Polizeiübergriffe auf ImmigrantInnen – Gewollte Ungleichheit und die Normalität der Gewalt

von Dirk Vogelskamp

ImmigrantInnen berichten immer wieder von polizeilichen Übergriffen. Sie werden beleidigt, geschlagen und gedemütigt. Wie lässt sich diese gewaltsame Polizeipraxis erklären?

Im Dezember 2003 veröffentlichte „Aktion Courage“, eine antirassistische Menschenrechtsorganisation, eine Dokumentation über siebzig ge­waltsame Polizeiübergriffe aus den Jahren 2000-2003, bei denen Flüchtlinge und ImmigrantInnen teilweise schwere Verletzungen davontrugen.[1] Drei von ihnen kamen infolge der Polizeigewalt zu Tode. „Aktion Courage“ spricht in diesem Kontext von schweren Menschenrechtsverletzungen. Otto Diederichs, der die Fälle recherchiert hatte, hält diese nur für „die Spitze eines Eisbergs“, da viele polizeiliche „Übergriffe“ im Polizeigewahrsam stattfänden, wo das Opfer wehrlos/pas­siv und die Öffentlichkeit ausgeschlossen ist. Viele Opfer von Polizeigewalt trauten sich zudem nicht, die Täter in Uniform anzuzeigen. Zumeist müssten sie mit einer Gegenanzeige wegen „Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte“ rechnen. Dieser Vorwurf führe dazu, dass die entgrenzte polizeiliche Gewaltanwendung legitimiert und zumeist politisch gebilligt werde.

In dieselbe Richtung ging der „Deutschland-Bericht“ von amnesty international aus dem Jahr 2004.[2] Sechzehn der zwanzig exemplarisch aufbereiteten „Vorwürfe“ von „ungerechtfertigter Gewaltanwendung“ seitens der Polizei und Fälle des polizeilichen Schusswaffengebrauchs gegen Unbewaffnete betrafen Menschen nichtdeutscher Herkunft.

Die beiden Broschüren erlangten große öffentliche Aufmerksamkeit. Aber auch danach gab es spektakuläre Fälle von polizeilicher Gewalt gegen ImmigrantInnen, darunter auch solche mit tödlichem Ausgang: Laya-Alama Condé starb am 26. Dezember 2004 an einem gewaltsam verabreichten Brechsirup – ein Verfahren zur Erlangung von Beweismitteln, das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte inzwischen als menschenrechtswidrig verurteilt hat. Am 5. Januar 2005 verbrannte Oury Jalloh in einer Gewahrsamszelle der Dessauer Polizei. Am 14. April 2006 starb Dominique Koumadio durch polizeiliche Schüsse in Dortmund; nach Augenzeugenberichten habe für die herbeigerufenen Polizis­ten keine unmittelbare Gefahr bestanden, die den Waffengebrauch gerechtfertigt hätte. Auf der Hagener Polizeiwache fiel am 17. Februar 2008 Adem Özdamar – bäuchlings mit Kabelbindern an Händen und Füßen fixiert – ins Koma. Er verstarb am 5. März im Krankenhaus – vermutlich ein „lagebedingter“ Erstickungstod.[3]

Übergriff?

Die Institution Polizei zeichnet sich durch die Befugnis zur Anwendung legitimer physischer Gewalt aus. Was legitim sein soll, bestimmen in einem Rechtsstaat die Gesetze. Der Terminus „Übergriff“ steht für exzessive, unverhältnismäßige Gewaltanwendung, die über das Maß dessen hinausgeht, was der gesetzliche Rahmen zulässt. Dass ein solches Übermaß an Gewalt strafrechtlich nur schwer nachweisbar ist, ist bekannt.[4] Wo solches dennoch gelingt, haben Polizeiführungen und Politik die Legende vom „schwarzen Schaf“ in der ansonsten weißen Herde bereit. Der Einzelfall soll bestätigen, dass in der Regel alles in Ordnung sei.

