Dreißig Jahre Deutscher Herbst – „Die RAF und der linke Terrorismus“ – eine Rezension

Gerade vor dem Hintergrund des neuen globalisierten Anti-Terro­rismus müsste es selbstverständlich sein, dass die Geschichte des „Terrorismus“ (hier: des „alten“, bundesdeutschen, der RAF) zureichend nur verstanden werden kann, wenn die Entwicklung des staatlichen Gewaltmonopols mitgedacht wird.

Die Gedenkjahre kommen in verkehrter Reihenfolge daher: Kaum haben wir den dreißigsten Geburtstag des Deutschen Herbstes von 1977 und seiner Schrecken hinter uns, da rollt der vierzigste der studentenbewegten, tumultösen Ereignisse des Jahres 1968 (die eigentlich ein Jahr zuvor begannen) auf uns zu: 1967 bis 1977 – ein bundesdeutscher Schüttelrost: Der „CDU-Staat“ wurde am Beginn von der Großen Koalition aufgehoben (1966-1969) und vom sozialliberalen Wechselbad abgelöst (1969-1982). Mitten in neuer, kontinuierlich, diskontinuierlich verknäuelter Großer Koalition werden die verblichenen „68er“ und werden ihre utopisch-ruinösen Zeiten medial politisiert.

Bereits im Frühjahr 2007 begannen die Erinnerungsgefechte um den „bundesdeutschen Terrorismus“ und seinen Deutschen Herbst – und zwar in Form einer Debatte über das Schicksal zweier Gefangener, die bereits mehr als zwei Jahrzehnte Haft hinter sich hatten: Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar, beide im September/Oktober 1977 am Mord an Hanns Martin Schleyer und seinen Begleitern beteiligt, 1985 lebenslänglich bestraft, sollten freigelassen (Brigitte Mohnhaupt) bzw. begnadigt werden (Christian Klar). Der Bundespräsident weigerte sich, den Gnadenakt zu vollziehen. Er hätte Christian Klar einige zusätzliche Jahre Haft erspart. Die Diskussion belegte vor allem die bundesdeutsch seit Ende der 70er Jahre allgemein gelernte Art zu trauern: Von Brigitte Mohnhaupt und vor allem von Christian Klar verlangte man öffentlich rollende Schuldbekenntnis- und Reuetränen.

Das Jahr setzte sich mit einer Fülle von Büchern, Artikeln, Stellungnahmen und TV-Beiträgen fort. In informierter Willkür, zugleich in der Hoffnung, als Zeitgenosse neue Informationen und Aspekte zu erfahren, als heimatloser Linker (schon 1968, wieder 1977 und vollends 2007) zugegebenermaßen misstrauisch, habe ich mir eine Veröffentlichung aus dem Hamburger Institut für Sozialforschung zur Besprechung gewählt, die bereits 2006 herausgekommen ist: die beiden von Wolfgang Kraushaar herausgegebenen Bände „Die RAF und der linke Terrorismus“. Auf 1.415 zweispaltig bedruckten Seiten sind hier immerhin 64 Artikel ausgewiesener Autorinnen und Autoren versammelt, die zu einem großen Teil bereits an anderer Stelle publiziert waren.

Der einleitend aufgestellten Forderung, den Terrorismus nicht ohne den Staatsapparat zu betrachten, kommen diese lexikondicken Bücher nur im VII. Teil (S. 932-1184) „Der Staat, die Polizei, und die Justiz“ entgegen. Die Bände heben an mit Slalomkurven zum Terrorismusbegriff, eher mühsam, weil wenig erkenntnislustig zu lesen (S. 13-137). Wozu dieser trocken schleichende „akademische“ Firlefanz ohne Ertrag? „Das Konzept der Stadtguerilla“ mit besonderer Berücksichtigung der RAF füllt den II. Teil (S. 140-314). Anregend, das RAF-Spektrum weitend; spaßig und spannend besonders Sebastian Haffners 1966 erschienener Essay „Der neue Krieg. Mao Tse-tung und der Guerillakrieg“; ärgerlich, kontextfrei und eher peinlich Kraushaar zu „Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf“. Ein später, nasenverstopfter Schnüffelhund liest Spuren falsch: Dutschke ein RAF’sches Vorspiel?[1] Der III. Abschnitt ist einer unbegründeten Auswahl von Porträts gewidmet: „Die RAF-Begründer und ihre Nachfolger“ (S. 316-510): Gelungen ist das in kritischer Sympathie von dem 2005 verstorbenen Jürgen Seifert verfasste Portraits Ulrike Meinhofs, misslungen der Beitrag von Karin Wieland über Andreas Bader – unter anderem, weil die kritische Sympathie hier fehlt. Dunkel bleibt, in welchem Zusammenhang die meist hintergrundslosen Porträts wichtig sein sollen. Dieser Einwand gilt weithin für den IV. Teil ebenso: „Andere bewaffnete Gruppierungen in der Bundesrepublik“ (S. 512-601). Es fehlt in den einzelnen Beiträgen wenn nicht das „geistige“, so doch das im gemeinsamen bundesdeutschen Gesellschafts- und Politikboden liegende Band.

