Chronologie

zusammengestellt von Jan Wörlein

September 2010 (Nachtrag)

30.09.: Stuttgart 21-Proteste: Im Stuttgarter Schlosspark gehen 700 PolizistInnen gegen 5.000 Demonstrierende vor, die gegen das Fällen von Bäumen im Zusammenhang mit dem Stuttgart 21-Bauvorhaben protestieren. Wasserwerfer, Schlagstöcke und Pfefferspray werden eingesetzt. Viele Kinder einer kurz zuvor beendeten Schülerdemonstration sind von den Maßnahmen betroffen. 130 DemonstrantInnen und sechs PolizistInnen werden verletzt. Ein Rentner erblindet nach einem Wasserwerfereinsatz auf einem Auge. 26 Personen werden festgenommen. Die Behörden führen 147 Ermittlungsverfahren gegen 299 namentlich bekannte Beschuldigte und 69 gegen Unbekannt. Am 8. Oktober wird auch ein Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung im Amt gegen einen Polizisten eröffnet.

Oktober 2010

01.10: Elektronische Fußfesseln: Das baden-württembergische Justizministerium stattet in einem Modellversuch erstmals fünf Gefangene und Freigänger mit elektronischen Fußfesseln aus. Neben Hessen ist Baden-Württemberg das zweite Bundesland, das die Geräte testet.

04.10.: Urteil gegen prügelnden Polizisten: Das Amtsgericht (AG) Berlin-Tiergarten verurteilt einen 30-jährigen Beamten wegen Körperverletzung im Amt zu einer Geldstrafe von 4.800 Euro. Bei der „Freiheit statt Angst“-Demonstration im September 2009 in Berlin hatte er einen Demon­stranten in den Rücken geschlagen, als dieser einem Gestürzten beim Aufstehen half. Am 28. Oktober verurteilt das AG Tiergarten einen weiteren Polizisten wegen Körperverletzung im Amt zu einer Geldstrafe von 1.500 Euro. Der 41-Jährige Beamte hatte auf derselben Demonstration einen 17-Jährigen mit der Faust ins Gesicht geschlagen.

07.10.: Rechtswidrige Festnahmen: Das Verwaltungsgericht (VG) Schwerin erklärt mehrere Festnahmen von Demonstranten während des G8-Gipfels in Heiligendamm 2007 für rechtswidrig. Insbesondere die Inhaftierung in Käfigen sei zu beanstanden.

12.10.: Datentransfer an NATO rechtswidrig: Das VG Wiesbaden entscheidet, dass die anlässlich des Straßburger NATO-Gipfels 2009 erfolgte Weitergabe von Daten über deutsche Journalisten durch das Bundeskriminalamt (BKA) an die NATO rechtswidrig war. Ein polnischer Journalist, dem daraufhin die Akkreditierung verweigert worden war, hatte gegen die Übermittlung geklagt.

13.10.: Höhere Strafen bei Widerstand gegen Polizei: Das Bundeskabinett beschließt einen Gesetzentwurf, mit dem das Strafmaß für Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte von zwei auf drei Jahre erhöht werden soll.

14.10.: Rechtsstreit um Überwachung: Im Rechtsstreit zwischen Bodo Ramelow, dem Fraktionschef der Linken im Thüringer Landtag, und dem Landesamt für Verfassungsschutz um die Überwachung des Politikers wird ein Vergleich geschlossen. Der Vergleich beinhaltet die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Überwachung. Nachdem das Bundes­verwaltungsgericht im Juli 2010 Ramelows „Beobachtung“ durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) für rechtmäßig erklärt hatte, erhebt der Politiker am 19. Oktober Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG).

15.10.: Haft für Terrorhelfer: Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main verurteilt einen 28-Jährigen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu drei Jahren und drei Monaten Haft. Salih S. soll für die „Islamische Jihad Union“ (IJU) ein Nachtsichtgerät, GPS-Geräte sowie Outdoor-Kleidung besorgt haben. (Az.: 5-2 StE 8/10 – 5 – 4/10)

21.10.: Keine Anklage gegen Polizisten: Das OLG Nürnberg weist einen Antrag der Eltern des 2009 von Polizisten erschossenen Regensburger Studenten Tenessee Eisenberg auf Erhebung einer Anklage zurück. Die Beamten hätten „mit hoher Wahrscheinlichkeit in Notwehr gehandelt“, so dass kein Anlass für eine Klageerhebung gegeben sei. Am 26. November erhebt die Familie des Toten Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG ein.