In der wissenschaftlichen Diskussion dagegen werden vor allem organisatorische und berufssoziologische Aspekte in den Vordergrund gestellt, um Übergriffe zu erklären: Die Stichworte lauten: „cop culture“ und Korpsgeist, Übernahme politisch hergestellter Feindbilder etc.[5] Die Vorschläge, wie diese „Übergriffe“ vermieden werden könnten, fallen unterschiedlich aus. Ein Teil setzt an der Polizeiausbildung an: Mit Menschenrechtsbildung, Sensibilisierung für eine multikulturelle Ge­sell­schaft, Stressbewältigung etc. scheint sich selbst die Bundesregierung noch anfreunden zu können.[6] Eine stärkere Kontrolle der Polizei von außen, „ein unabhängiges und effektives Beschwerdesystem“, wie es im März 2009 auch der Menschenrechtskommissar des Europarates, Thomas Hammarberg, propagiert hat, lehnt sie nach wie vor ab.[7]

Diese Forderungen sind richtig und wichtig, sie greifen aber wie das organisationssoziologische Erklärungsmodell zu kurz. Sie ignorieren das Kontinuum von „Übergriffen“ und alltäglicher (legaler) Gewalt, der Im­migrantInnen ausgesetzt und unterworfen sind. Der Tod des schwarzen Asylsuchenden Oury Jalloh verdeutlicht das: Er verbrannte am 7. Januar 2005, an Händen und Füßen auf einer feuerfesten Matratze fixiert, im Gewahrsam der Dessauer Polizei. Wie es dazu kam, muss jetzt vor dem OLG Magdeburg erneut untersucht werden. Die entschei­dende Frage aber, die gerichtlich bislang gar nicht zur Sprache kam, lautet: Warum geriet Oury Jalloh überhaupt in die Hände der Staatsgewalt? Die polizeiliche Alltagspraxis gilt es scheinbar nicht mehr zu hinterfragen. Dabei ist sie der Beginn tödlich endender Gewaltverhältnisse: Ein stark angetrunkener Mann wird wegen Belästigung, aber ohne anderen irgendeinen Schaden zugefügt zu haben, gewaltsam mit angelegten Hand- und Fußfesseln in ein Polizeifahrzeug verfrachtet und zur Identitätsfeststellung auf das Revier gebracht. Dort ist er den Beamten bereits bekannt. Er wird untersucht, man nimmt eine Blutprobe. Ein Arzt attestiert ihm wider besseren Wissens Gewahrsamstauglichkeit. Gewaltsam wird er nun in den Zellentrakt bugsiert, in dem er Stunden später stirbt. Warum musste er diese Misshandlung und den Freiheitsentzug über sich ergehen lassen? Spätestens nachdem seine Identität geklärt und er medizinisch versorgt war, hätte man ihn nach Hause schicken können und müssen. Die Gewaltdynamik, die zum Tode Oury Jallohs führte, begann mit einer alltäglichen Polizeipraxis.

Der alltägliche Umgang der Polizei mit ImmigrantInnen unterscheidet sich grundsätzlich von dem mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Er ist geprägt durch systematisch diskriminierende Gesetze und durch das aussondernde Verwaltungshandeln der Ausländerbehörden, dem die Polizei assistiert. ImmigrantInnen kommen einerseits häufiger mit der Polizei in Kontakt. Und andererseits vollzieht sich dieser im gesellschaftlichen Kontext politisch hergestellter Ungleichheit. Polizeiliches Regel- und Ausnahmeverhalten gehen dabei ineinander über, sie lassen sich nicht trennen.

Die Überflüssigen und Unnützen

Nationalstaaten zeichnen sich unter anderem durch zwei Dinge aus: Zum einen, dass sie die eigenen StaatsbürgerInnen gegenüber „Auslän­dern“ privilegieren. Letztere bleiben von den Grundrechten ausgeschlossen und können sich lediglich auf die unverbindlichen und stets prekären Menschenrechte berufen. Zum anderen können Nationalstaaten das Recht beanspruchen, die Zuwanderung auf ihr Territorium zu kontrollieren und festzulegen, wer sich zu welchem Zweck in demselben aufhalten darf und wer nicht.

