Folter absolut relativ – Das Fragwürdige am Daschner-Urteil

Nicht die milde Strafe macht das Daschner-Urteil des Frank­furter Landgerichts problematisch, sondern die Behandlung der Folter als individuelles Fehlverhalten.

„Wo hört das auf?“, fragt David Simpson in der „London Review of Books“. Anlass der Frage sind die Folterbilder, die auch britische Soldaten aus dem Irak mit nach Hause gebracht haben. „Die Ereignisse im Gefängnis Abu Ghraib … scheinen sich überall in der hilflosen Politik der ‚Koalition der Willigen‘ zu wiederholen: selbst die Dänen haben nun offenkundig ihren Skandal. Die Fotografien britischer Untaten, die publik wurden, als ein glückloser britischer Soldat seinen Film einem Laden der örtlichen Hauptstraße zum Entwickeln gegeben hatte, präsentieren das Lager Bread Basket wahrscheinlich als ein anderes schändliches Beispiel. Die Fotografien sind schwer zu erkennen. Sind die aufeinander gepressten Fäuste und die schweren Stiefel, mitten in der Luft eingefangen, dazu ausersehen, Knochen von wehrlosen Gefangenen zu brechen und sie zu verletzen oder wurden sie nur vor der Kamera vorgespielt, um zu prahlen? Stellen sie nachgemachte Gewalttaten dar oder machen sie sichtbar, was da kommen wird? Vor den Prozessen werden wir nichts Genaueres wissen. Und selbst dann werden wir nicht alles wissen.“[1]

Wie tief stecken Missbrauchsmöglichkeiten im Wasser der gewöhnlichen militärischen und polizeilichen Aktivitäten? Wie sehr sind sie Bestandteil der alltäglichen Funktionen der staatlichen Gewaltapparate, ihrer immer schon beträchtlichen Kompetenzen und Techniken, die seit dem 11.9. enorm expandierten? Wann und wo kam und kommt es zu so genannten Übergriffen? Werden sie zu solchen erst, wenn sie – ausnahmsweise? – öffentlich werden? Handelt es sich ‚nur‘ um militärische und polizeiliche Auswüchse, zurückzuführen auf ungewöhnlich brutale Mitglieder dieser Apparate? Sind die Probleme militärisch-polizeilichen Aus- und Abrutschens dann geklärt und behoben, wenn man wenige „schwarze Schafe“ umgesetzt oder aussortiert hat? Anders gefragt: Ist hinter den Folterfällen ein System zu erkennen, das die Art der Installierung und Funktionalisierung staatlicher Gewaltapparate betrifft?

Ist irgendetwas damit getan, dass man Folter tabuisiert und ein „absolutes“ Folterverbot normiert? Was können bei irdischen Gewaltapparaten und Verbrechen, auf die sie legal und legitim programmiert sind, absolute Normen bewirken? Mehr als fromme Täuschungen?

Der „Fall Daschner“

Szenenwechsel: Am 27. September 2002 entführt der Jurastudent Magnus Gaefgen den elfjährigen Bankierssohn Jakob von Metzler. Die Eltern will er erpressen. Da er den Jungen und der Junge ihn kennt, gibt er diesem und seinen Eltern keine Chance. Er tötet ihn und versenkt ihn in einem See, noch bevor der Mechanismus seiner Erpressung in Gang kommt. Die Eltern informieren die Polizei über den erpresserbrieflich genannten Ort und die nächtliche Stunde der Geldübergabe: 30. Sep­tem­ber, 1.10 Uhr. Letztere erfolgt polizeiüberwacht. Seitdem befindet sich Magnus Gaefgen unter ständiger Beobachtung.