Klage gegen Sicherungsverwahrung abgelehnt: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verwirft die Beschwerde eines 65-jährigen Gefangenen. Die Sicherungsverwahrung an sich verstoße nicht gegen die europäische Menschenrechtskonvention, sondern lediglich die deutsche Rechtspraxis ihrer nachträglichen Anordnung.

25.10.: Bewährungsstrafe für Flaschenwurf: Das AG Berlin-Tiergarten verurteilt einen 20-Jährigen wegen schweren Landfriedensbruchs und versuchter gefährlicher Körperverletzung zu acht Monaten Haft auf Bewährung. Der Sozialassistent hatte am Berliner 1. Mai eine Flasche auf Polizisten geworfen. Am 17. November wird ein 24-Jähriger wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung zu einer Bewährungsstrafe von acht Monaten verurteilt. Er hatte ebenfalls am 1. Mai im alkoholisierten Zustand eine Sektflasche auf einen Polizisten geworfen.

27.10.: Polizisten verprügeln Hausmeister: Die Frankfurter Polizei ermittelt wegen Körperverletzung im Amt gegen eigene Beamte. Die Beamten waren wegen eines Einbruchs zu einem Kindergarten gerufen worden, nahmen aber bei der Durchsuchung des Gebäudes statt des Einbrechers den Hausmeister fest, der sie alarmiert hatte. Der 44-Jährige erlitt mehrere Knochenbrüche und Prellungen.

29.10.: Bomben entdeckt: Nachdem saudische Sicherheitsbehörden über mögliche Bomben in aus Jemen kommenden Flugzeugen informieren, werden an Flughäfen in Großbritannien und Dubai zwei in Druckerkartuschen versteckte Sprengsätze entdeckt. Die in Großbritannien aufgefundene Bombe war am Flughafen Köln/Bonn unbemerkt umgeladen worden. Adressat der Paketbomben war eine Synagoge in Chicago. Der Airline Jemenia wird in der Folge die Flugerlaubnis entzogen.

November 2010

02.11.: Bombe im Kanzleramt: MitarbeiterInnen des Kanzleramts entdecken ein verdächtiges Paket aus Griechenland bei einer Vorkontrolle. Die als Büchersendung des griechischen Wirtschaftsministe­riums ge­tarn­te Rohrbombe wird von ExpertInnen des BKA entschärft. Die Bombe ähnelt einem Sprengsatz, der am selben Tag an die deutsche Botschaft in Athen zugestellt wird.

Hessischer „Intrigantenstadl“: Der hessische Innenminister Boris Rhein (CDU) versetzt den Landespolizeipräsidenten Norbert Nedela in den einstweiligen Ruhestand. Hintergrund sind Berichte über geheime Personalakten über missliebige BeamtInnen und Vorwürfe der Manipulation in einem Strafverfahren gegen die Leiterin des hessischen Landeskriminalamtes (LKA) Sabine Thurau. Die Staatsanwaltschaft beschuldigt sie der Falschaussage gegen einen Polizisten, der eine Dienstreise nach Brasilien für einen privaten Abstecher genutzt haben soll. Am 8. Novem­ber wird auch sie „auf eigenen Wunsch“ von ihrem Amt entbunden und ins Innenministerium versetzt, wo sie eine „Konzeption zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität“ erarbeiten soll. In der Folge wird ein neuer polizeiinterner Ansprechpartner für Polizisten eingesetzt.

03.11.: Razzia und Festnahmen bei Nazi-Radio: BeamtInnen des BKA und der Länderpolizeien durchsuchen in zehn Bundesländern 22 Wohnungen von 23 Beschuldigten aus der rechtsextremen Szene. Die 17 Männer und sechs Frauen, die für das „Widerstandsradio“ gearbeitet haben, werden der Volksverhetzung und Bildung einer kriminellen Vereinigung beschuldigt.

Castor-Proteste im Wendland: 50.000 Protestierenden stehen 16.000 PolizistInnen gegenüber. 1.316 Personen werden in Gewahrsam genommen. Gegen 172 laufen Ermittlungsverfahren. 117 Traktoren werden beschlagnahmt. 950 Demonstrierende und 131 PolizistInnen werden verletzt. Die Staatsanwaltschaft Lüneburg ermittelt gegen einen am Einsatz beteiligten französischen Polizisten. Am 1. Dezember teilt das Bundesinnenministerium auf Anfrage der Linken mit, dass 2.190 Dosen Pfefferspray versprüht worden sind (s. den Beitrag in diesem Heft, S. 71-79).