Das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene „Zuwanderungsgesetz“ ist dabei politisch eindeutig: Es geht um die Zuwanderung hochqualifizierter ArbeitsimmigrantInnen und den Ausschluss derer, die die arbeitsmarkt- und aufnahmepolitischen Kriterien nicht er­füllen. Die letzteren, die „Unnützen“ oder „Überflüssigen“, sollen nach Mög­lichkeit gar nicht erst ins Land hinein gelassen werden bzw. haben es rasch wieder zu verlassen. Demnach entscheidet wesentlich der öko­nomische Nutzen, den Einwanderer mitbringen, ob ihnen Zuwanderung und zeitweilige Niederlassung gewährt wird.[8] Diese aus einem ökonomischen Nutzenkalkül geschaffene, staatlich mit dem zu schützenden Allgemeininteresse legitimierte Spaltungslinie zwischen wirtschaftlich erwünschten und unerwünschten ImmigrantInnen strukturiert das Alltagsbewusstsein derer, die in Behörden mit ihnen zu tun haben. Es leitet ihr Handeln an. Sie müssen verhindern, was populistisch als „Einwanderung in die Sozialsysteme“ bezeichnet wird. Die daraus erwachsende Abwehrhaltung gegenüber MigrantInnen prägt und festigt das institutionelle Selbstbewusstsein der Ausländerverwaltung, die diese einwanderungspolitische Spaltungslinie praktisch umsetzen muss. Ebenso das der Polizei, die – wird der Einsatz von „Zwangsmitteln“ erforderlich – Amtshilfe zu leisten hat.

Das staatliche Steuerungs- und Begrenzungsinstrumentarium spaltet die Zuwanderung aber in noch weitere Segmente. Eine politisch bewusst enggeführte Flüchtlingsdefinition, die sich zwar auf die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 berufen kann, in der aber weder Armut noch existenzielle Perspektivlosigkeit legitime Fluchtgründe darstellen, scheidet zwischen schutzwürdigen und nicht schutzwürdigen Flüchtlingen. Nur sehr wenige Menschen können überhaupt einen Anspruch auf staatlichen Schutz geltend machen. Seit 1993 sorgt ein Kranz gesetzlicher Be­stimmungen dafür, dass das einst persönliche Asylgrundrecht nicht mehr in Anspruch genommen werden kann (sichere Drittstaaten- und Her­kunftsstaatenregelung, Flughafenverfahren, Dublin-Verord­nung, Rück­übernahmeabkommen, Visumspflicht, „carrier sanctions“). Das individuelle Grundrecht wurde in ein Recht des Staates verwandelt, mit dem Menschen rascher aus- oder bereits an den Grenzen zurück­gewiesen werden konnten. Dass „politisch Verfolgte Asylrecht genießen“ (Art. 16a Abs. 1 GG) oder anderweitig Schutz erhalten, ist in der BRD seit Jahren eher die Ausnahme.

Die staatliche Abspaltung eines überwiegenden Teils vermeintlich nicht schutzwürdiger „Wirtschaftsflüchtlinge“ prägt den behördlichen Umgang mit ihnen nachhaltig. Ihre Anwesenheit erscheint pauschal als unberechtigt, als illegitim.[9] Ihr wie auch immer geartetes „Vorbringen“ gilt in der Regel als unglaubwürdig. Sie sind nicht berechtigt, soziale oder politische Ansprüche zu stellen. An der rechtsstaatlich erst produzierten Tatsache geringer „Anerkennungsquoten“ konnten und können die populistisch-rassistischen Kampagnen vom Missbrauch des Asyl- und Sozialrechts mühelos anknüpfen.

Flüchtlinge, die notgedrungen versuchen, ihren Aufenthalt über das Ausnahmegrundrecht „Asyl“ zu legalisieren, werden von der Ausländerverwaltung kontrolltechnisch vollständig erfasst: Sie werden erkennungsdienstlich behandelt, ihre Fingerabdrücke werden in einer Datenbank der EU (EURODAC) gespeichert. Sie werden wie Stückgut „untergebracht“ oder „verlagert“ und mit Lebensmittelgutscheinen oder „Essenspaketen“ „verpflegt“. Sie werden über Jahre in diesem Zustand bürokratischer Abhängigkeit und rechtsstaatlicher Willkür gehalten. Die Lebensumstände, die man ihnen zumutet, liegen noch weit unter dem „Existenzniveau“ hilfebedürftiger deutscher StaatsbürgerInnen. Zudem werden sie in unwirtlichen Gegenden in deprivierenden Massenquartieren und Sammellagern eingepfercht und dürfen den Landkreis, dem sie zugewiesen sind, jeweils nur mit einer Erlaubnis verlassen. Sie werden aus dem sozialen Leben abgeschoben: desintegriert.