Der V. Teil – „Die RAF – Faktoren und Dimensionen“ (S. 604-733) – enthält lehrreiche, teilweise hinterher noch peinigende Belege und Aspekte. Sei’s beispielsweise von Gisela Diewald-Kerkmann unter dem Titel „Bewaffnete Frauen im Untergrund“.[2] Sei’s von Wolfgang Kraushaar „Antizionismus als Trojanisches Pferd“. Das Manko schreit jedoch. Und es setzt sich fort im VI. Abschnitt, der den 2. Band eröffnet – „Die internationalen Parallelorganisationen und ihre Vernetzungen“ (S. 736-929) –, weil diese „Vernetzungen“ nicht zureichend nachgeknüpft werden; weil der RAF-erhellende Faden nicht angesponnen wird. Hierbei trifft die Feststellung des umfangreichsten, materialgetränkten, wenngleich ereignisgeschichtlich begrenzten Beitrags von Thomas Skeleton Robinson mehr zu, als ich etwa früher ahnte („Die Beziehungen des bundesdeutschen Linksterrorismus zur Volksfront für die Befreiung Palästinas, 1969-1980“): „Es ist praktisch unmöglich, die Geschichte des bundesdeutschen Linksterrorismus zu schreiben, ohne den Kontext des Nahen Ostens und der palästinensischen Bewegung einzubeziehen.“ Ebenso scheint mir die Folgerung richtig: Beide Seiten fanden sich Mitte der 70er Jahre „in einem gemeinsamen Prozess der Radikalisierung zusammen“, ein Prozess – so der Schlusssatz (S. 904) –, der die deutschen Gruppierungen „zum Spielball von Kräften“ werden ließ, „auf die sie keinen Einfluss hatten.“. Auch Christopher Daases Beitrag „Die RAF und der internationale Terrorismus. Zur transnationalen Kooperation klandestiner Organisationen“ führt weiter. Er belegt, wie sehr die RAF mehr und mehr von geborgten Realitäten lebte: „Für die RAF scheint vielmehr zuzutreffen, dass sie zwar durch ihre internationalen Kontakte ihre Existenz relativ lange erhalten konnte, sich aber zugleich spezifische Kooperationsprobleme einhandelte, die zu ihrem politischen Scheitern beitrugen“(S. 908). Diese zutreffende Bemerkung kommentiert indirekt die Behauptung, die RAF habe sich nachhaltig im „Sympathisantensumpf“ gesuhlt.

Der VIII. Teil, „Terrorismus und Medien“ (S. 1060-1184), fällt ziemlich jämmerlich aus. Schon weil fast nur der RAF-Spiegel einiger Medien unzureichend hochgehalten, nicht aber gezeigt wird, wie die RAF im und durch den Medien-Spiegel mitgeschaffen wurde. Ähnliches gilt für den IX. Teil: „Das Terrorismus-Phantom“. Das RAF-Phantom des bundesdeutschen Staates und seiner Sicherheitsorgane – des Bundeskriminalamts (BKA) vorneweg und der ebenso kräftig expandierten Bundesanwaltschaft –, der meisten Medien und der Mehrheit informationell zugerichteter Öffentlichkeit wird nicht einmal angehaucht. Stefan Spillers Artikel über die „Mescalero-Affäre“ ist insgesamt stimmig. Ihm ent­geht nur der das Jahr 1977 auszeichnende systematische Mangel an staatlich-öffentlichem Augenmaß weit über diese Affäre hinaus. Auch die beträchtlichen politisch-persönlichen Kosten werden zu zart angedeutet.

