Reclaim the Streets – Öffentlicher Raum unter staatlicher Kontrolle

von Heiner Busch und Norbert Pütter

Der öffentliche Raum gehört allen. Nur wenn alle Zugang haben, wenn alle gleich unbehelligt bleiben, ist ein Platz, eine Straße, ein Stadtviertel „öffentlich“. Die Wirklichkeit unserer Städte entfernt sich immer weiter von dieser Idee: Der öffentliche Raum wird mehr denn je zum Kontrollraum der Polizei und ihrer neuen Hilfstruppen.

„Reclaim the streets“, kurz RTS – sich die Straße zurückholen. So heißt eine Mischung aus Straßenkarneval und politischer Aktionsform, die zunächst in Großbritannien erprobt wurde und nun auch auf dem Kontinent Anklang findet: ein ungeregelter tanzender und feiernder Umzug, an dem mitmachen kann, wer Lust dazu hat. Die Teilnehmenden erobern zumindest zeitweise den öffentlichen Raum zurück und protestieren so gegen dessen zunehmende private Aneignung und staatliche Verregelung. Genehmigungen durch die kommunalen oder staatlichen Behörden sind dabei sekundär.

RTS-Aktionen folgen gleichsam einem emphatischen Begriff des öffentlichen Raumes in dem Sinne, dass hier Bewegungs- und Versammlungsfreiheit herrscht und Öffentlichkeit hergestellt wird. Die Botschaft lautet: Der öffentliche Raum gehört allen – im Gegensatz zum privaten „umfriedeten Besitztum“.

Die Abgrenzung von öffentlichen und privaten Räumen wird zunehmend undeutlicher. Der Potsdamer Platz in Berlin ist ein sinnfälliges Beispiel dafür. Nach 1989 verkaufte der Berliner Senat große Teile des Geländes an Daimler-Benz und Sony. Der in den Jahren nach der Wende neu bebaute Platz ist zwar öffentlich zugänglich, aber er ist nur zu einem geringen Teil in öffentlichem Besitz. Er funktioniert damit wie ein riesiges Einkaufszentrum: Die Betreiber der ansässigen Geschäfte, Kneipen und Cafés erwarten zwar, dass das Publikum in Scharen kommt. Wenn es kommt, dann soll es aber vorzugsweise konsumieren oder wenigstens den Konsum nicht stören.

Sichtbare Armut, „aggressives“ Betteln, politische Agitation, der Konsum der falschen, weil illegalen Drogen und der Konsum der richtigen, weil legalen Drogen durch die falschen Leute am falschen Platz – all dies wird durch die Privatisierung und Kapitalisierung des öffentlichen Raumes mittlerweile nicht nur in den Räumen missbilligt, wo Private das Sagen haben und ihre kommerziellen Interessen die Richtschnur des Verhaltens sind. Die Regulierung vormals öffentlicher Räume erfolgt heute über Hausordnungen in Bahnhöfen, die mittlerweile privatisiert sind, über Benutzerordnungen für Parks und öffentliche Freiflächen, die zwar öffentlich bleiben aber gewissermaßen einem neuartigen Hausrecht unterstellt werden. Und in Polizeiverordnungen oder Straßensatzungen werden Verhaltensregeln für ganze Städte und Gemeinden aufgestellt.

In den 70er Jahren war das Bettelverbot aus dem Strafgesetzbuch und – zumindest in den Polizeigesetzen einiger Bundesländer – die Aufrechterhaltung der „öffentlichen Ordnung“ aus dem Aufgabenkatalog der Polizei gestrichen worden. Mit der wirtschaftlichen Krise und den Veränderungen der städtischen Ökonomien setzten in den 90er Jahren erneut Versuche ein, „Ordnung“ im öffentlichen Raum über Verbote und Kontrollen durchzusetzen. „Sicherheit“ wurde zu einem Faktor im wirtschaftlichen Wettbewerb – zwischen den Städten, aber auch zwischen den alten Innenstädten und den neuen Einkaufszentren vor den Stadttoren, in denen das Modell einer privatrechtlich regulierten Öffentlichkeit bereits realisiert ist.