11.11.: Sicherungsverwahrung: In der Auseinandersetzung um die Konsequenzen aus der Entscheidung des EGMR von Ende 2009, wonach die nachträgliche Sicherungsverwahrung gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt, widerspricht der fünfte Senat des Bundesgerichtshofs (BGH) dem vierten. Er stoppt vorerst die Praxis einiger OLGs, welche die Betroffenen nach Ablauf der bis 1998 geltenden Höchstdauer ohne Prüfung einer weiteren Gefährlichkeit aus der Verwahrung entlassen haben. (Az.: 5 StR 394/10)

12.11.: Ärztlicher Leiter straffrei: Die Staatsanwaltschaft Bremen stellt das Ermittlungsverfahren gegen einen mutmaßlichen Mitverantwortlichen des tödlichen Brechmitteleinsatzes an einem Kleindealer 2004 wegen Verjährung ein. Dem Leiter des Ärztlichen Beweissicherungsdienstes und Vorgesetzten des ausführenden Arztes könne keine Fahrlässigkeit nachgewiesen werden.

16.11.: Schadenersatz für Blockade: Das OLG Dresden verurteilt den Bund Deutscher Milchviehhalter für die Blockade der zum Müller-Milch-Konzern gehörenden Molkerei Sachsenmilch im Juni 2008 zu einer Schadenersatzleistung. Die Blockade habe wirtschaftlichen Druck beabsichtigt und sei daher nicht durch die Versammlungsfreiheit gedeckt.

17.11.: Geldstrafe für prügelnde Polizistin: Das AG Limburg verurteilt eine Polizistin wegen Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 5.400 Euro. Die 27-Jährige hatte als Zuschauerin eines Fußballspiels auf zwei Spielerinnen eingeschlagen.

21.11.: Peter Grottian verurteilt: Das AG Lindau verurteilt den emeritierten Politikwissenschaftler Peter Grottian wegen Aufforderung zum Hausfriedensbruch zu einer Geldstrafe von 3.600 Euro. Er hatte bei einem Vortrag in Lindau zu einer „öffentlichen, gewaltlosen, gewissensbestimmten und gesetzwidrigen Bankbesetzung“ aufgerufen. Betroffene Banken hatten keine Strafanzeige gestellt. Der Politikprofessor kündigte Widerspruch gegen den Strafbefehl an.

23.11.: Videoüberwachung von Demos untersagt: Das Oberverwaltungsgericht Münster erklärt die Videoaufnahmen auf einer Anti-AKW-Demonstration in Münster im Juni 2008 für rechtswidrig. Eine anlasslose Kameraüberwachung sei geeignet, BürgerInnen einzuschüchtern und in ihrem Demonstrationsrecht einzuschränken (Az.: 5 A 2288/09; s. den Beitrag auf S. 86 f. in diesem Heft).

26.11.: Kennzeichnungspflicht: Der Berliner Innensenator Erhardt Kör­ting (SPD) kündigt eine Kennzeichnungspflicht für Berliner PolizistInnen ab dem 1. Januar 2011 an. Die BeamtInnen können sich entschei­den, ob sie ihren Namen oder eine fünf- bis sechsstellige Nummer tragen.

30.11.: Telekom-Mitarbeiter verurteilt: Das Landgericht (LG) Bonn verurteilt einen ehemaligen Abteilungsleiter der Telekom wegen Verletzung des Fernmeldegeheimnisses, Untreue und Betrugs zu dreieinhalb Jahren Haft. Der 60-Jährige hatte Verbindungsdaten von Aufsichtsräten und Journalisten überwacht und 230.000 Euro veruntreut.

„Pro Köln“ wird weiter beobachtet: Das VG Berlin lehnt eine Klage der fremdenfeindlichen Gruppierung „Pro Köln“ gegen ihre Nennung im Verfassungsschutzbericht des Bundesinnenministeriums ab.

Dezember 2010

03.12.: Kein Schadenersatz für verletzten Demonstranten: Das LG Rostock weist die Klage eines beim G8-Gipfel 2007 verletzten Demonstranten gegen das Land Mecklenburg-Vorpommern ab. Dem 39-Jährigen war bei einem Wasserwerfereinsatz die linke Augenhöhle zerstört worden. Mecklenburg-Vorpommern sei nicht zuständig, da die Wasserwerferbesatzung aus Nordrhein-Westfalen gekommen sei.

05.12.: Innenministerium verlangt Staatstreue: Das sächsische Innenministerium will eine Verfassungstreueerklärung und eine Absage an die Zusammenarbeit mit „Extremisten“ zur Bedingung von Förderungen für Vereine und Initiativen machen.