In den inzwischen geschaffenen Abschiebelagern werden sie darüber hinaus staatlich zur „freiwilligen Ausreise“ genötigt. Wer gekommen ist, um zu bleiben, soll gehen wollen.[10] Inzwischen haben wir uns an die verobjektivierende und abwertende Sprache in den Gesetzen und an die Praxis der Ausländerverwaltung ebenso gewöhnt wie an die Wiederkehr der Lager. In diesem gesellschaftlichen „Normalzustand“ handeln die Polizeien.

Die Integrationsunfähigen, Illegalen und Kriminellen

Diese aus den aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen erfolgte Stigmatisierung, also die negative Hervor- und Heraushebung eines Teils der nicht-deutschen Minderheit aus der Mehrheitsgesellschaft, wird begleitet von einer Reihe diskriminierender Konstruktionen, die allerdings habhafte Folgen zeitigen. In der seit einigen Jahren öffentlich geführten Integrationsdebatte wird die gesellschaftliche Minderheit durch­weg als politisch und kulturell defizitär dargestellt. Dabei ist gleich, ob ihre einzelnen Mitglieder „aufenthaltsberechtigt“ sind oder nicht. Es spielt keine Rolle, ob sie in der dritten oder vierten Generation in Deutschland leben. Einem Teil der ImmigrantInnen wird gar unterstellt, sie verweigerten sich der „Integration“ oder seien gänzlich integrationsunfähig. Öffentliche Bedienstete haben inzwischen die besondere „Integrationsbedürftigkeit“ (Sprachdefizite, Sozialhilfebezug) legal in Deutsch­land lebender „Ausländer“ an die Ausländerbehörden zu „übermitteln“.[11]

Mit der Integrationsdebatte eng verkoppelt, aber wesentlich älter ist jene über die „Ausländerkriminalität“. Dass dieser „Einkaufskorbbegriff“ für ernstzunehmende kriminologische Analysen nichts taugt, verhindert jedoch nicht, dass er besonders zu Wahlkampfzeiten in ständig neuen Farben ausgemalt wird.[12] Vor allem jugendlichen Immigranten wird der Stempel des kriminellen Kraftprotzes („Intensivtäter“) aufgedrückt. Da­rüber hinaus wird Einwanderung mit kriminellen Großgefahren assoziiert. In den 90er Jahren waren das der internationale Drogenhandel und die „organisierte Kriminalität“, seit 2001 sind es „Islamismus“ und „Terrorismus“. Inzwischen wird EU-weit der „illegalen Einwanderung“ dieselbe Stufe der Gefährlichkeit und Bedrohung zugeschrieben. In der Berliner Erklärung anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge im März 2007 heißt es: „Wir werden den Terrorismus, die organisierte Kriminalität und die illegale Einwanderung bekämpfen. Die Freiheits- und Bürgerrechte werden wir dabei (!) auch im Kampf gegen ihre Gegner verteidigen.“[13] Dass gerade Sans-Papiers unauffällig und „rechtstreu“ leben müssen, weil jeder zufällige Kontakt mit der Polizei zu ihrer Abschiebung führen kann, spielt bei dieser Konstruktion als „gefährliche Klasse“ und als vermeintliche Feinde von Freiheits- und Bürgerrechten keine Rolle.

Der gewaltsame Ausschluss der Unerwünschten

Durch ihre „intensivierten Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen“ konnten die Bundespolizei, die Länderpolizeien und der Zoll im Jahre 2008 insgesamt 51.154 Personen (2006: 64.605) aufgreifen und registrieren, die sich „illegal“, also ohne Aufenthaltstitel im Bundesgebiet aufhielten, so steht es im aktuellen „Migrationsbericht“ des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF).[14] 17.947 (2006: 26.679) dieser Aufgriffe erfolgten in einem 30 Kilometer breiten Streifen hinter den Grenzen, die laut Schengener Vorschriften kontrollfrei sind.

