von Mark Holzberger
Derzeit wird auf vielfältige Weise versucht, die grenzüberschreitende Polizeizusammenarbeit innerhalb der EU zu intensivieren. Immer voran: das deutsche Bundesinnenministerium.
Für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit europäischer Polizeibehörden ist bisher das Schengener Durchführungsübereinkommen von 1990 (SDÜ) das wichtigste Instrument.[1] Als „Ausgleichsmaßnahme“ zum Wegfall der Binnengrenzkontrollen ermöglicht dieser Vertrag bestimmte Formen grenzüberschreitender Polizeieinsätze (z.B. Observation, kontrollierte Lieferungen, Nacheile), einen gegenseitigen Informationsaustausch und grenzüberschreitende personelle Unterstützung (Art. 39 ff.). Nunmehr soll das SDÜ durch verschiedene EU-Rechtsakte und zwischenstaatliche Abkommen ergänzt werden – mit dem Ziel, grenzüberschreitendes polizeiliches Handeln zu erleichtern.
Im Juni 2005 einigten sich das Europäische Parlament (EP) und der EU-Rat für Justiz und Inneres auf einen „Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen“.[2] Dieser sog. Schengener Grenzkodex enthält die rechtlichen Modalitäten für das Überschreiten sowohl der Außengrenzen der EU als auch der Grenzen zwischen ihren Mitgliedstaaten. Die Verordnung erlangt sofort und ohne Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten Rechtsgültigkeit. Es ist das erste Rechtsinstrument, das unter voller Einbeziehung des Europäischen Parlaments (EP) beschlossen wurde (seit dem 1. Mai 2004 gilt für Maßnahmen, die das Überschreiten der EU-Außen- und Binnengrenzen betreffen, das sog. qualifizierte Mehrheitsverfahren gem. Art. 251 EG-Vertrag, das dem EP volle Mitentscheidungsrechte gewährt.
Ein neuer Schengener Grenzkodex
Das neue Verfahren ermöglichte es dem EP, dem Rat einige vorsichtige Kompromisse abzuringen. So darf z.B. die „eingehende Kontrolle“ von Drittstaatsangehörigen an den Außengrenzen künftig nur noch „unter uneingeschränkter Wahrung der menschlichen Würde“ durchgeführt werden. „Jegliche Diskriminierung von Personen“ ist hierbei zu „vermeiden“ (Art. 5a Abs. 1 und 3). Kontrollierte Drittstaatsangehörige haben das Recht, um die Nennung des Namens und der Dienstnummer der Grenzschutzbeamten zu „ersuchen“ (Art. 6 Abs. 5) – ein vermutlich nur frommer Wunsch. Im Falle einer Einreiseverweigerung haben Drittstaatsangehörige jetzt ein Beschwerderecht, dessen Verfahren sich nach den Bestimmungen des jeweiligen Mitgliedstaates richtet. Den Betroffenen müssen auf jeden Fall die Verweigerungsgründe „genau angegeben“ werden. Auch sind ihnen „schriftliche Angaben“ über rechtliche Vertretungen „auszuhändigen“, die in ihrem Namen gegen diese Einreiseverweigerung vorgehen können (Art. 11 Abs. 2 und 3). Erfreulich ist auch, dass Asylsuchende fortan nicht mehr mit Sanktionen wegen ihres „illegalen“ Grenzübertritts belegt werden dürfen (Art. 4 Abs. 3).
Binnengrenzen dürfen – nach Art. 18 – „an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden.“ Dies war grundsätzlich schon in Art. 2 Abs. 1 SDÜ festgelegt. Der Grenzkodex macht klar, dass dieses Recht „unabhängig davon (gilt), welches die Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen ist“. Das liest sich gut. Allerdings erlaubt der Kodex den Mitgliedstaaten erstens weiterhin, polizeiliche Kontrollen im Gebiet hinter den Binnengrenzen durchzuführen. Diese dürfen jedoch „keine grenzpolizeilichen Maßnahmen zum Ziel haben“ bzw. müssen „in einer Weise geplant und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet“ (Art. 19).
