Sicherheitskampagnen und polizeiliche Gewalt sind regelmäßiger Bestandteil staatlicher Krisenbewältigung.
„Policing the crisis“ lautete der Titel eines vor mehr als drei Jahrzehnten erschienenen Buches von Stuart Hall, Chas Critcher, Tony Jefferson, John Clarke und Brian Roberts.[1] Die Autoren des Centre for Contemporary Cultural Studies schilderten darin zunächst die schnelle Karriere eines neuen Kriminalitätslabels in den Jahren 1972/73: Polizeilich importiert aus den USA, aufgeblasen durch eine Unzahl von Medienberichten sowie durch polizeiliche und regierungsamtliche Stellungnahmen und Aktionsprogramme kristallisierte sich um den Begriff „mugging“ eine sicherheitspolitische Kampagne. Das neue Label stand nicht einfach für Überfälle, wie es sie immer wieder gegeben hatte, sondern wurde zum Synonym für Gewaltkriminalität im öffentlichen Raum, für eine von Jugendlichen und ImmigrantInnen ausgehende Bedrohung, für den Zerfall der Ordnung in den Städten schlechthin. Es bildete die Rechtfertigung für gnadenlose Verurteilungen von bisher nicht Vorbestraften und für ein hartes Vorgehen der Polizei.
Die Krise, die hier „poliziert“ wurde, war nicht nur eine wirtschaftliche, sondern eine grundsätzliche der britischen Gesellschaft und des Staates. Der sozialdemokratische „managed dissensus“, der noch die 60er Jahre kennzeichnete, war zu Ende. Die britische Gesellschaft, so die Autoren, wandelte sich in eine „Law and Order Society“, der Staat zu einem „Exceptional State“. Das dicke Ende sollte jedoch erst im Jahrzehnt darauf unter Margaret Thatcher kommen. Ihre Regierung trieb die britische Wirtschaft durch eine Rezession, privatisierte weite Teile des öffentlichen Dienstes und zerschlug die industrielle Basis des Landes. Polizeiliche Gewalt wurde zum zentralen Element des Umgangs mit politischer und sozialer Opposition – erkennbar an der Niederschlagung des Bergarbeiterstreiks 1984/85 und der Unruhen der schwarzen Jugend (nicht nur) in Brixton 1981 und 1985, die für die Premierministerin schlicht und einfach das Werk von Kriminellen waren.
TINA neu aufgelegt
Margaret Thatcher ist Vergangenheit, ihr Erbe lebt jedoch fort. Ganz im TINA-Duktus der „eisernen Lady“ („there is no alternative“) verkünden die RegierungschefInnen der EU und ihre FinanzministerInnen heute für die tief in der Krise steckenden Staaten insbesondere im Süden Europas nahezu die gleichen Rezepte, die Thatcher dem Vereinigten Königreich in den 80er Jahren verschrieb: Sparen um jeden Preis, Abbau der Defizite, Privatisierung, Senkung von Löhnen und Renten … Die Re-Regulierung des Finanzsektors, die die G20-Staaten 2009, kurz nach Ausbruch der Krise, versprachen, blieb Makulatur.
Die Folgen für die betroffenen Länder sind bekannt: hohe Erwerbslosigkeit vor allem unter Jugendlichen, ein Prozess der Verarmung, der auch die Mittelschicht trifft. Die BRD, so scheint es, hat sich dagegen von der Krise schnell erholt. Sie hat ihre (neoliberalen) Hausaufgaben schon lange gemacht. Sie hat mit der Agenda 2010 einen Niedriglohnsektor geschaffen. Die Folgen der Krise zeigen sich hier nicht flächendeckend, sondern im Detail: in bestimmten Regionen Ostdeutschlands, in Bremen und Nordrhein-Westfalen, in Großstädten wie Berlin und Hamburg, aber auch hier vorab in bestimmten Quartieren – insbesondere jenen mit einem hohen Anteil von ImmigrantInnen.[2]
Letztere stehen denn erneut im Fokus der Sicherheitsdebatten. Und das nicht nur in den Ländern der EU-Südschiene, die dank ihrer geografischen Lage und dank des Dublin-Regimes weitaus mehr Flüchtlinge von außerhalb der EU aufnehmen müssen als der Norden. Vor dem Hintergrund der Verunsicherung durch Krise und Krisenmanagement verzeichnen quer durch Europa rechtspopulistische und –populistische Strömungen Zulauf, von denen sich Regierungen und Staatsparteien zwar distanzieren und deren Bekämpfung sie halbherzig ihren Staatsschutzdiensten anvertrauen, um postwendend auf den Wellen der fremdenfeindlichen und rassistischen Stimmung mit zu schwimmen.
