucken der Fall ist. Lehnt der TV die freiwillige Einnahme des Brechmittel-Sirup Ipecacuanha bzw. des Abführmittels ab, führt die Staatsanwaltschaft eine richterliche Entscheidung über die Inhaftierung des TV bis zum Ausscheiden der Beweismittel herbei. Als Rechtsgrundlage kommt entweder die Anordnung des Festhaltens zum Zwecke einer körperlichen Untersuchung (§ 81a StPO) oder ein Haftbefehl wegen Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 StPO) in Betracht. Der TV wird in einer eigens für diese Zwecke hergerichteten Zelle in der Abteilung für erkrankte Gefangene der JVA Bremen festgehalten. Dort wurde eine spezielle Toilette ohne Wasserspülung installiert, damit die TV keinen Zugriff auf die ausgeschiedenen Beweismittel nehmen können. Die ausgeschiedenen Drogen werden beim LKA untersucht. Während des gesamten Aufenthalts in der JVA wird der TV durch einen Rettungsassistenten medizinisch überwacht. Das ist erforderlich, weil sich die verschluckten Drogenpäckchen im Darm auflösen könnten – mit möglicherweise fatalen Folgen.“[5]
Zugegeben: Was die zwangsweise Verabreichung von Brech- und Abführmitteln betrifft, ist der Erlass eindeutig. Sie „hat zu unterbleiben“, wenn auch zunächst nur für eine halbjährige Übergangsphase, während der man Erfahrungen mit der Stuhlhaft sammeln will. Was bleibt sind zum einen Zweifel, ob in Anbetracht der Drohung mit Inhaftierung von einer „Freiwilligkeit“ einer Ipecacuanha-Einnahme die Rede sein kann, und zum andern die Fragwürdigkeit der Legalität, Legitimität und Verhältnismäßigkeit des ganzen Procederes. Dass die Exkorporation „via naturalis“ gegenüber dem Erbrechen per se das ‚mildere Mittel‘ ist, wie in der berechtigten Kritik an den Brechmitteleinsätzen häufig betont wird,[6] lässt sich auch mit guten Gründen bestreiten.[7] Es bleibt die Wahl zwischen zwei Übeln, und es bleiben die Vorwürfe rassistischer Selektivität, drogenpolitischer Rücksichtslosigkeit und abschreckender Körperstrafen im polizeilichen Sofortvollzug.[8]
Freiheitsentziehung – mit welchem Recht?
Als Rechtsgrundlage für eine Freiheitsentziehung zum Zwecke des kontrollierten Stuhlgangs bietet der gemeinsame Erlass zunächst den § 81a Strafprozessordnung (StPO) an, der die „körperliche Untersuchung“ regelt und auf den man bereits den zwangsweisen Brechmitteleinsatz stützte. Diese Variante ist jedoch etwas sehr weit hergeholt, denn statt eine „körperliche Untersuchung“ vorzunehmen, lässt man den Dingen ihren Lauf und wartet – gegebenenfalls bis zu fünf Tagen.[9] Da die Voraussetzungen des § 81a StPO also nicht gegeben sind, kann die Frage, ob dieser Paragraf einen mehrtägigen Freiheitsentzug überhaupt deckt, offen bleiben.[10] Was im Übrigen bereits für die Brechmittel galt, muss auch hier Beachtung finden: Eine Inhaftierung zum Schutz des Betroffenen vor den vermeintlichen Gefahren, die von den verschluckten ‚Bubbles‘ ausgehen, findet weder im Polizei- oder Strafrecht noch im Grundgesetz eine Grundlage (und erst recht nicht in der Europäischen Menschenrechtskonvention)![11]
Die reguläre Freiheitsentziehung zu strafprozessualen Untersuchungszwecken nennt die StPO Untersuchungshaft, und da auch der o.g. Bremer Stuhlhaft-Erlass explizit auf § 112 Abs. 2 StPO Bezug nimmt, sei diese Vorschrift daraufhin untersucht, ob sie eine taugliche Rechtsgrundlage abgibt.
Dringender Schluckverdacht?
Zunächst einmal bedürfte es des dringenden Tatverdachts (§ 112 Abs. 1 S. 1 StPO), hier eines Vergehens gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG). Dass die polizeiliche Beobachtung ‚einschlägiger‘ Schluckbewegungen aus Anlass einer Straßenkontrolle dafür bereits ausreichen soll, ist jedoch zweifelhaft – und das nicht nur, weil Erfahrungsberichten zufolge in mindestens einem Drittel aller Brechmittelfälle gar keine ‚Bubbles‘ zutage gefördert wurden.[12]
Zudem besteht die Gefahr des Zirkelschlusses, denn ob der dringende Tatverdacht eines BtM-Delikts begründet ist, soll durch die Sicherstellung vermeintlich verschluckter Drogenkügelchen ja überhaupt erst geklärt werden. Der dringende Tatverdacht des Haftrechts fordert die „große Wahrscheinlichkeit“ der Täterschaft oder Tatbeteiligung, wobei diese Wahrscheinlichkeit auf bestimmten Tatsachen beruhen muss und nicht auf bloßen Vermutungen.[13] Ein korrekter Haftrichter sollte sich mit der Angabe, der Festgenommene habe an einem „verdächtigen Ort“ mehrfach „verdächtig geschluckt“, nicht zufrieden geben.[14]
Abgesehen davon bedürfte es eines Haftgrundes, naheliegend der der sog. „Verdunkelungsgefahr“, auf den auch der Erlass Bezug nimmt. Naheliegend freilich nicht deshalb, weil die ‚Bubbles‘, wenn sie denn tatsächlich verschluckt wurden, fürwahr im Dunkeln lägen. (Sie sind schon verdunkelt, sie drohen nicht erst verdunkelt zu werden.[15]) Ausschlaggebend ist allenfalls, dass das Verhalten des Beschuldigten „den dringenden Verdacht begründet“, er werde Beweismittel (eben jene Bubbles) „vernichten …, beiseite schaffen oder unterdrücken“ (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO).