Zweitens hält der Kodex fest, dass „im Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit“ auch künftig grenzpolizeiliche Maßnahmen an den Binnengrenzen wieder eingeführt werden können – „für einen Zeitraum von höchstens dreißig Tagen“, ggf. auch länger. Dies soll auch bei Demonstrationen und Aktionstagen mit grenzüberschreitendem Bezug gelten. Viel müssen die Mitgliedstaaten dabei nicht beachten: Sie sind nur verpflichtet, die anderen Mitgliedstaaten und die EU-Institutionen darüber zu unterrichten.
Überarbeitung des Schengener Übereinkommens
Was die Intensivierung der polizeilichen Zusammenarbeit betrifft, kommt der Grenzkodex nicht über eine Absichtserklärung in Art. 14 hinaus. Dass die EU-Kommission dieses Ziel aber sehr wohl verfolgt, machte sie mit einem Vorschlag für einen Ratsbeschluss deutlich, den sie im Juli 2005 präsentierte.[3] Dabei geht es ihr um vier Punkte:
- eine Verstärkung und Verbesserung des Informationsaustauschs „über alle Angelegenheiten, die die Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden betreffen“: Hier geht es der Kommission um eine faktische Ausweitung des SDÜ. Bestimmte Daten sollen Polizeibehörden künftig ohne Einschaltung der Justiz untereinander austauschen können: Dies betrifft zum einen Daten über FahrzeughalterInnen, InhaberInnen von Telekommunikationsanschlüssen, den Wohnsitz von Personen sowie sonstige Informationen zur Identitätsüberprüfung und zur Spurenfeststellung. Zum andern geht es um Informationen, die polizeiliche Operationen erleichtern sollen: Durchsuchungen, grenzüberschreitende Observationen und Nacheile, kontrollierte Lieferungen und verdeckte Operationen. In diese zweite Kategorie gehören auch Auskünfte über „lokale Banden oder Einzelpersonen und ihren modus operandi“;
- die dauerhafte Koordination strategischer und operativer Tätigkeiten: konkret die Vorbereitung und Durchführung z.B. von Observationen, verdeckten Operationen und kontrollierten Lieferungen – aber ausdrücklich auch um die Einsatzplanung bei Demonstrationen;
- ein gemeinsames Vorgehen bei der Durchführung operativer Tätigkeiten: gemeinsame Patrouillen und Einsätze in Grenzregionen, die Bildung gemeinsamer Ermittlungsgruppen und die Übertragung polizeilicher Aufgaben an Verbindungsbeamte;
- die Einrichtung bzw. Ausweitung dauerhafter grenzüberschreitender Kooperationsformen.
Insgesamt sind die Formulierungen dieses Kommissionspapiers eher allgemein gehalten. Die einzigen expliziten Änderungsvorschläge beziehen sich auf die Art. 40 und 41 SDÜ. Danach sollen grenzüberschreitende Observationen und Nacheile-Aktionen künftig an die Verfolgung von Straftaten gebunden sein, bei denen ein Freiheitsentzug von mindestens zwölf Monaten möglich ist. Bisher lag die Schwelle bei „auslieferungsfähigen“ Delikten – ein Begriff, der in Deutschland und der Mehrheit der EU-Staaten eine Mindesthöchststrafe von einem, in Frankreich aber von zwei Jahren bezeichnet. Die neue Formulierung bewirkt also eine Angleichung auf dem niedrigeren Niveau.[4]
Der Vertrag von Prüm
Konkrete Regelungen zur Ausweitung der grenzüberschreitenden polizeilichen Zusammenarbeit haben jetzt sieben EU-Staaten (Deutschland, Niederlande, Belgien, Luxemburg, Frankreich, Österreich und Spanien) vereinbart, die Ende Mai 2005 in dem in der Hocheifel gelegenen Luftkurort Prüm ein Abkommen gleichen Namens unterzeichnet haben.[5]
Zur Intensivierung der grenzübergreifenden polizeilichen Zusammenarbeit[6] regt dieser Vertrag an, dass die Unterzeichnerstaaten „gemeinsame Streifen sowie sonstige gemeinsame Einsatzformen zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung sowie zur Verhinderung von Straftaten“ einrichten. Jeder Vertragsstaat kann Beamte anderer Vertragsparteien im Rahmen gemeinsamer Einsatzformen mit der Wahrnehmung hoheitlicher Befugnisse betrauen. Diese dürfen dabei nur „unter der Leitung und in der Regel in Anwesenheit von Beamten des Gebietsstaats wahrgenommen werden.“ Grundsätzlich unterliegen die Beamten den Weisungen des Staates, auf dessen Territorium sie agieren (Art. 24). Bei Gefahr im Verzug dürfen Polizeibeamte zudem „im grenznahen Bereich des Hoheitsgebietes einer anderen Vertragspartei nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts des Gebietsstaats vorläufige Maßnahmen treffen, die zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben erforderlich sind“ (Art. 25).