Im X. Teil, vage mit „Hypothesen“ überschrieben (S. 1272-1369), finden sich nachdenkenswerte Essays. Diese formulieren allerdings, ab­gehoben von den anderen Teilen, keine erkundigungsgesättigten Hypothesen. Hinweisen will ich vor allem auf Christoph Türcke: „Martyrium. Terrorismus als Sinnstiftung“, und Christian Schneider: „Omnipotente Opfer. Die Geburt der Gewalt aus dem Geist des Widerstands“. Welch ein Eröffnungszug Schneiders, anzuheben mit Klaus Heinrichs „Versuch über die Schwierigkeit, Nein zu sagen“. Heinrichs, der 2007 achtzig Jahre alt wurde, war studentischer Mitbegründer der Freien Universität. Und was für ein anhaltender Mitbegründer!

Als rasch faules Surrogat der notwendigen Anstrengung einer Zusammensicht folgen in Teil XI. „Nachfragen“ (S. 1370-1411). Es handelt sich um zwei lockere Dreiergespräche: Herausgeber Kraushaar und Institutsvorstand Jan Philipp Reemtsma befragen zuerst Horst Herold, einst BKA-Chef, und dann Hans Magnus Enzensberger, seinerzeit Kursbuch-begleitender Anreger und sprachgewandter Opportunist.

Staatliche Gewalt?

Die Regel, dass man an den Stärken einer Sache, die man präsentiere, ansetzen soll, stimmt. Wenn aber hauptsächliche Schwächen und Einäugigkeit alle Stärken durchdringen? Kontextmängel machen die Beiträge im zusammenhangslosen Zusammenhang bodenlos. Als betrachte man ex post den Kalten Krieg, kritisiere jedoch nur für eine Seite. Die Geschichte der BRD im Umgang mit „anders Meinenden“, der BRD, wie sie seit 1967 und dann besonders seit 1970 leibte und lebte, ihrem staatlichen Herzen und dessen gewaltmonopoligem Schlagen ist meist allenfalls in Spurenelementen zu ahnen. In einem gesellschaftlich so verdichteten und durchstaateten Land wie der postnationalsozialistischen BRD ist jedoch kein soziopolitisches Problem zu behandeln, wenn der definitionskräftig alldurchdringende Kontext draußen vor der Tür harrt. Sonst wird es a-sozial und pseudo-personal traktiert. Als hätte ein missverstandener Max Weber als unbefragte Prämisse allen Beitragenden gegolten: „Staat“ – so zitiert Kraushaar aus Webers „Politik als Beruf“ – „ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebiets … das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht … Es gilt als alleinige Quelle des ‚Rechts‘ auf Gewaltsamkeit.“ Kraushaar interpretiert. „Der entscheidende Punkt ist demnach also nicht die Beanspruchung von Gewalt durch eine Macht, die über derartige Mittel verfügt, den Staat, sondern dessen Monopolanspruch in Verbindung mit Recht und Legitimität“ (S. 23 f.). In der Anmerkung 51 erläutert der Herausgeber weiter: „Wie zentral diese Frage für das politische Selbstverständnis war, zeigte sich später auch darin, dass die jahrelange Weigerung der außerparlamentarischen Linken, das staatliche Gewaltmonopol anzuerkennen, einer öffentlichen Revision unterzogen werden musste.“ (S. 24).

Diese Revision schlug in diesen beiden Bänden erfolgreich durch. Staatliche Gewalt wird entgewaltigt und in ihrer Vorab-Legitimation aufgehoben. Sie wird nicht mehr thematisiert. Sie gilt. Demgemäß werden „Die RAF und der linke Terrorismus“, mit einem Lieblingsausdruck Reemtsmas, „unterkomplex“ reduziert (S. 1366 ff.). Schwer ist es darum, die Absicht zu verstehen, die mit den beiden Bänden verfolgt wird. Es sei denn, man wollte öffentlich von öffentlichen Belangen ablenken, um abseitige Personen in später und paradoxer Schuldvergabe zu markieren. Und das von einem „Institut für Sozialforschung“! Seltsam. Durchgehend fehlt jede Zusammensicht, damit jede eindringliche Analyse. Die RAF und ihre „Generationen“ werden in ihrem abgeschotteten Selbstbezug zwar zu einem Teil wohl begründet, aber scheuklappeneng vorgestellt. Die Selbstbezogenheit wäre ihrerseits gesellschaftlich zu erklären! Just Horst Herold musste im Schlussgespräch darauf hinweisen, dass die RAF auch als ein Seismograph gesellschaftlicher Probleme betrachtet werden muss. Nirgendwo finden sich in den nicht magersüchtigen Bänden Hinweise darauf, wie in der Bundesrepublik im nach-national­sozia­listischen Biedermeier kaltkriegsgerüstet mit Abweichungen – von der Haarlänge über die mangelnde Bügelfalte bis zur „unordentlichen“ wissenschaftlichen wie politischen Konformität – verfahren worden ist. Wie autoritär alle und alles ins herrschende Kanalsystem gepresst wurden. Dass es vor allem an „politischen Gelegenheitsstrukturen“ haperte, auch nach 1969 trotz des leeren Versprechens von Willy Brandt, „mehr Demokratie wagen“ zu wollen.

