Tausendfacher Verdacht – Datenbilanz des schweizerischen Bundesamtes für Polizei

von Heiner Busch

Reichlich verschlafen hat die Rechtskommission der großen Parlamentskammer, des Nationalrats, auf eine Übersicht der Polizeidateien des Bundes reagiert. Dabei hatte sie hochbrisante Zahlen vor sich.

„Schnüffelstaat! Schon wieder 50 000 registriert“, titelte der „Sonntags-Blick“ am 31. Oktober 2004 und druckte bestürzte Erklärungen von Mitgliedern der nationalrätlichen Rechtskommission (RK). Die „neue Zahl“ der in der Staatsschutz-Datenbank ISIS gespeicherten Personen sei „ein Schock“, ließ sich Kommissionspräsident Luzi Stamm von der rechtsbürgerlichen SVP zitieren. Was das Boulevard-Blatt nicht wusste, aber Stamm hätte wissen müssen: die neue Zahl war längst die alte.

Anfang April 2004 hatte die Kommission nämlich eine „Liste der wichtigsten personenbezogenen Datensammlungen des Bundesamtes für Polizei (Stand: 18.2.2004)“ samt Angaben über die Zahl der darin gespeicherten Personen erhalten. Zu dem Amt, das sich neuerdings „fed­pol“ abkürzt, gehört auch der „Dienst für Analyse und Prävention“ (DAP), die eidgenössische Staatsschutzzentrale, die für ISIS verantwortlich ist. Am 13. Februar 2004, so steht es in der fedpol-Dokumentation, waren in ISIS 60.477 Personen verzeichnet.

Die Kommission nahm das Papier offensichtlich nicht zur Kenntnis – nicht einmal, als sie auf ihrer Oktober-Sitzung den „Extremismus­bericht“ debattierte, den die Landesregierung kurz zuvor veröffentlicht hatte.[1] „Das war eine lange Sitzung“, erinnert sich Kommissionspräsident Stamm bei unserer telefonischen Nachfrage. Die ParlamentarierInnen hätten nicht verstehen können, wieso der Bericht gerade einmal 2.400 linke und rund 1.000 rechte ExtremistInnen verortete, aber bereits seit 2001 eine Zahl von rund 50.000 in ISIS registrierten Personen kursierte. Mehr Informationen waren gefragt. Am 19. November schickte das fedpol seine Übersicht also ein zweites Mal. In der Dezember-Sitzung der RK sei dann alles geklärt worden, sagt Luzi Stamm. Wie genau, kann sich der RK-Präsident nicht mehr erinnern. „Datenschutz ist auch nicht so mein Thema.“ Die Verwaltung habe aber unter anderem dargelegt, „dass das großenteils Ausländer sind, mögliche extremistische Tätigkeit von Ausländern. Die Kommission sah dann keinen weiteren Handlungsbedarf mehr. Außerdem kann ja jeder Parlamentarier einzeln Vorstöße und Anfragen einreichen.“

Alles klar, Herr Kommissar

Das Papier verschwand also wieder in der Schublade – zu Unrecht. Denn die Zahlen haben es in sich. Sie vermitteln nämlich einen Eindruck über die Zunahme der Personen, die der Staatsschutz „präventiv“, also ohne Straftatverdacht, als „gewalttätige ExtremistInnen“, potentielle TerroristInnen, Spione oder Händler von ABC-Gütern erfasste. Bereits 1997 enthielt ISIS Daten von rund 40.000 Personen. Im September 2001 bezifferte die Landesregierung in der Antwort auf eine Anfrage des damaligen SP-Nationalrats Nils de Dardel die Zahl der Registrierten mit 50.000.[2] Drei Jahre später waren es 10.000 mehr.

Diese Zahlen repräsentieren aber nur den Datenbestand an einem Stichtag. Bei den alle drei Jahre stattfindenden Gesamtüberprüfungen werden – so hieß es in der Antwort auf de Dardels Anfrage – „etwa zwei Drittel der Datensätze ganz oder teilweise gelöscht.“ Das hieße, dass über die letzten Jahre hinweg ca. 150.000 Personen zu irgendeinem Zeitpunkt in ISIS erfasst waren, rund 90.000 aber wieder gelöscht wurden, weil bis zur Gesamtüberprüfung nichts mehr hinzukam, es sich also um puren Datenschrott handelte.

Bei Stamm & Co. hat sich der „Schock“ gelegt, nachdem sie erfuhren, dass unter den 60.000 ISIS-Registrierten nur 2.257 SchweizerInnen sind. Das massive Übergewicht der Daten von AusländerInnen – darunter vielen, die nicht (mehr) in der Schweiz leben – ist aber nichts Neues. Es zeigt zum einen, dass der schweizerische Inlandsgeheimdienst viele Daten von ausländischen Partnerdiensten erhält. Zum anderen belegt es, dass die Kontrolle von (möglichen) MigrantInnen und Asylsuchenden ein zentrales Arbeitsfeld des Staatsschutzes ist. Im Auftrag der Bundesämter für Flüchtlinge und Ausländerfragen und unter anderem mithilfe von ISIS-Daten überprüfte der DAP beispielsweise im Jahr 2000 1.700 Asyl-, 1.900 Visums- und 27.400 Einbürgerungsgesuche.[3]

Noch mehr Daten …

Hohe Bestandszahlen vermeldet die fedpol-Dokumentation nicht nur im Staatsschutzbereich. 142.625 Personen waren in RIPOL zur Fahndung oder zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben. Die Anteile sind nicht aufgeschlüsselt. Die ausländerrechtlichen Daten dürften aber etwa die Hälfte ausmachen. Im Informationssystem der „Meldestelle Geldwäscherei“ (GEWA) sind laut der fedpol-Übersicht „Daten über Personen und Organisationen erfasst, bei denen ein begründeter Verdacht im Bereich Geldwäscherei besteht.“ Im Februar 2004 soll dies bei 4.170 Firmen und 10.884 natürlichen Personen (rund 3.000 mit Wohnsitz in der Schweiz, 4.300 im Ausland) der Fall gewesen sein.