Kommunen versuchten das ehemals strafrechtliche Bettelverbot durch kommunales Recht zu ersetzen; „Sich-Niederlassen zum Zweck des Alkoholgenusses“ wurde als Sondernutzung des öffentlichen Raumes deklariert und untersagt. Die „Stadtmöblierung“ (Bänke, Telefonzellen, Wartehäuschen etc.) wurde so umgestaltet, dass sie den Aufenthalt vermiesten. Personelle (Polizei, Ordnungsdienste) und technische (Videoüberwachung) Kontrollen entsprechender Orte wurden verstärkt. Zum Teil entschärften die Gerichte diese Maßnahmen; zum Teil scheiterten die Verschärfungen des kommunalen Rechts oder der gezielten Vertreibung an örtlichen Widerständen. Offenkundig ist jedoch, dass die Koalition aus Stadtführung, Stadtmarketing und Einzelhandel eine Strategie der optischen Säuberung verfolgt, die Armut, Verwahrlosung oder Lebensformen, die den Konsumgenuss stören, aus den zentralen Orten der Städte verdrängen will.

Ideologische Begleitmusik dieses Prozesses war die Diskussion um „Broken Windows“ und um das gefährdete Sicherheitsgefühl. „Broken Windows“ – also die Behauptung, aus kleinen Ordnungsstörungen entwickele sich, wenn sie nicht unterbunden würden, quasi naturgemäß Kriminalität – wurde unter dem Slogan „Zero Tolerance“ zum Schlachtruf für die Absenkung von Eingriffsschwellen. Dabei bestand der Reiz dieser Strategie gerade darin, jeder Diskussion über die Ursachen des (vermeintlich) Störenden aus dem Wege zu gehen. Andernfalls hätte man sich fragen müssen, was bestimmte Gruppen auf die Straße treibt oder zieht, warum die Städte einige ihrer BürgerInnen in der Öffentlichkeit nicht sehen wollen etc.

In der Diskussion über das – angeblich oder tatsächlich – bedrohte Sicherheitsgefühl wird auch legitimatorisch der Bezug zu Kriminalität verlassen. Unter dieser Perspektive ist es unerheblich, ob Personen kriminelle Handlungen begehen. Was zählt ist, dass sie (durch ihre Existenz, durch das, was sie tun) das Sicherheitsempfinden anderer beeinträchtigen (könnten). Der Punker-Treff am Brunnen der Fußgängerzone, die Freizeittrinker vor der Einkaufspassage oder die Jugendclique im Park – sie werden nicht zu sicherheitspolitischen Themen, weil sie Gesetze verletzen, sondern weil sie als störend wahrgenommen werden. Nutzungskonflikte werden so in Sicherheitsfragen verwandelt. Und schnell wird die Lösung bei der Polizei und anderen uniformierten Professionen gesucht.

Diese Politik der Säuberung des öffentlichen Raumes zielt auf alle Gruppen, die dem Idealbild des ewigen Konsumenten, des genießenden Flaneurs oder der wohlanständigen BürgerInnen nicht entsprechen. Soziale Randgruppen sollen unsichtbar gemacht werden. Nicht die der sozialen Randständigkeit zugrunde liegenden Probleme – etwa die neue Armut in den Städten – sollen angegangen werden, sondern die aus ihnen erwachsenden Belästigungen für das Publikum sollen verschwinden. Für die Obdachlosen, Bettler, Junkies oder Alks werden die Lebensbedingungen erschwert. Ihre Lebensform ist an die Infrastruktur zentraler städtischer Räume gebunden.

Die negativen Folgen dieser Art sozialer Kosmetik erstreckt sich aber auf das städtische Publikum insgesamt: Zum einen werden problematische Gruppen in Stadtviertel verdrängt, die bislang unbehelligt waren. Zum anderen haben die etablierten Kontrollregime das Potenzial, alle zu erfassen. Die Videokamera filmt alle; die uniformierte Streife sieht alle – und was heute der biertrinkende Müßiggänger oder das Hundekot nicht auflesende Herrchen ist, kann morgen bereits die Tauben fütternde Rentnerin oder der hinter einer Hecke urinierende Tourist und übermorgen das zur Schau getragene Bauchnabel-Piercing oder die ärmlich-verwahrloste Oberbekleidung sein. Der Versuch, „Ordnung“ im öffentlichen Raum mit Kontrollen und Repressionsdrohungen herzustellen, unterwirft die Gesellschaft insgesamt einem Moral-, Geschmacks- und Modediktat, das einem autoritären System gut zu Gesicht stünde.

Wer schützt die Ordnung?