„Da inzwischen drei Tage seit der Entführung vergangen waren und sich aus dem Verhalten G.s keine Rückschlüsse auf den Wohnort des Kindes oder weitere Tatbeteiligte ergaben, erfolgte gegen 16.20 Uhr dessen Festnahme.“

So heißt es im Urteil der 27. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom 20. Dezember 2004.[2] Bis zur Festnahme Gaefgens handelte es sich um den schlimmen Fall einer Kindesentführung oder eines Mords. Außer Gaefgen weiß noch niemand, dass er die menschliche ‚Gegengabe‘ für das erpresste Geld schon getötet hat. Zu einem Polizeifall wird der weitere Umgang mit dem in Untersuchungshaft genommenen Gaefgen dadurch, dass ein Teil der zuständigen Polizeibeamten außergewöhnliche Maßnahmen einsetzen, um aus dem Entführer den Aufenthaltsort des entführten Jungen herauszuholen.

Seit seiner Festnahme wurde Gaefgen immer erneut eingehend befragt. Der Verbleib des entführten Jungen stand im Zentrum. Nach Auskünften, die nicht zum Erfolg führten, im Gewühl hektischer Aktionen und um sich greifender Ängste, man komme polizeilich zu spät, übernahm der Kriminalbeamte Ortwin Ennigkeit das Verhör. Was dabei passierte, schildert die 27. Strafkammer so:

„E. sagte G. auf den Kopf zu, dass an seiner maßgeblichen Tatbeteiligung keine vernünftigen Zweifel bestünden. Die Polizei gehe davon aus, dass Jakob in höchster Lebensgefahr sei. Und es sei für ihn von Vorteil, wenn er sage, wo das Kind sei. Wenn er weiter schweige oder falsche Angaben mache, habe die Behördenleitung angeordnet und vorbereitet, ihn unter Zufügung von Schmerzen, jedoch ohne Verletzungen, im Beisein eines Arztes dazu zu bringen, Einzelheiten zu nennen, um das Leben des Kindes zu retten. Es werde auch überlegt, ihm ein Wahrheitsserum zu verabreichen. Er sprach sehr intensiv und eindringlich auf G. ein. Um ihn zu beeindrucken, benutzte er die Formulierung, dass ein besonderer Beamter mit Hubschrauber unterwegs sei, der ihm Schmerzen zufügen könne, die er nicht vergessen werde. Hierzu machte er mit den Händen kreisende Bewegungen. Im Zusammenhang mit dem Appell an das Gewissen erhoffte sich E., dass G. umgestimmt und wahrheitsgemäße Aussagen machen würde … G. ließ sich durch die Androhung beeindrucken.“ Er sagte aus.

Den Hintergrund der Folterdrohung des Kriminalbeamten Ennigkeit bilden die Entscheidung und der Auftrag des seinerzeitigen Vizepräsidenten der Frankfurter Polizei, Wolfgang Daschner, die er selbst in einer Aktennotiz am 1.10.2002 festgehalten hat.

„Zur Rettung des Lebens des entführten Kindes habe ich angeordnet, das G. nach vorheriger Androhung, unter ärztlicher Aufsicht, durch Zufügung von Schmerzen (keine Verletzungen) erneut zu befragen ist. Die Feststellung des Aufenthaltsortes des entführten Kindes duldet keinen Aufschub; insoweit besteht für die Polizei die Pflicht, im Rahmen der Verhältnismäßigkeit alle Maßnahmen zu ergreifen, um das Leben des Kindes zu retten.“

Wegen des Folterbeschlusses und der ausgeführten Folterdrohung wurden die beiden Polizeibeamten vergleichsweise spät angeklagt. Die 27. Strafkammer des Frankfurter Landgerichts verurteilte sie in einem höchst ambivalenten Urteil. Fragwürdig ist dieses Urteil weniger wegen des geringfügigen Strafmaßes. Eine Geldstrafe von wenigen Tausend Euro, die das Gericht zur Bewährung aussetzt. Tiefer kann es nicht gehen. Dennoch: wer nicht der These anhängt, dass Strafen der Generalprävention dienen sollen, den wird dieses Strafmaß nicht aufregen.

