Castor Schottern 2010. www.montecruzfoto.org

Castortransport ohne Grundrechte – Böse Schotterer und gute Sitzblockierer?

von Elke Steven

Im November 2010 wurde erneut hochradioaktiver Müll aus der Wiederaufarbeitung in Frankreich ins Zwischenlager Gorleben transportiert. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie hat die Proteste gegen den Castortransport und das Vorgehen der Polizei beobachtet.

In verschiedenen Politikbereichen entsteht der Eindruck, dass sich die Regierungen mit Arroganz über den Willen der Bevölkerung hinwegsetzen und nicht einmal mehr versuchen, ihre politischen Entscheidungen zu vermitteln. Das ruft breite Empörung hervor. Erfahrungen mit polizeilicher Gewalt gegen die Protestierenden führen – wie unlängst das Beispiel „Stuttgart 21“ zeigte – nicht zum Rückzug, sondern zur Haltung „jetzt erst recht“. Dies hätte auch das Motto der Demos und Aktionen gegen den jüngsten Castor-Transport sein können. Kurz zuvor hatte die Bundesregierung mit der Atomlobby eine Laufzeitverlängerung für die bestehenden Atomkraftwerke ausgehandelt. Gegen die Aufkündigung des „Atomkonsenses“, den die KritikerInnen wegen der noch viel zu langen Restlaufzeiten nie als Atomausstieg werten wollten, mobilisierte die Antiatombewegung seit längerem.

Wie in früheren Jahren wartete die Polizei auch diesmal mit Verboten auf. Mit Datum vom 23. Oktober 2010 erließ die Polizeidirektion Lüneburg eine Allgemeinverfügung, mit der sie „Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge“ für den „Zeitraum vom 6.11.2010, 00.00 Uhr, bis zum 16.11.2010, 24 Uhr“ innerhalb eines für den Castor-Transport bestimmten Korridors und in einem Umkreis um Verladekran und Zwischenlager untersagte.[1] Schon für Samstag (6. November) waren unangemeldete, ab Sonntag dann alle öffentlichen Versammlungen in diesem Bereich verboten. Die Verbote sollten außer Kraft treten, „sobald der Castor-Transport vollständig in das umzäunte Gelände des Zwischenlagers eingefahren ist“.

Rechtlich fragwürdig war diese Allgemeinverfügung schon allein deshalb, weil sich die Polizeidirektion zunächst an die Stelle der eigentlichen Versammlungsbehörde, nämlich des Landkreises, setzen musste. Sie begründete dies vor allem mit § 102 Abs. 1 des Niedersächsischen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (NdsSOG), nach dem sie als Fachaufsichtsbehörde aber nur einzelne Maßnahmen zur Gefahrenabwehr übernehmen darf. Im vorliegenden Fall handelte es sich jedoch um die Verlagerung abstrakter Zuständigkeiten im Vorwege.

In der Einleitung ihrer Allgemeinverfügung stellte die Polizeidirektion richtig fest, dass die Behörden „grundsätzlich die Pflicht“ haben, „Versammlungen zu schützen“. Sie tat dies aber nur, um anschließend zu begründen, warum in diesem Fall die Rechte der Protestierenden außer Kraft zu setzen seien. Eigentumsrechte der Betreiber auf einen störungsfreien Transport sollten die Grundrechte aushebeln.

Die Polizeidirektion zitiert zwar rechtfertigend das Bundesverfassungsgericht, das sich immer wieder schützend vor das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gestellt hat. In seinem Brokdorf-Beschluss von 1985 hat das Gericht unmissverständlich festgehalten, dass Versammlungen „ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie“ enthalten, „das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren“. Es stellte fest, dass „für die friedlichen Teilnehmer der von der Verfassung jedem Staatsbürger garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten (bleibt), wenn mit Ausschreitungen durch einzelne oder eine Minderheit zu rechnen ist“. Statt dieser Rechtsprechung zu folgen und zumindest tatsächliche Anhaltspunkte für einen insgesamt unfriedlichen Verlauf zu liefern, zählte die Behörde in ihrer 27-seitigen Verfügung eine Unmenge von Vorfällen aus den letzten 15 Jahren auf. Zur Begründung eines Versammlungsverbotes eigneten sie sich samt und sonders nicht.

Grundrechte – aber nur im kleinen Rahmen?