Gefahr der Verdunkelung?
Dieser Verdacht ließe sich wohl kaum von der Hand weisen: Wer Drogen schluckt, um sie vor der Polizei zu verbergen bzw. der Sicherstellung zu entziehen, wird nach deren natürlicher Ausscheidung nicht mit dem Abspülen zuwarten, bis die Ermittlungspersonen einen erneuten Sicherstellungsversuch unternehmen.[16]
Bliebe zu klären, ob die Stuhlhaft zur Ausscheidungskontrolle erforderlich ist, ob also andernfalls „die Gefahr droht, dass die Ermittlung der Wahrheit erschwert“ würde (§ 112 Abs. 2 StPO a.E.) und ob „weniger einschneidende Maßnahmen“ nicht zur Verfügung stehen, die die Verdunkelungsgefahr „erheblich vermindern“ könnten (§ 116 Abs. 2 StPO). Spätestens hier wird deutlich, dass der repressive drogenpolitische Ansatz mitsamt seiner vorherrschenden betäubungsmittelrechtlichen Binnenlogik in ein Dilemma führt: Zur „Ermittlung der Wahrheit“ gehört nicht nur, die Existenz der illegalisierten Ware, mit der gehandelt worden sein soll, nachzuweisen, sondern dies auch noch auf Gramm und Reinheitsgehalt genau! O-Ton Stuhlhaft-Erlass: „Die verschluckten Gegenstände sind Beweismittel und müssen wieder zu Tage gefördert werden.“ Ob die Strafverfolgungsbehörden hierauf allerdings auch dann in allerletzter Konsequenz bestehen würden, wenn der Verdacht dahin ginge, die Kügelchen seien nicht verschluckt, sondern stattdessen direkt in die Kanalisation geworfen worden …?
Obwohl also dringender Tatverdacht und Haftgrund durchaus vorliegen könnten, bleibt doch äußerst fraglich, ob eine solchermaßen begründete Untersuchungshaft nicht „zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe … außer Verhältnis“ stünde (§ 112 Abs. 1 S. 2 StPO). Und damit ergeben sich letztlich dieselben Verhältnismäßigkeitsprobleme wie bei den auf § 81a StPO gestützten Brechmitteleinsätzen.[17]
Stuhlgangüberwachung, Menschenwürde und Folter
Ungeachtet der Verhältnismäßigkeitsbedenken steht allerdings – wie bereits beim Brechmitteleinsatz[18] – die Antastbarkeit der Menschenwürde in Frage: Vergegenwärtigt man sich, dass der Zeitraum zwischen Verschlucken und Ausscheiden, die sog. Magen-Darm-Passage durchaus drei bis fünf Tage betragen kann und der Betroffene während der gesamten Zeit und insbesondere jeder Toilettenbenutzung „bei geöffneter Haftraumtür, jedoch geschlossener Gittertür“ unter unmittelbarer Überwachung steht,[19] ist die Vereinbarkeit einer derartigen ‚Behandlung‘ mit Art. 1 Abs. 1 GG nur schwer vorstellbar.[20] Es wird den Beteiligten schwer fallen, in jedem Fall das Misshandlungsverbot aus Art. 104 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz und das Verbot von Folter und erniedrigender Behandlung aus Art. 3 EMRK einzuhalten.[21] Sie nicht dem (möglicherweise sogar berechtigten) Folter-Vorwurf auszusetzen, obliegt den politisch Verantwortlichen. Die Polizei hat aber auch insoweit wieder mal an alles gedacht – der letzte Punkt ihrer Dienstanweisung lautet:
„Wegen der Komplikationen bei der bisher zwangsweise durchgeführten Brechmittelvergabe und der danach einsetzenden politischen Diskussion in Bremen um beweissichernde polizeiliche Maßnahmen gegen Straßendealer sind Reaktionen interessierter Kreise (Menschenrechtsverein u.a.) aus jeweils aktuellem Anlass möglich. Alle für eine Lagebeurteilung bedeutsamen Erkenntnisse sind daher unverzüglich dem LZ (Lagezentrum) zu
übermitteln“.