Selbst die Freizügigkeit innerhalb der EU wird nunmehr in Frage gestellt. Eine „Einwanderung in die Sozialsysteme“ soll es nicht geben. Die Räumungen von Roma-Lagern in Italien (ab 2008) und Frankreich (und zwar sowohl unter Sarkozy als auch unter Hollande) waren nur der Anfang. Die „ArmutsmigrantInnen“ aus Rumänien und Bulgarien sind auch in Deutschland im Fokus von Behörden und Polizei. „Wir müssen mit einer Zunahme der Armutsmigration rechnen … Armutsmigration bedeutet auch immer Armutskriminalität“, erklärte der abtretende Berliner Polizeipräsident Dieter Glietsch im März 2009.[3]
Die Rolle der Polizei
Eine „lang anhaltende Krise“, so Glietsch weiter, könne die Polizei aber auch „vor neue Herausforderungen zum Beispiel im Demonstrationsgeschehen“ stellen. Dass die Polizei in Griechenland und Spanien das Instrument ist, mit dem Widerstand gegen die Austeritätspolitik zu rechnen hat, ist deutlich sichtbar. Massive Proteste etwa gegen „Hartz IV“ hat es in Deutschland jedoch nicht gegeben, und es ist fraglich, ob das harte Vorgehen gegen die Blockupy-Demonstration in Frankfurt/Main im Juni 2013 eine Spezialität des Krisenmanagements oder die Fortsetzung der schon vor der Krise üblichen polizeilichen Strategien darstellte.
Mindestens genauso schwierig ist es, im Alltag festzustellen, ob und wie sich die Rolle der Polizei in der Krise verändert. Immerhin gibt es Hinweise – neben der besonderen Aufmerksamkeit für die „ArmutsmigrantInnen“ zum Beispiel, dass die „gefährlichen Orte“, die in Berlin eine verdachtsunabhängige Kontrolle ermöglichen, überwiegend in den von Armut, Erwerbslosigkeit und niedrigen Löhnen am stärksten betroffenen Stadtteilen liegen – in Neukölln, in Kreuzberg-Friedrichshain und im Wedding. Dass diese Kontrollen immer wieder auch von BeamtInnen der Einsatzhundertschaften in der für sie üblichen Montur durchgeführt werden, ergänzt dieses Bild.
Mit den KrisenverliererInnen sind im Alltag aber vorab andere Institutionen beschäftigt – und sie tun das auf ihre Weise: sie individualisieren, halten die Leute auf Trab, üben Zwang aus: Wer seine Arbeit verliert, muss zum Jobcenter, muss Bewerbungen präsentieren und zeigen, dass er/sie arbeitswillig ist. Wer das als Hartz-IV-BezieherIn nicht genügend tut, riskiert Sanktionen, sprich: eine Kürzung des ohnehin knappen Arbeitslosengelds II. Rund 27.000 Hartz-IV-Klagen landeten 2013 allein in Berlin beim Sozialgericht.[4]
Wer als AusländerIn den Nachzug von Kindern erreichen will, muss bei der Ausländerbehörde auch nachweisen, dass er/sie genügend verdient, um die Familie zu ernähren. Paradoxerweise macht eine Anhebung der Hartz-IV-Sätze die Sache hier noch komplizierter, denn wenn das Existenzminimum steigt, wachsen auch die Beträge, die die Migrant-Innen für den Familiennachzug nachweisen müssen.
Wer Mietschulden nicht zahlen kann, bekommt es zunächst mit dem Amtsgericht zu tun und dann gegebenenfalls mit den Gerichtsvollzieher-Innen. In Berlin meldeten diese 2011 insgesamt 6.777 Fälle, bei denen Räumungen zu Obdachlosigkeit führen können. Eine Statistik der Zwangsräumungen selbst führt das Land bislang nicht. Es zählt auch nicht die Fälle, bei denen die Polizei den GerichtsvollzieherInnen Amtshilfe leistete, wie dies im Februar 2013 in Kreuzberg der Fall war. Über 800 PolizistInnen halfen hier, eine Familie auf die Straße zu setzen und Protestierende zurück zu drängen.[5]
Die Polizei ist nicht die einzige und nicht die erste Instanz zur Krisenbewältigung. Das Mittel der Gewalt, über das sie exklusiv verfügt, steht aber letztlich hinter allen bürokratischen Entscheidungen. Das wird spätestens deutlich, wenn sie Amtshilfe leistet oder der „Notfallknopf“ im Sozialamt gedrückt wird. Wo die „vorgelagerten“ Strategien und Instanzen nicht vorhanden sind oder das individualisierte und neoliberal versalzene Zuckerbrot nicht den erwünschten Effekt erzielt, steht die Polizei mit ihrem „präventiven“ und repressiven Potential zur Verfügung.