Gerade wenn man Reemtsmas mehrfach refrainartig wiederholter Aufforderung folgt, lassen seine Antworten und die der beiden Bände in ihrer Anlage heißhungrig zurück. „Die Geschichte der RAF verstehen heißt, die Attraktivität verstehen, die sie für andere hatte“ (S. 1365). Dazu gehören, hier folge ich Reemtsma, ihre anscheinshafte „Entschlossenheit“ und Entschiedenheit; ihr anscheinshaftes „Tun“, jenseits allen Fragens „Was tun?“; ihr anscheinshafter „Durchblick“, den schon Christiane F. von den „Kindern am Bahnhof Zoo“ bewunderte; und schließlich die Pseudoradikalität und Fehlbefreiung durch „Gewalt“. Nur: bei solchen Kennzeichnungen stehen zu bleiben, Darstellung und Analyse staatlicher Gewaltdurchsetzung jedoch auszusparen, eingebettet in die weithin präsente gesellschaftliche Ekstase des kleinbürgerlichen Habitus, heißt das eigene Verständnis und entsprechende Konsequenzen bewusst abzuschalten und den „Wonnen der Undifferenziertheit“ und dem „lieben Leben“ zugleich zu genügen (S. 1368). Warum das die leitenden Autoren dieser Bände taten? Ich ahne es. Da ich jedoch ohne Beleg keine Vermutungen raunen will, mögen die offenen Fragen umso lauter rufen.

Terrorismus und Staatsraison

In Zeiten weiter entgrenzter staatlicher Prävention zu repressiven Zwecken, im Zeichen global herrschaftlich funktionalisierten Antiterrorismus, vom 11.9. manifest bewegt, in Zeiten exkludierender Konkurrenzen, ihren restlosen Erfassungen und Mobilisierungen wird es umso wichtiger, von früheren Erfahrungen in Kontinuität und Diskontinuität zu lernen. Darum, und darum nahezu allein – von den Ermordeten und Angeschlagenen dieser Zeit nicht zu schweigen – lohnt es sich, der terroristisch-antiterroristischen 70er Jahre und ihrer Folgen zu erinnern. Wenige zusammengezogene Bemerkungen müssen genügen.

Zunächst zum Terrorismusbegriff: In Teil 1 des Kraushaar-Unter­neh­mens finden sich ebenso ausführliche wie nutzlos ermüdende Klimm­züge am virtuellen Hochreck eines („des“) Terrorismusbegriffs. Mit Verlaub gesagt: trotz wissenschaftlich umbundener Krawatte albern klingt wiederholtes Bedauern, „den“ Terrorismusbegriff gäbe es nicht. Als könne, solange menschliche Geschichte währt, ein solcher Begriff gewonnen werden. Als wirkte derselbe nicht seinerseits „terroristisch“, als „angewandte Abstraktion“ nämlich etwa in Form strafrechtlicher Normen nach Art der Paragrafen 129a und b Strafgesetzbuch. Gewiss: Kriterien des Wortgebrauchs müssen gefunden und begründet werden, um erkennen, um urteilen, um handeln zu können. Das Kondensat eines aussagekräftigen Begriffs ist jedoch erst zu entwickeln, wenn spezifisch, dem Kontext gemäß vergleichend recherchiert worden ist. Auch dann werden Unschärfen, Ambivalenzen und Ambiguitäten bleiben. Der immer erneuten Anstrengung des Begriffs, als Prozess des Begreifens mit allemal irrtumsoffenem Begriffsschluss entgeht nur, wer fast beliebig füllbare Sachverhaltsflaschen mit prätentiösen Etiketten pseudopräzise bekleben will. Um urteils- und handlungsfrei zu „terrorisieren“, selbstredend mit antiterroristischer Aura.