Die „Schleierfahndung“ ist eines der wesentlichen polizeilichen Instrumente hierfür. Die heute als „lageabhängig“ und anfangs ehrlicherweise als „anlass- und verdachtsunabhängig“ bezeichneten Kontrollen haben „die Schleusen für diskriminierende (polizeiliche) Arbeitsroutinen“ geöffnet. Da solche Kontrollen stets selektiv erfolgen – eine totale Kontrolle ist schlicht unmöglich –, liegt ihnen immer schon ein „Verdachtskonstrukt“ zu Grunde. Die Suche nach Personen, die gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen haben oder in „grenzüberschreitende Kriminalität“ verwickelt sein könnten, rückt notwendigerweise „ausländische“ Bevölkerungsteile ins Visier der Polizei. Nicht ein begründeter „Anfangsverdacht“, sondern das äußere Erscheinungsbild (körperliche Merkmale, typische Kleidung etc.) sind die Grundlage des polizeilichen Eingriffs. Ob man will oder nicht: Ohne „racial profiling“ ist Schleierfahndung nicht machbar. Insofern muss von einem institutionellen Rassismus gesprochen werden.[15]

Viele der als „illegal aufgegriffenen“ ImmigrantInnen werden entweder nach der Dublin-Verordnung der EU zwangsweise an einen Nachbarstaat überstellt, in dem sie sich zuerst aufgehalten hatten und wo sie in EURODAC erfasst wurden. Oder sie werden, um ihre „Abschiebung sicherzustellen“, in Abschiebehaft genommen. Diese reine Verwaltungshaft kann bis zu 18 Monate dauern. Nach der Dokumentationsstelle der Antirassistischen Initiative Berlin (ARI) starben zwischen 1993 und 2006 allein 56 Menschen in Abschiebehaft durch Suizid. Nach den sehr sorgfältig jährlich erstellten Dokumentationen der ARI kamen in Folge „staatlicher Maßnahmen“ in dem angegebenen Zeitraum 375 Menschen ums Leben: an den Grenzen, auf der Flucht vor der Polizei, in den Abschiebeknästen, bei Abschiebungen.[16] Viele „Illegale“ werden ausgewiesen oder „auf dem Luftwege“ zwangsweise abgeschoben. Letzteres geschieht zumindest unter Anwendung physischen Drucks. Im Jahr 2008 waren 8.394 Personen (2006: 13.894) davon betroffen. Weitere 5.745 „illegal Eingereiste“ (2006: 4.729) wurden unmittelbar über die Grenzen zurückgeschoben.[17]

Kein Ende der Gewalt

Die „Migrationssteuerung“ und „-kontrolle“ geht mit einem hohen Maß an legalem Zwang und legaler Gewalt gegen ImmigrantInnen einher: bei den Abschiebungen, Überstellungen und polizeilichen Kontrollen, in den Lagern und Abschiebegefängnissen. Die Ausländerbehörden und die ihr assistierende Polizei setzen jeden Tag diskriminierende, ausschließende Sondergesetze um. Sie bewegen sich immer schon auf dem schmalen Grat zwischen legaler Polizeiarbeit und skandalisiertem Übergriff. Die Polizeien sind in diesem strukturell gewaltförmigen Prozess der Immigrationssteuerung auf verschiedenen Ebenen eingebunden. Dieses institutionelle und strukturelle „Eingebundensein“ wirkt sich auf die poli­zeiliche Alltagsarbeit aus.

Bei der Frage, wie es zu polizeilichen „Übergriffen“ kommt, kann dieser politische und rechtliche Rahmen nicht außer acht gelassen werden. Er trägt wesentlich dazu bei, dass das Verhältnis von ImmigantInnen und Polizei in permanenter Spannung gehalten wird, die sich leicht in „exzessiver“ Gewalt entladen kann. „Übergriffe“ sind Ausfluss eines gesellschaftlichen Klimas, in dem die administrative und polizeiliche Abwehr von ImmigrantInnen und deren politisch hergestellte Ungleichheit zur gesellschaftlichen Normalität geworden sind. Wer von „Übergriffen“ re­det, darf die Normalität gewaltfördernder Ungleichheit nicht ausblenden.

Gleichwohl wäre schon einiges gewonnen, wenn in der Polizeiausbildung die Themen Menschenrechts- und Grundrechtsschutz mehr Beachtung fänden und die Polizeien einer stärkeren öffentlichen Kontrolle unterworfen wären. Um der Menschen willen, die diese Gewalt erleiden, wären solche Kontrollgremien wichtig; sie könnten, wie die Erfahrungen von Flüchtlingen und ImmigrantInnen mit der Polizei zeigen, überlebensnotwendig sein. Für eine wirkliche Eindämmung der Gewalt gegen ImmigrantInnen und Flüchtlinge bedarf es jedoch einer anderen europäischen Migrations- und Asylpolitik.