Fragwürdig ist dieses Urteil auch dort nicht, wo das Gericht den Verstoß der beiden Beamten gegen Grund- und Menschenrechte, gegen die Verfassung, klar markiert. An Artikel 104 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) gibt es nichts zu deuteln. Kein Ermessensspielraum macht staatsbeamtliches Verhalten schwierig: „Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich misshandelt werden.“ Wie mögen ein stellvertretender Polizeipräsident und sein ihm untergebener Kriminalkommissar für ihr wahrhaft schwieriges, gerade darum aber solide Urteilskraft voraussetzendes Amt ausgebildet worden sein? Daschner kann noch vom Begriff der „Verhältnismäßigkeit“ raunen. „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden“, so lautet es erneut unmissverständlich in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grund­freiheiten.

Fragwürdig ist das Urteil, weil bereits die Staatsanwaltschaft ihre Anklage auf den Vorwurf der Nötigung abstellte. Indem sie sich auf den 1953 unzureichend entbräunten Nötigungsparagraphen 240 des Strafgesetzbuchs (StGB) beziehen (müssen), versäumen es die RichterInnen die Frage des „rechtfertigenden Notstands“ (§§ 34 und 35 StGB) gründlicher zu erörtern und in Sachen Polizei als Institution systematisch zu verneinen. (Der § 240 StGB diente übrigens lange als strafrechtliche Mehrzwecknormwaffe gegen die gewaltfreien Blockaden friedenspolitisch engagierter BürgerInnen, der Bundesgerichtshof hat den Missbrauch gestützt. Das Bundesverfassungsgericht hat schließlich dagegen entschieden, den nazigescheitelten Paragraphen aber erhalten.)

Indem das Strafgericht das Problem in Richtung möglicher Nötigung durch zwei beamtete Individuen individualisiert, verniedlicht es den Sachverhalt. Dieser betrifft die Behörde staatlicher Gewaltausübung selbst. Diese Gewaltausübung ereignet sich – im juristischen Deutsch gesprochen – „der Natur der Sache“ nach immer auf der abschüssigen Bahn, die zum Missbrauch führt. Es geht daher nicht um die individuellen Motive zweier Beamte. Diese waren mutmaßlich honorig.

Vielmehr geht es darum, dass staatliche Gewalt, demokratisch und menschenrechtlich verfasst, strikt gezäumt werden muss, wie immer private Institutionen und BürgerInnen im Einzelnen votieren mögen. Solche Zäumung kann, gerade das zeigt der Fall Daschner/Ennigkeit, nicht allein normativ geschehen. Alle Normen sind flexibel, sie erlauben – engere oder weitere – Interpretationen. Normative Restriktionen werden erst dann wirksam, wenn sie durch organisatorische und verfahrensförmige Vorkehrungen gestützt sind.

Wenn massive Menschenrechtsverletzung aufgrund irgendeines wie immer empfundenen Notstands verhindert werden sollen, braucht es mehrere funktionierende innerpolizeiliche und staatsanwaltliche Kontrollstationen. Die Bedenken, die etliche PolizeibeamtInnen im Falle der Daschner-Zumutungen äußerten, stellen deshalb eines der wenigen positiven Zeichen des von den Medien und medientümmelnden PolitikerInnen umstellten Verfahrens dar. Fast alle noch so ehrbaren Motive, die das Gericht für die Angeklagten individuell ins Feld führt, um den kostengünstigen Urteilspreis zu rechtfertigen, hätten darum institutionell folgenreich erörtert werden müssen. Dieses Postulat gilt dem innerpolizeilichen Verfahren, in dem wirkliche Kontrollen fehlen, ebenso wie dem Un-Argument, die Herren seien müde und überfordert gewesen. Es kann und muss dafür Sorge getragen werden, dass nicht müde Nerven schlafbedürftige Polizeivertreter Gewalt ausüben lassen, weil der Beamte als Person statt zu entscheiden, ins Bett muss.