Im Kapitel „derzeitige Erkenntnisse“ ihrer „Gefahrenprognose“ listete die sich selbst ernennende Versammlungsbehörde vor allem auf, dass der Protest gegen den Castor-Transport – und damit gegen die aktuelle Politik der Bundesregierung – breit sei. Die staatlich gewollte Wiederaufnahme der Erkundungsarbeiten für ein Endlager in Gorleben und die geplante Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke ließen befürchten, dass sich viele Bürger und Bürgerinnen am Protest beteiligen. Als Argument für ein Versammlungsverbot wurde angeführt, dass die den Protest tragenden Gruppen ihre Mobilisierungsbemühungen verstärkt hätten. Sie würden auch überregional, gar über das Internet, werben und Kinospots zeigen. Die „größte Anti-Atom-Manifestation in der Region um Gorleben“ sei angekündigt worden. Viele Organisationen wollten sich daran beteiligen. Aufgerufen wurde auch zu einer Menschenkette von Lüneburg nach Dannenberg. Diese sollte allerdings auf der Straße stattfinden, die außerhalb der von der Verfügung erlassenen Verbotszone liegt, und hatte daher definitiv in der Verfügung nichts zu suchen.

Unter „bisherige Erfahrungen“ führte die Polizeidirektion auf knapp acht Seiten diverse Ereignisse seit dem Jahr 2002 auf, die in den Kontext der Anti-Atom-Proteste gestellt werden: Diverse Sitz- und Stehblockaden hätten stattgefunden; 2008 hätten sich daran sogar Bundestagsabgeordnete beteiligt. Diese Blockade habe sich über zwei Tage hingezogen, andere bis spät in die Nacht gedauert. Einsatzfahrzeuge seien mit Wollknäueln eingesponnen und auch Ankettaktionen seien mehrfach erfolgreich betrieben worden. „Obwohl im Herbst 2007 kein Castor-Transport stattfand, kam es am 08.11.2007 zu einer Schülerdemonstration in Lüchow.“ Teilweise sei es am Rande solcher Aktionen zum Abschießen von Feuerwerkskörpern, zu „vereinzelten Steinwürfen“, zum Anbringen von „Schienenhemmschuhen“ gekommen.

Erwartungsgemäß erwähnte diese Gefahrenprognose nicht, wie oft die Polizei im Verlauf dieser Jahre unverhältnismäßig und rechtswidrig Gewalt angewendet hat. Wiederholt hat das Oberlandesgericht Celle entschieden, dass Einkesselungen und willkürliche Festnahmen größerer Gruppen keine zulässigen Maßnahmen der Polizei im Umgang mit Versammlungen sind: Als rechtswidrig eingestuft wurden der Karwitzer Kessel 1996, der Langendorfer Kessel 1997, die Festnahmen in Aljarn und Hitzacker 2001, der Kessel auf dem Gelände der Freien Schule in Hitzacker 2002, die Einkesselung in Grippel und die des Dorfes Laase 2003.

Feindbild „Schotterer“

Die „Gewaltbereitschaft“, so gestand die Polizeidirektion im gleichnamigen Kapitel ihrer Verfügung zwar ein, habe wie auch die Aggressivität „insgesamt quantitativ abgenommen“. Gleich im Anschluss an diesen Befund postulierte sie jedoch, dass seit 2008 eine „gesteigerte Gewaltbereitschaft zumindest gegen Sachen“ zu verzeichnen sei. Diese wurde hergeleitet aus diversen (angeblichen) Versuchen seit 2003, Straße oder Bahnstrecke zu unterspülen, aus einzelnen Brandanschlägen auf bahntechnische Einrichtungen, die allerdings nicht im Kontext von Versammlungen standen, aus Beschädigungen der Umzäunung des Erkundungsbergwerks und ähnlichen Ereignissen.

Als Beleg für die aktuelle Gewaltbereitschaft führte die Polizeidirektion den Aufruf „Castor schottern“ auf. Atomkraftgegner hatten aufgerufen, massenweise Schottersteine aus dem Bahngleis zu entfernen, das zwischen Lüneburg und Dannenberg nur für den Castortransport genutzt wird. Diese Aktion Zivilen Ungehorsams betonte explizit, dass keine Gewalt angewendet und die Polizei nicht angegriffen werden sollte. Auch in diesem Fall begründete die Polizeidirektion die angebliche Gefährdung vor allem mit der breiten Unterstützung der Aktion: Schon „200 Gruppen und 652 Einzelpersonen“ hätten den auch in der Presse verbreiteten Aufruf unterzeichnet (bis zum 5. November 2010 waren es: 283 Gruppen und 1.497 Einzelpersonen), darunter auch Bundestags- und Landtagsabgeordnete, Gewerkschafter, Künstler und Professoren.