[1] Aktion Courage: Polizeiübergriffe auf Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland 2000-2003, Bonn, Berlin Dezember 2003
[2] amnesty international: Erneut im Fokus. Vorwürfe über polizeiliche Misshandlungen und den Einsatz unverhältnismäßiger Gewalt in Deutschland, Januar 2004, unter: www.amnesty-polizei.de/d/wp-content/uploads/bericht_2004.pdf
[3] Viele alltägliche Fälle dokumentiert die Kampagne für Opfer rassistisch motivierter Polizeigewalt (KOP): Chronik rassistisch motivierter Polizeiübergriffe im Raum Berlin, http://kop-berlin.de/de/chronik.
[4] s. den Artikel von Tobias Singelnstein in diesem Heft
[5] vgl. Feltes, T.: Legitime oder illegitime Gewalt durch staatliche Institutionen: Gewalt und Polizei, in: Schröttle, M.; Heitmeyer, W.: Gewalt, Bonn 2006, S. 539-556; Pütter, N.: Polizeiübergriffe. Polizeigewalt als Ausnahme und Regel, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 67, 3/2000, S. 6-19; Antirassismusbüro Bremen: „Sie behandeln uns wie Tiere.“ Rassismus bei Polizei und Justiz in Deutschland, Berlin/Göttingen 1997
[6] BT-Drs. 16/9061 v. 7.5.2008
[7] vgl. Opinion of the Commissioner for Human Rights, Concerning independent and effective determination of complaints against the police, Commissioner For Human Rights, 12 March 2009 CommDH (2009) 4, Original Version
[8] vgl. Vogelskamp, D.: Einwandern nach Deutschland – Die Aussonderung der „Überflüssigen“, in: Jahrbuch des Komitee für Grundrechte und Demokratie 2003/2004, Köln 2004, S. 93-104
[9] vgl. Vogelskamp, D.: Die unauffällige Gewalt der Immigrationsbegrenzung, in: ila – Zeitschrift der Informationsstelle Lateinamerika 2005, Nr. 283, S. 21 f.
[10] vgl. Hohlfeld, T.; Vogelskamp, D.: Der Krieg gegen die trikontinentale Massenarmut. Migration, Flucht und die Rückkehr der Lager, in: Forschungsgesellschaft Flucht und Migration u.a. (Hg.): AusgeLAGERt, Berlin, Hamburg 2005, S. 111-123
[11] vgl. Hohlfeld, T.: Besondere „Integrationsbedürftigkeit“. Das Richtliniengesetz und seine gesellschaftlichen Folgen, in: nah & fern 2007, H. 37 (Dezember), S. 35-38
[12] vgl. Narr, W.-D.: Kriminalpolitische Kategorie: Ausländer, in Bürgerrechte & Polizei/ CILIP 65 (1/2000), S. 6-13; Brüchert, O.: Die Ausländerkriminalität sinkt nicht. Zum Zusammenhang von Kriminalstatistik und Rassismus, ebd., S. 21-28; Albrecht, H.J.: Illegalität, Kriminalität und Sicherheit, in: Alt, J.; Bommes, M. (Hg): Illegalität. Grenzen und Möglichkeiten der Migrationspolitik, Wiesbaden 2006, S. 60-80
[13] s.www.eu2007.de/de/News/download_docs/Maerz/0324-RAA/German.pdf
[14] s. BAMF: Migrationsbericht 2008, Berlin, Nürnberg Februar 2010, S. 180-197, sämtliche Berichte unter www.bamf.de/cln_101/nn_442016/DE/Migration/Forschung/Ergebnisse
/Migrationsberichte/migrationsberichte-node.html?__nnn=true
[15] s. Herrenkind, M.: „Schleierfahndung“. Institutionalisierter Rassismus und weitere Implikationen verdachtstunabhängiger Kontrollen, in: Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hg.): Verpolizeilichung der Bundesrepublik Deutschland, S. 99-143
[16] vgl. Antirassistische Initiative Berlin: Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen (2 Bände), 14. aktualisierte Auflage, Berlin 2007
[17] siehe BAMF a.a.O. (Fn. 14)

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