06.12.: Massenabschiebung in Berlin: Die Bundespolizei schiebt 45 VietnamesInnen vom Berliner Flughafen Schönefeld ab. Gegen die ausführende Fluggesellschaft Aeroflot gab es zuvor Bombendrohungen.

07.12.: El-Masri verliert Prozess: Das VG Köln weist die Klage des CIA-Entführungsopfers Khaled El-Masri gegen die BRD ab. Die Entscheidung der Bundesregierung, trotz Vorliegens eines von einem deutschen Gericht ausgestellten Haftbefehls die USA nicht um die Auslieferung der der Entführung beschuldigten CIA-Agenten zu ersuchen, sei durch ihren weiten Ermessensspielraum gedeckt. (Az.: 5 K 7161/08)

09.12.: Werthebach-Kommission: Die im April 2010 von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) eingesetzte und vom ehemaligen BfV-Chef Eckart Werthebach präsidierte Kommission zur „Evaluierung der Sicherheitsbehörden“ empfiehlt in ihrem Abschlussbericht eine Zusammenlegung von BKA und Bundespolizei.

12.12.: Vorwürfe gegen Polizisten werden überprüft: Die Berliner Polizei ermittelt nach einer Kundgebung von 100 Personen vor der iranischen Botschaft in Berlin wegen Körperverletzung im Amt gegen mehrere eigene Beamte. Acht Demonstrierende waren verletzt worden.

Bankräuber sterben nach Schießerei: Nach einem Banküberfall kommt es in der Karlsruher Innenstadt zu einer Schießerei zwischen dem Räuberpaar und PolizistInnen. Bei der Flucht eröffnet der Mann das Feuer und trifft eine 28-jährige Polizistin in den Oberschenkel. Beim folgenden Schusswechsel wird er tödlich getroffen, worauf sich seine Be­gleiterin selbst erschießt. 21 Überfälle werden dem Paar zugeschrieben.

14.12.: Razzia bei Islamisten: PolizistInnen durchsuchen in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bremen 23 Vereins- und Privathäuser der Vereine „Einladung zum Paradies“ und „Islamisches Kulturzen­trum Bremen“.

16.12.: Polizeireform beschlossen: Der brandenburgische Landtag verabschiedet ein Gesetz zur „Polizeistrukturreform 2020“. Danach werden 1.900 von 8.900 Stellen gestrichen und ein zentrales Landespolizeipräsidium in Potsdam wird geschaffen.

DHKP-C Mitglieder verurteilt: Das OLG Düsseldorf verurteilt drei Mitglieder der türkischen DHKP-C wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu Haftstrafen zwischen drei Jahren und neun Monaten und sieben Jahren und neun Monaten.

Innenministeriumsneubau begonnen: Bundesinnenminister Thomas de Maizière tätigt den ersten Spatenstich für den 40.000 Quadratmeter großen Bau, der Platz für 1.600 Arbeitsplätze bieten und 2014 eingeweiht werden soll.

21.12.: Überwachung rechtswidrig: Das VG Köln gibt einer Klage des freien Journalisten Friedrich Burschel gegen seine Überwachung durch das BfV statt. Der Verfassungsschutz hatte eine Akkreditierung des Journalisten beim G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 verhindert.

Razzia gegen Rechts: Ermittler durchsuchen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Brandenburg und Niedersachsen Wohnungen von Mitgliedern der Jungen Nationaldemokraten.

22.12.: Verdeckter Ermittler entdeckt: Mitglieder der Heidelberger Kritischen Initiative (KI) enttarnen einen Spitzel des LKA Baden-Würt­temberg, der seit 2009 verschiedene Projekte infiltriert und linke Gruppen bespitzelt hatte.

30.12.: Polizeilicher Todesschuss: Ein Polizist erschießt in München eine 49-Jährige in ihrer Wohnung. Die Polizei war durch den Leiter einer psychiatrischen Einrichtung verständigt worden, seine ehemalige Patientin drohe, ihre 24-jährige Tochter zu töten. Als ein Polizist über den Balkon in die Wohnung eindringt, greift die Frau ihn mit einem Messer an. Ein Pfeffersprayeinsatz bleibt wirkungslos, worauf der Beamte einen Schuss abgibt, der die Frau am Schlüsselbein trifft. Im Krankenhaus erliegt sie ihren Verletzungen. Die Tochter befand sich nicht in der Wohnung.