Schon das in der Allgemeinverfügung ausgesprochene Versammlungsverbot stand für eine unzulässige Einschränkung der Grundrechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Nicht tatsächliche Anhaltspunkte auf einen insgesamt unfriedlichen Verlauf der Demonstrationen begründeten das Verbot. Der eigentliche Grund für die Außerkraftsetzung der Grundrechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit wurde darin gesehen, dass „zu erwarten (ist), dass die Proteste und verschiedenen Aktionen nicht nur von einer kleinen Gruppe getragen werden, sondern auch von einer bundesweiten Protestszene.“

Maßlose polizeiliche Gewalt gegen Schotterer

Vor Ort reichten die Versammlungsverbote weit über die in der Allgemeinverfügung benannten Räume hinaus. Versammlungen wurden außerhalb der 50-Meter-Grenze angegriffen. Wie selbstverständlich ging die Polizei davon aus, dass es jedem/r BürgerIn untersagt sei, Straßen und Schienen auch nur zu überqueren. Auch die angemeldeten Veranstaltungsorte und Mahnwachen außerhalb der Verbotszone waren folglich fast unerreichbar.

Schon in der Allgemeinverfügung war unterschieden worden zwischen unerwünschten Protesten und Sitzblockaden einerseits und „Straftaten“ andererseits, die angeblich im Rahmen der Aktion „Castor? Schottern!“ stattfinden würden. Tatsächlich war aber auch diese Aktion symbolisch angelegt, weil eine tatsächliche Gefährdung des Schienenverkehrs auf einer ständig bewachten und überprüften Strecke, die einzig für den Castortransport zur Verfügung steht, gar nicht möglich ist. Sie war bar jeder Heimtücke oder Gefährdung für die Sicherheit. Wie bei den Sitzblockaden, wollten die Protestierenden auf die Schiene vordringen, sich aber nicht hinsetzen, sondern Steine aus den Gleisen sammeln.

Den vielen großen Gruppen, die sich ab Sonntag früh in der Göhrde – zwischen Lüneburg und Dannenberg – von Nord und Süd durch den Wald wandernd – der Schiene näherten, begegnete die Polizei sofort mit massiver Gewalt, wenn sie in die Nähe der Bahnlinie kamen. Ohne jede Vorwarnung setzte sie Schlagstöcke, Gas- und Pfefferspray sowie Wasserwerfer ein und ging auch mit Pferden gegen die Protestierenden vor. Dies geschah selbst dann, wenn sie sich noch außerhalb der 50-Meter-Grenze aufhielten. Ihre Versammlungen wurden nicht als solche behandelt. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit wurde missachtet. Sie wurden weder aufgefordert, außerhalb der Verbotszone zu bleiben, noch wurden ihre Versammlungen für aufgelöst erklärt. Der Einsatz von Gewaltmitteln wurde nicht angekündigt. Noch auf Menschen, die auf dem Boden lagen, wurde eingeschlagen oder -getreten. An vielen Stellen konnte beobachtet werden, wie Polizeieinheiten brüllend und Schlagstock schwingend in den Wald rannten. Ganze Gleisabschnitte lagen nach dem Abschuss von CS-Kartuschen zeitweise unter einer Gaswolke. Dieses Gas behinderte auch die PolizeibeamtInnen selbst. Pfefferspray wurde aus kurzer Distanz in Gesichter gesprüht. 2.190 Kartuschen mit synthetischem Pfefferspray hat die Bundespolizei in diesen Tagen verschossen. Schlagstöcke wurden gezielt auf Knöchel eingesetzt.

Die Polizei versuchte ihr Vorgehen nachträglich mit der Behauptung zu rechtfertigen, es hätte sich um „eine große Anzahl extrem gewaltbereiter Autonomer“ gehandelt.[2] Dass das der Realität nicht entspricht, zeigt unter anderem folgendes Beispiel: Eine Polizeieinheit aus Schleswig-Holstein begleitete eine große Gruppe Demonstrierender von dem Dorf Govelin aus eine knappe Stunde quer durch den Wald. Der zunächst gewählte Abstand ließ sich im Wald nicht lange einhalten, so dass PolizistInnen und AtomkraftgegnerInnen bald gemeinsam, Schulter an Schulter, weiterliefen. Es erfolgten keine Angriffe oder Übergriffe. Als sich diese Gruppe allerdings der 50-Meter-Verbotszone näherte, wurde sie von einer anderen Einheit, einer baden-württembergischen, unvermittelt mit Schlag­stöcken und Pfefferspray traktiert.