Die Bundeskriminalpolizei (BKP), die wie der DAP eine Hauptabteilung des fedpol ist, führt das Informationssystem JANUS. Es enthält einerseits Daten aus den eigenen gerichtspolizeilichen Verfahren und Vorermittlungen der BKP. Andererseits dient das System der Kooperation mit und zwischen den kriminalpolizeilichen Spezialdiensten der Kantonspolizeien. Ende März 2004 enthielt JANUS 86.100 „Stämme“, wovon sich 2.000 auf Firmen, 400 auf Organisationen und 83.700 auf Personen bezogen. Von letzteren hatten 29.100 ihren Wohnort in der Schweiz und 19.000 im Ausland, beim Rest fehlten „Domizilinfo“.

In der Antwort auf de Dardels Anfrage aus dem Jahre 2001 wurde die Zahl der Personenstämme noch mit 62.500 beziffert, wovon die meisten aus der früheren Drogenhandelsdatenbank DOSIS stammten, die den Grundstock für JANUS bildete. An diese Stammdaten waren damals 116.500 „Angaben über Drittpersonen“ angehängt: „13.500 Kontaktpersonen zu mutmaßlichen Tätern, 13.000 Angaben über Telefonabonnenten (Name, Vorname, Adresse) und 90.000 Telefonnummern ohne oder nur mit fragmentarischen Angaben zu Personen.“ Wie viele Daten über Drittpersonen heute in JANUS gespeichert sind, lässt sich aus der neuen Aufstellung des fedpol nicht entnehmen.

IPAS ist das Personen- und Aktennachweissystem der BKP, ein Akten- und Datenfundstellenregister. 641.446 Personen waren Anfang 2004 dort registriert, rund 470.000 Datensätze enthielten Hinweise auf erkennungsdienstliche Daten (Fingerabdrücke und ggf. zusätzlich DNA-Profil). Die Fingerabdruck-Daten selbst sind in AFIS erfasst. Zu denen aus dem Polizeibereich mit einer Prozesskontrollnummer in IPAS kommen 195.000 Datensätze von Asylsuchenden mit Querverweis auf das Datensystem des Bundesamtes für Migration (AUPER). Am Stichtag 31.12.2003 waren 45.313 DNA-Profile in der seit Sommer 2000 aufgebauten DNA-Datenbank erfasst. Ein Jahr später waren es schon 60.000.[4]

… und noch mehr Datenbanken

Am 5. Juni 2005 stimmen die SchweizerInnen über den Schengen-Bei­tritt des Landes ab. Der Anschluss ans Schengener Informationssystem (SIS) erfolgt aber erst, wenn die EU das SIS der zweiten Generation in Betrieb nimmt.[5] Das wird voraussichtlich 2007 sein. Im Sommer 2008 werden die Schweiz und Österreich die Fußball-Europameister­schaft ausrichten. Bis dahin soll beim DAP eine Hooligan-Datenbank bereitstehen. Einen ersten Gesetzesentwurf vom Februar 2003 hat das Justizministerium (EJPD) im März 2005 erweitert.[6]

Ebenfalls im März 2005 präsentierte das EJPD einen Vorentwurf für ein „Bundesgesetz über die polizeilichen Informationssysteme des Bundes“.[7] Neben rechtlichen Retouchen, die sich vor allem aus den diversen Reorganisationen des fedpol seit 1999 ergeben, sieht der Entwurf den Aufbau eines „Nationalen Polizeiindexes“ vor. Dieser soll einerseits Hinweise auf Daten in IPAS und in JANUS, andererseits auf Ermittlungen der Kantonspolizeien enthalten. Eine Beschränkung auf überregional relevante oder schwere Straftaten wie beim deutschen Kriminalaktennachweis ist nicht vorgesehen. Genfer PolizistInnen wüssten dann endlich, dass ihre Zürcher KollegInnen denselben Ladendieb verfolgen – ein echter Informationsgewinn.

[1] www.fedpol.ch/d/aktuell/berichte/041201_5011_d_Korr.pdf
[2] www.parlament.ch/afs/data/d/gesch/2001/d_gesch_20011068.htm
[3] www.fedpol.ch/d/archiv/berichte/d_SB_2000.pdf
[4] Tagesanzeiger v. 4.12.2004
[5] Wochenzeitung (WOZ) v. 21.4.2005, Beilage
[6] www.fedpol.ch/d/aktuell/medien/GesetzesE_Massn_d.pdf
[7] www.fedpol.ch/d/aktuell/medien/050304_BPI_Vorentwurf_d.pdf