Ausnahmezustand und Norm: Die offizielle BRD hat ihr 70er Examen nicht bestanden. Nicht nur hat sie mit ihren regierungsamtlich-polizeilichen Ausnahmeaktionen insbesondere 1977 die grundrechtsbestimmten Normen und Institutionen ignoriert. Sie hat vielmehr mit hektisch, aber auf allgemeine Dauer genähten Gesetzen und institutionellen Expansionen (Bundesanwaltschaft, BKA, Verfassungsschutz u.a.) den Ausnahmezustand normiert. Als da sind: Einschränkung der Verteidigungsrechte, Lauschangriffe und Rasterfahndungen und nicht zuletzt eine „Vergeistigung“ terroristischer, immer schon kriminalisiert entpolitisierter Handlungen ineins mit der „Institution“ der „Kontaktschuld“. Durchaus lesenswert ist Kraushaars Beitrag: „Der nicht erklärte Ausnahmezustand“ (S. 1011-1025). Trefflich abgewogen Uwe Wesel zu „Strafverfahren, Menschenwürde und Rechtsstaatsprinzip“ (S. 1048-1059) und Klaus Eschen über „Das sozialistische Anwaltskollektiv“ (S. 957-972). Wie wenig bürgerrechtliche Normen in die Habitus der Bundesdeutschen und ihrer staatlichen Institutionen einschließlich der Richter am Bundesverfassungsgericht eingegangen sind, zeigt schlaglichtartig Carsten Polzin: „Kein Austausch! Die verfassungsrechtliche Dimension der Schleyer-Entscheidung“ (S. 1026-1047). Wie sehr, runderneuert, die STAATS-Tradition Grund- und Menschenrechte überhängt, demonstriert die Diskussionslücke heute. Niemand von irgendeiner offiziellen Seite, der daran gerührt hätte, ob die Entscheidungen des Kanzlers samt seiner Krisenstäbe, ob die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Oktober 1977 grund- und menschenrechtlich wie politisch demokratisch „richtig“ gewesen ist: Hanns Martin Schleyer wurde der über allem thronenden Staatsräson geopfert (hinter der sich allemal höchst winzige Interessen und Herrschaftskalküle verbergen – am ehesten noch akzeptabel die eigene persönliche Angst der Regierenden). Horst Herold räumt immerhin gegen Kraushaar und Reemtsma ein, dass die seinerzeit Regierenden einen „nationalen Notstand“ gesehen hätten und ihm gemäß nahezu alles Sonstige auf eine Rettungskarte setzten – und dies, folgt man der zweibändigen Unsumme in Sachen „RAF“, gegen einen Haufen „verrückter“ Kriegserklärer!

Zu reden wäre hier weiter über die Umpolung und Umorganisation aller Institutionen „innerer Sicherheit“ auf zukunfts- und risikogerichtete „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“, ein Prozess, der in den 70er Jahren ansetzt und mit der Notwendigkeit der Terrorbekämpfung, zumal mit den Ereignissen von 1977, später mit anderen Notwendigkeiten, und heute wieder mit dem Terrorismus gerechtfertigt wurde und wird; über die internationalen Dimensionen im Kontext Innerer Sicherheit und ihre veränderte Bedeutung heute. Vor allem über die Kontinuität der „Unfähigkeit zu trauern“ (nicht unbeschadet der unübersehbaren Unterschiede). Das vor allem anlässlich von Bemerkungen Christian Schneiders (S. 1341 f.).

Ich ende mit dem Schlusssatz von Louise Tremmels Beitrag („Literrorisierung. Die RAF in der deutschen Belletristik zwischen 1970 und 2004“, S. 1154): „36 Jahre nach der Gründung der RAF sind die Deutschen offensichtlich immer erst am Anfang einer wirklich tiefgehenden und umfassenden Beschäftigung mit ihrer Geschichte des Terrorismus.“ Wären die Herausgeber dem Weg gefolgt, auf dem Fritz Sack und Heinz Steinert schon 1984 erste große Schritte gegangen sind[3] – einer deskriptiv-analytischen Entwicklung des Umgangs der etablierten BRD mit der Studentenbewegung und ihrem Umkreis – ihre Bände hätten mehr Anstrengung verlangt. Ihr Ertrag aber hätte, Schillers Glocke gleich, ihre Meister gelobt.

[1] siehe Treulieb, J.: Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf. Einspruch gegen eine unseriöse Legendenbildung, in: Kommune 2007, H. 5, S. 18-21
[2] vgl. auch ihren Beitrag: „Verführt“ – „abhängig“ – „fanatisch“. Erklärungsmuster von Strafverfolgungsbehörden und Gerichten für den Weg in die Illegalität – Das Beispiel der RAF und der Bewegung 2. Juni (1971-1973), in: Weinhauer, K. u.a. (Hg.): Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt a.M.; New York 2006, S. 188-216
[3] Sack, F.; Steinert, H.: Protest und Reaktion, Opladen 1984