Die Urteilsbegründung des Gerichts überzeugt normativ auch dort nicht, wo es primär auf die „Menschenwürde“ in ihrer „Absolutheit“ (Artikel 1 Satz 1 GG) rekurriert und den Bezug auf Artikel 2 GG (Unversehrtheit des Menschen) hintan stellt. Die Metaphorik der „Würde“ ist ungleich leichter zu dehnen als das Integritätsgebot mit seiner vergleichsweise eindeutigen körperlichen und seelischen Dimension. Tabuisierte kategoriale Allgemeinheiten, hier die Würde-Forderung im juristischen Ist-Stil – „Die Würde des Menschen ist unabtastbar“ –, haben es so an sich, dass sich darunter die kasuistischen Verdrehungen und Verletzungen nur so tummeln können. Der ärgste und am meisten institutionell verfahrenspraktisch verräterische Satz, den Herr Daschner formuliert hat, ist sein Klammervorbehalt: „durch Zufügung von Schmerzen (keine Verletzungen).“ Was kümmern alle möglichen fortdauernd staats-gewalttätig erzeugten Traumata? „Und Maceath, der hat ein Messer, doch das Messer sieht man nicht.“

Folter oder Nicht-Folter

Der Fall Daschner/Ennigkeit lehrt mehr, als sein individualisierendes Abhaken und Unter-den-Teppich-Kehren vermuten lassen. Zum einen, dass man zentrale Normen nicht dadurch intakt halten kann, dass man sie absolut setzt und tabuisiert. Gerade hier gilt, dass Normen nur so gut sind wie ihre organisierten Formen und wirksamen Kontrollen. Die „absoluten“ Normen müssen institutionell verfeinert werden. Die Gegenüberstellung – „entweder wird gefoltert oder es wird nicht gefoltert“ – ist nur auf dem Papier absolut klar. Sie verdeckt das breite Kontinuum zwischen eindeutiger Folter und eindeutiger Nichtfolter. In diesem Kontinuum wird man eine Reihe alltäglicher folterartiger oder sich dem Foltern gefährlich nähernder Erscheinungen bemerken. Man sehe sich nur die Haftbedingungen, die Zwangspsychiatrie, die Situation in den „Asyl“-Lagern und den Abschiebeknästen an. Zum zweiten lehrt der Fall, dass staatliche Gewalt in Zeiten ihrer globalen und national/regio­nalen Enthemmung durch den Antiterrorismus unvermeidlich auf einer Gleitfläche zum Missbrauch steht, weil in diesem „Krieg gegen den Terror“ mehr denn je alle möglichen Sicherheitsnotstände veralltäglicht werden. Darum nutzt auch die Verurteilung einiger unsympathischer TypInnen nichts. Im Gegenteil. Sie legitimiert den institutionell und „rechtsstaatlich“ gewordenen Missbrauch. Dieser Missbrauch geht so weit – und äußerte sich auch rundum das Daschnerverfahren –, dass argumentiert wird, (westlich gebügelte) Menschenrechte müssten nur denjenigen gegenüber strikt eingehalten werden, die auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des westlichen Weltkapitalismus stehen.

Frankfurt ist nicht Guantánamo. Aufweichungen und Ausverlagerungen sind jedoch nicht nur in der US-Politik zu beobachten. „Outsourcing Torture“[3] schließt notwendig mit ein, dass die Ergebnisse der Tortur re-importiert werden.

Ist das Folterverbot also absolut relativ? Nur eine institutionell und prozedural durchsichtig übersetzte, differenzierte Norm wird dem menschenrechtlich zwingendem Folterverbot gerecht. Darum gilt es nach Daschner auch in der BRD umso mehr öffentlich zu kämpfen. Sich auf der absoluten Norm auszuruhen und sich in ihrem Tabu quasi-religiös zu sonnen, dient nur der Legitimation herrschender Dauermissbräuche.

Wolf-Dieter Narr lehrt Politikwissenschaft an der FU Berlin und ist Mitherausgeber von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] Simpson, D.: Are we there yet?, in: London Review of Books v. 17.2.2005, pp. 21-24
[2] www.lg-frankfurt.justiz.hessen.de/internet/lg-frankfurt.nsf/vwContentByKey/W269PML U645JUSZDE
[3] Mayer, J.: Outsourcing Torture. The secret history of America’s ‘extraordinary rendition’ program, in: The New Yorker, February 14-21, 2005, pp. 106-123