Zur „Verhinderung von Straftaten und zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ u.a. im Zusammenhang von Großveranstaltungen mit grenzüberschreitendem Bezug – also z.B. bei Sportveranstaltungen oder Demonstrationen – dürfen die Polizeibehörden der Vertragsstaaten auch aus eigener Initiative heraus personenbezogene Daten übermitteln, „wenn rechtskräftige Verurteilungen oder andere Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass diese Personen bei der Veranstaltung Straftaten begehen werden oder von ihnen eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht“ (Art. 14). Diese Daten dürfen „nur zu diesem Zweck und für das genau umschriebene Ereignis, für das sie mitgeteilt wurden, verarbeitet werden“. Sie sind „unverzüglich zu löschen, wenn diese Zwecke erreicht worden sind oder nicht mehr erreicht werden können“ – spätestens aber nach einem Jahr.
Bei derartigen Großereignissen sollen sich die zuständigen Behörden der Vertragsparteien nach Art. 26 auch sonst unterstützen, z.B. indem sie sich so früh wie möglich über entsprechende Ereignisse „und damit zusammenhängende Erkenntnisse“ unterrichten und „in ihrem Hoheitsgebiet alle erforderlichen polizeilichen Maßnahmen vornehmen“, „Beamte, Spezialisten und Berater“ entsenden und „Ausrüstungsgegenstände“ zur Verfügung stellen. Was Letzteres bedeutet, zeigt ein Blick in die Schweiz, die auf der Grundlage des Polizeiabkommens mit Deutschland schon seit 2001 von solchen Entsendungen „profitiert“: Anlässlich des G8-Gipfels in Evian im Juni 2003, auf der französischen Seite des Genfer Sees, konnten sich 750 Beamte von Bundesgrenzschutz und Bereitschaftspolizeien der Länder in Genf an der Hatz auf Demonstrierende beteiligen. Und zum Schutz des World Economic Forums in Davos wird das protestierende Publikum alljährlich im Januar von bayerischen und baden-württembergischen Wasserwerfern beglückt.
Kooperation zwischen Deutschland und Österreich
Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit deutscher Polizeibehörden mit ihren europäischen KollegInnen ist Gegenstand eines komplizierten Vertragssystems: Deutschland hat mit all seinen Nachbarstaaten bilaterale Polizei-Abkommen geschlossen.[7] Zudem wurden an vielen EU-Binnengrenzen lokale/regionale Strukturen für einen dauerhaften Kooperations- und Informationsaustausch in Form gemeinsamer grenzüberschreitender Kommissariate bzw. so genannter Zentren für die Zusammenarbeit von Polizei und Zoll geschaffen. Deutschland, die Niederlande und Belgien betreiben seit Jahren auch eine trilaterale Form der polizeilichen Zusammenarbeit im Gebiet um Maastricht, Aachen und Eupen. Seit Februar 2003 gibt es sogar eine regionale, quadrilaterale Kooperationsstruktur zwischen Deutschland, Luxemburg, Frankreich und Belgien.