Räumung der Sitzblockaden

Neben diesem Protest waren die großen Sitzblockaden auf der Schiene und auf der Straße angekündigt. Gemäß der Klassifikation, auf die sich Politik und Polizei bereits in der Allgemeinverfügung festgelegt hatten, waren hier eher die „guten“ BürgerInnen beteiligt, deren Protest zumindest in Grenzen zu akzeptieren sei. Das ändert nichts daran, dass auch diejenigen, die sich an Blockaden beteiligen wollten, zunächst mit unverhältnismäßiger Gewalt angegangen wurden, als sie am Sonntag Nachmittag versuchten, die Schiene bei Harlingen zu betreten. Eine Frau wurde von einem Polizeipferd verletzt und musste ins Krankenhaus gebracht werden. Andere wurden von Schlagstöcken getroffen. Das polizeiliche Vorgehen änderte sich jedoch, nachdem sich die Protestierenden auf den Schienen festgesetzt hatten. Die Sitzblockade wurde nun akzeptiert und über Stunden konnten Bürger und Bürgerinnen ungehindert kommen und sich dazusetzen. Sie wurden nicht aufgefordert, dies zu unterlassen oder darüber belehrt, dass dies eine Straftat sei. Gewaltmittel wurden nicht angedroht. Scheinbar wurde das Versammlungsrecht, sogar entgegen der Allgemeinverfügung, auf den Schienen gewährt. Aber eben nur hoheitlich toleriert, nachdem BürgerInnen es sich zuvor erkämpft hatten.

Dass auch dieser Schein noch trügt, zeigt das weitere polizeiliche Vorgehen. Zwar führte die Polizei großzügig Gespräche mit der Bürgerinitiative und den OrganisatorInnen der Blockade über das Vorgehen bei der Räumung: Die Bürger sollten weggetragen werden. Man wollte sogar auf die Feststellung der Personalien verzichten. Gleichzeitig betrieb die Polizei jedoch ihre eigene Planung und setzte diese noch in der Nacht zum Montag um, ohne auf die körperliche Unversehrtheit der Protestierenden Rücksicht zu nehmen. Wer sich den ganzen Weg zur Gefangenensammelstelle tragen lassen wollte, dem wurden extrem schmerzhafte Polizeigriffe angedroht. Die Gefangenensammelstelle selbst muss als geplante und systematische Körperverletzung gewertet werden. In einer Wagenburg aus Polizeifahrzeugen sollten die BürgerInnen den Rest der Nacht bei erheblichen Minustemperaturen unter freiem Himmel ausharren. Nach einiger Zeit bot ihnen die Polizei ein merkwürdiges „Geschäft“ an: Man könnte sie in die – warme – Gefangenensammelstelle in Lüchow verbringen, wenn sie vorher ihre Personalien angäben. Auch der verfassungsrechtlich verbürgte Richtervorbehalt bei Freiheitsentziehungen wurde wieder einmal übergangen. Es wurde kein Richter herbeigeholt, um über die Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme zu entscheiden.

Ähnlich erging es der großen Sitzblockade vor dem Zwischenlager, die dort seit Sonntag ausharrte. Die TeilnehmerInnen der Aktion X-tau­send­mal-quer galten als „friedlich“. Sie blieben trotz bitterer Kälte bis in die frühen Morgenstunden des Dienstags sitzen. Dann wurden auch sie geräumt. Anfangs und solange die Presse dort wachte, wurde überwiegend freundlich und verhältnismäßig weggetragen. Je mehr die Bundespolizei zum Einsatz kam, desto ruppiger wurde die Räumung. Später musste immer häufiger beobachtet werden, dass Gliedmaßen verdreht, Personen geschlagen oder an den Rand geworfen wurden.

Dieselben Leute, die zuvor bei der Aktion „Castor? Schottern!“ mitgemacht hatten, galten der Polizei bei diesen Blockaden als „gute“ (wenn auch kritische) BürgerInnen und erfuhren nun eine zumindest tendenziell andere Behandlung. Die BürgerInnen vor Ort jedoch machten diese Unterscheidung nicht mit, sondern beteiligten sich an allen Protestformen und freuten sich über jede Verzögerung des Transportes. Die Bauern der Region unterstützten die Aktionen überall im Landkreis durch Treckerblockaden, die die Nachschubwege der Polizei erheblich behinderten.