So wie sich die privaten und die „öffentlichen“ Räume und die privaten und öffentlichen Interessen heute schwerer abgrenzen lassen, so hat sich auch eine Gemengelage bei denen ergeben, die im öffentlich zugänglichen Raum die Ordnung des neuen und alten Anstandes durchsetzen sollen. Für die Polizei war der öffentliche Raum schon immer ihr zentrales Aktionsfeld – schon allein deshalb, weil die BürgerInnen in privaten Räumen stärker vor polizeilichem Eingriff geschützt sind. In den letzten Jahrzehnten sind die traditionellen Begrenzungen des polizeilichen Zugriffs auf die BürgerInnen im öffentlichen Raum erheblich gelockert worden. Durch die systematische Ausdehnung polizeilicher Befugnisse jenseits der konkreten Gefahr oder des konkreten Verdachts können die Kontrollbefugnisse gegen „jedermann“ angewendet werden. Platzverweise, Aufenthaltsverbote oder Videoüberwachung können zwar theoretisch alle treffen, so wie es allen – ob arm oder reich – verboten ist, unter Brücken zu schlafen. Praktisch sind die neuen Befugnisse sehr wohl zugeschnitten auf die klassische Klientel der Polizei – soziale Randgruppen und die städtischen Unterschichten.

Neben die staatliche Polizei ist eine Vielfalt halbstaatlicher und privater Kontrolleure getreten:

  • kommunale Ordnungsdienste, deren Aufmerksamkeit dem Hundekot, illegalem Grillen, Verschmutzungen und Vernachlässigungen des öffentlichem Raumes gilt,
  • staatliche Laienpolizeien mit eingeschränkten Polizeibefugnissen, die die „richtige“ Polizei von der Alltagskontrolle des öffentlichen Raumes entlasten sollen,
  • private Sicherheitsdienste, die im Auftrag öffentlicher Unternehmen, insbesondere im öffentlichen Nahverkehr, tätig sind, um das „Hausrecht“ gegenüber den Kunden durchzusetzen,
  • aus Arbeitsamtsgeldern bezahlte Kiezstreifen, die bei gemeinnützigen Beschäftigungsgesellschaften angestellt sind und Ordnungsstörungen entgegenwirken sollen, und schließlich
  • private Sicherheitsdienste, die im Auftrag von privaten Geschäftsbetreibern arbeiten, dabei jedoch durchaus auch im öffentlichen Raum kontrollieren.

Seit Anfang der 90er Jahre entstanden zudem Sicherheits- und Ordnungspartnerschaften, in denen sich unterschiedliche Kontrollagenturen auf örtlicher Ebene vernetzen. Diese „Partnerschaften“ reichen vom Bundesgrenzschutz über das uniformierte Personal der Ordnungsämter bis zu den Aktivitäten lokaler Präventionsgremien. Ihre Tätigkeiten besteht im Austausch von Informationen, in der Abgrenzung von Zuständigkeiten und der Koordination von Einsatz- und Kontrollstrategien. Unter diesen – zunehmend durch die Videoüberwachung technisch unterstützten – Kontrollregimen ändert sich die Qualität des öffentlichen Raumes: Aus dem Ideal eines staatlich ungehinderten geselligen Verkehrs der BürgerInnen wird ein Raum uneingeschränkter Überwachung.

Was folgt daraus?

Mit den neuen privaten und kommunalen Sicherheitsakteuren wird das staatliche Gewaltmonopol nicht geschwächt. Im Gegenteil erwachsen ihm neue Hilfstruppen, die die Institution Polizei einerseits zugunsten ihres „Kerngeschäftes“ entlasten, sie andererseits aber mit Informationen und Hilfsleistungen versorgen. Durch die ausgedehnten polizeilichen Befugnisse und die vielfach unklare Rolle der neuen HelferInnen wird die Situation derjenigen, die den öffentlichen Raum brauchen, schwieriger. Konflikte und gewaltsame Übergriffe sind vorprogrammiert.

Die lokalen Vertreibungsstrategien sind eine Art Ersatz-Politik. Statt Arbeit, Einkommen und bessere Lebensbedingungen zu schaffen, wird das Kontrollrepertoire aufgerüstet. Die so produzierten „Lösungen“ können nur zu vordergründigen Erfolgen führen, die durch erschwerte Lebensbedingungen für einige und eingeschränkte Handlungsfreiheiten für alle erkauft werden. Deshalb ist „Reclaim the Streets“ nicht nur ein Spaß, sondern eine demokratische Notwendigkeit.

Heiner Busch und Norbert Pütter sind Redakteure von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.

Bibliographische Angaben: Busch, Heiner; Pütter, Norbert: Reclaim the Streets. Öffentlicher Raum unter staatlicher Kontrolle, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 81 (2/2005), S. 6-10

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