Ende Juni 2005 hat nun der Deutsche Bundestag das – schon 2003 ausgehandelte – bilaterale Polizeiabkommen mit Österreich verabschiedet.[8] Auch hiermit wird eine Ausweitung der Möglichkeiten des SDÜ bezweckt: Während Kontrollierte Lieferungen nach Art. 73 SDÜ nur zur Bekämpfung des Drogenhandels gestattet sind, dehnt Art. 13 des Abkommens mit Österreich den Anwendungsbereich dieser grenzüberschreitenden Methode um sechs weitere Deliktbereiche aus. Zusätzlich ermöglicht Art. 14 auch den präventiven und repressiven Einsatz Verdeckter Ermittler. Beides war dem SDÜ noch völlig fremd.
Grenzüberschreitende Observationen sind nach dem deutsch-österreichischen Abkommen sowohl zu präventiven Zwecken als auch zur Verfolgung von Delikten gestattet, die mit einer Haftstrafe von mindestens vier Monaten (!) bestraft werden können. Auch die mit Österreich vereinbarte Festhaltebefugnis für observierende Beamte (Art. 11 und 16) kennt das SDÜ bislang nicht. Ebenfalls erweitert wurden die Möglichkeiten zur grenzüberschreitenden Nacheile, die sich zu Zwecken der Gefahrenabwehr bis 150 Kilometer hinter die Grenze erstrecken kann und zur Strafverfolgung ohne jegliche zeitliche oder räumliche Einschränkung gestattet ist (Art. 12 und 17). In Notsituationen – also bei einer gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben – ist ein grenzüberschreitendes Handeln von Polizisten auch ohne Zustimmung der anderen Vertragspartei möglich. Die Einrichtung von sog. Bedarfskontrollen auf dem jeweils anderen Hoheitsgebiet ist allerdings nur mit Billigung des anderen Staates und nur innerhalb eines Fünf-Kilometer-Streifens möglich.
Deutschland als Impulsgeber
Die polizeiliche Zusammenarbeit in Europa wird durch die dargestellten Initiativen sicher nicht revolutioniert. Es geht hier vielfach um die Erleichterung des Polizeialltags in Grenzregionen. Auffallend ist allerdings, dass Demonstrationen und Sportereignisse – spätestens seit einer Entschließung des Rates von Anfang 2004[9] – zu einem Thema aufgestiegen sind, das bei allen Initiativen zur Verstärkung der grenzüberschreitenden polizeilichen Kooperation mitbehandelt wird.
Deutschland ist bei der Themengestaltung und Durchsetzung der hier besprochenen Verträge und Vorschläge stets an vorderster Stelle initiativ gewesen. Dies zeigt sich nicht nur beim Aufbau gemeinsamer Strukturen der regionalen grenzpolizeilichen Kooperation: Das gemeinsame deutsch-französische Grenzkommissariat in Kehl/Offenburg wurde bereits 1995 eingerichtet. Ähnliche lokale Kooperationsstrukturen zwischen Belgien und Frankreich, Frankreich und Italien, Frankreich und Spanien sowie Spanien und Portugal folgten erst deutlich später.
Auch die Anstöße zur Änderung des SDÜ waren immer wieder aus Berlin gekommen: So hatte sich das Innenministerium drei Jahre lang hartnäckig für die Ausweitung der grenzüberschreitenden Observation eingesetzt, die dann im Jahre 2002 beschlossen wurde.[10] Alle relevanten Aspekte des Vertrages von Prüm bzw. des Kommissionsvorschlags zur Erleichterung der grenzüberschreitenden polizeilichen Zusammenarbeit finden sich bereits in den Polizeiabkommen, die Deutschland mit der Schweiz (1999) bzw. mit Österreich (2003) vereinbart hat: vom unmittelbaren Informationsaustausch zwischen den Polizeien über den grenzüberschreitenden Einsatz Verdeckter Ermittler bis hin zur gegenseitigen Unterstützung bei Demonstrationen mit grenzüberschreitendem Bezug.