Immer wieder haben DemonstrationsbeobachterInnen, Angehörige des Ermittlungsausschusses und RechtsanwältInnen die Erfahrungen ge­macht, dass die Polizei nicht zu Auskünften bereit war. Als Begründung für Absperrungen war zu hören: „Da ist die Transportstrecke; für Grundrechte gibt es jetzt keine Zeit mehr … die Polizeibeamten sind müde und da können wir nicht noch auf Grundrechte Rücksicht nehmen … wir wollen zumindest nicht viele Demonstrierende zu den angemeldeten Mahnwachen lassen … wir tun nur, was die Einsatzführung gesagt hat …“

Polizeiliche Maßnahmen

Einige weitere Verletzungen von Grund- und Menschenrechten können an dieser Stelle nur benannt werden.

  • So ist am Dienstag (9. November) ein professioneller Kletterer, der sich an einen Baum gekettet hatte, ohne Vorwarnung in vier Metern Höhe mit Reizgas angegriffen worden. Er fiel aus dieser Höhe vom Baum und erlitt eine Fraktur im Brustwirbelbereich.
  • Der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) berichtet, dass Polizeibeamte am Montag (8. November) auf drei Höfen in Grippel, Zadrau und Langendorf ohne richterliche Anordnung die Scheunengelände durchsuchten. Zumindest in Grippel waren die Beamten auch gegenüber den Rechtsanwälten weder zu einer Begründung noch zu einer Erörterung des polizeilichen Vorgehens bereit. Sie waren vermummt und nicht gekennzeichnet.
  • Bereits im Vorfeld der Proteste waren fünf AtomkraftgegnerInnen zu einer präventiven erkennungsdienstlichen Maßnahme vorgeladen worden, bei der sie nicht nur Fingerabdrücke abgeben, sondern sich auch körperlich vermessen lassen sollten.

Begleiterscheinungen der polizeilichen Einsätze im Wendland waren auch diesmal die Amtshilfen der Bundeswehr und die Präsenz ausländischer Polizisten (siehe Kasten auf S. 79). Im Kontext der Versammlungen setzte die Polizei ferner Drohnen ein – angeblich nur, um Überblicksaufnahmen vom Demonstrationsgeschehen zu machen. Allerdings erlauben die Videokameras dieser unbemannten Kleinflugzeuge auch das Heranzoomen einzelner Personen.[3]

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Grundrechte als Grundrechte aller Bürger und Bürgerinnen über Tage außer Kraft gesetzt waren. Nicht das Grundgesetz und die Menschenrechte bestimmten den Umgang, sondern die Durchsetzung einer Politik, die den Willen der Bürger ignoriert und Interessen der Atomlobby zum Maßstab macht. Die Ignoranz der Mächtigen wurde auch daran deutlich, dass nur wenige Stunden nach den Protesten das Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie in Hannover den Sofortvollzug der Erkundung des möglichen Endlagers Gorleben angeordnet hat.

Versagt hat an erster Stelle die Politik. Eine Politik, die nur mit massiven Gewaltmitteln gegen „seine“ Bürger durchgesetzt werden kann, ist verfehlt. Versagt hat aber auch die Polizei, die bereit war, ihre Bindung an ein „rechtsstaatliches“ Vorgehen auszusetzen, um einen Transport zu gewährleisten, der mit verhältnismäßigen Mitteln kaum, allenfalls mit sehr viel mehr Zeit hätte durchgeführt werden können. Die Polizeibeamten und -beamtinnen wurden in diesem Einsatz politisch missbraucht, und sie ließen sich missbrauchen. Viele von ihnen scheinen noch immer zu glauben, Befehl sei Befehl und sie hätten ohne eigene Gewissensanstrengung zu gehorchen. Schlimmer noch, sie glauben, diese Haltung hätten auch die BürgerInnen gegenüber der Polizei einzunehmen. Bürger und Bürgerinnen dagegen haben gezeigt, dass es Hoffnung gibt auf einen Souverän, der die Dinge nicht in den Händen der PolitikerInnen belässt, sondern seine Anliegen selbst in die Hand nimmt.

[1] www.grundrechtekomitee.de/sites/default/files/Allgemeinverfuegung.pdf, siehe auch die Presseerklärung des Komitees: www.grundrechtekomitee.de/node/364
[2] Elbe Jeetzel Zeitung v. 8.11.2010
[3] siehe die Meldungen unter Inland aktuell auf S. 86 ff.

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