Auf dem Weg zur Bürgerpolizei? Niedersachsen bringt neues Polizeirecht auf den Weg

von Michael Schütte

Die rot-grüne Landesregierung in Hannover will das Polizeigesetz novellieren. Seit September 2014 liegt ein Entwurf aus dem Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport vor.

„Niedersächsisches Gesetz über die Abwehr von Gefahren“ (NGefAG) soll das Gesetz künftig heißen, der Begriff der „öffentlichen Ordnung“ wird damit aus der Aufgabennorm des Gesetzes gestrichen. Diesen Weg hatte bereits die erste rot-grüne Koalition bei der Novellierung des Polizeirechts in den 90er Jahren beschritten. 2003 hatte eine CDU-geführte Landesregierung das Rad zurück gedreht. Das Gesetz hieß nun wieder „Niedersächsisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ (Nds. SOG), und die „öffentliche Ordnung“ war wieder zum Schutz­gut der polizeilichen Generalklausel erhoben worden. Angstkonstrukte im Kontext eines diffusen bürgerlichen Sicherheitsempfindens konnten der Polizei damit wieder als Begründung für ein Einschreiten gegen Unordnungszustände jedweder Art dienen. Im Berufsverständnis einer Bürgerpolizei soll damit unter Rot-grün nun wieder Schluss sein.

Die Koalition will die Datenerhebung der Polizei einschränken und in Umsetzung von EU-Recht den Datenaustausch mit den EU-Staaten gesetz­lich regeln. Die Voraussetzungen der Videoüberwachung werden enger gefasst, und insbesondere soll der niedersächsischen Polizei der Einsatz automatisierter Kfz-Kennzeichenlesegeräte künftig verwehrt sein. Datenerhebungen durch längerfristige verdeckte Observationen dürfen sich nur noch gegen die VerursacherInnen einer Gefahr richten, gegen nicht verantwortliche Personen sind sie hingegen nicht mehr erlaubt.

Obgleich für den gesamten Komplex der verdeckten Datenerhebung die richterliche Kontrolle ausgeweitet wird, stehen die nach wie vor umfangreichen verdeckten Befugnisse der Polizei heutzutage auch für eine rot-grüne Landesregierung offenbar nicht mehr grundsätzlich zur Disposition. Das hatte Rolf Gössner bereits vor 21 Jahren an der damaligen Novellierung des Niedersächsischen Polizeigesetzes durch die erste rot-grüne Landesregierung kritisch bewertet.[1] Auch die seinerzeitige Koalition hatte es sich zum Ziel gesetzt, eine betont grundrechtsorientierte und bürgerfreundlich arbeitende Polizei (Bürgerpolizei) über die Novellierung eines aus der CDU-Ära resultierenden Polizeigesetzes mit zu entwickeln. Gössner, der seinerzeit als rechtspolitischer Berater der grünen Landtagsfraktion an den vorparlamentarischen Verhandlungen zum Gesetzentwurf beteiligt war, kam zu dem Ergebnis, dass dem Grundsatz einer offen, transparent, berechen- und kontrollierbar gestalteten Polizeiarbeit im Gesetz nicht hinreichend Rechnung getragen worden war. Die damalige rot-grüne Landesregierung sei vom Ziel einer Bürgerpolizei noch „meilenweit entfernt“ gewesen.

Meldeauflagen und Gefährderansprachen

Neben derart grundsätzlichen Aspekten einer offen oder verdeckt agierenden Polizei kommt der Neuentwurf auch durch die Erweiterung po­lizeilicher Befugnisse mit dem Ziel der Bürgerpolizei in Konflikt. Vorgesehen ist eine eigenständige Befugnis der Polizei zum Erlass von Meldeauflagen. Die erfolgten bislang entweder unter Rückgriff auf die Generalklausel, waren also in Bezug auf die Bestimmtheit der herangezogenen Rechtsnorm problematisch, oder lagen über das Pass- und Personalausweisrecht in der Zuständigkeit der Kommunen, was der Polizei entweder zu umständlich war oder nicht den gewünschten Erfolg brachte – etwa wenn die Rechtsbewertung einer Kommune sich der Gefahrenprognose der Polizei nicht anschließen wollte.

Wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass eine Person zu einem bestimmten Anlass eine Straftat begehen wird, soll die Polizei künftig eigenständig diese Person durch die Auflage, sich bei der lokalen Polizeidienststelle zu melden, an den Wohnort binden und sie damit an der Teilnahme an der betreffenden Veranstaltung hindern dürfen. Voraussichtlich werden der Fußball und politische Proteste den Großteil dieser Anlässe ausmachen, und es wird spannend zu beobachten sein, inwieweit die von der Polizei jeweils ausgemachten Tatsachen einer ge­richtlichen Überprüfung standhalten. Mit ihrer Datei „Gewalttäter Sport“ oder besonderen Merkern zur politischen Motivation in ihrem Auskunftsdatenbestand legt die Polizei immerhin einen sehr weit gefassten Gefährderbegriff an, der von Tatsachen zur Begehung von Straftaten, noch dazu bei konkret zu bezeichnenden künftigen Anlässen, gewöhnlich weit entfernt ist. Für die anzustellenden Gefahrenprognosen kommt als kritischer Aspekt hinzu, dass gerade Fußball und Gewalt zu den in hohem Maße medial und innenpolitisch aufgeladenen Themenfeldern der inneren Sicherheit zählen, was einer betont grundrechtsorientierten Po­lizeiarbeit naturgemäß nicht eben förderlich ist.

Auch keine grundlegend neue Befugnis stellen so genannte Gefährderansprachen oder Gefährderanschreiben dar, die sich bislang ebenfalls auf die Generalklausel stützten und künftig in einer speziellen Norm geregelt werden. Die Polizei soll danach Betroffene nur noch an der Wohnanschrift aufsuchen dürfen, womit etwa ein Ansprechen an der Arbeitsstelle, mit dem Ziel, über mögliche Auswirkungen auf das Ar­beitsverhältnis zusätzlichen Druck zu erzeugen, nicht mehr zulässig ist.

Verdachtsunabhängige Kontrollen

Deutlich eingeschränkt werden die Möglichkeiten der Polizei zur verdachtsfreien Kontrolle, was im Kontext eines Racial Profiling der Ausrichtung polizeilicher Kontrolltätigkeit anhand von ethnozentrischen äußeren personenbezogenen Merkmalen wie Hautfarbe oder Herkunft entgegen wirken soll. Derartige Kontrollen der niedersächsischen Polizei werden mit der Neuregelung nicht nur im Anlasszusammenhang und räum­lich weitreichend eingeschränkt. Sie unterliegen darüber hinaus dem Anordnungsvorbehalt einer Behördenleitung und können damit nicht mehr von einzelnen PolizeibeamtInnen an praktisch jedem Ort erfolgen.

Das dient nicht zuletzt dem Schutz der Polizei vor der Diskriminierungsfalle, denn auch mit verdachtsfreien Befugnissen ist eine Kontrolle von Jedermann/Jederfrau unzulässig. Eine daher notwendige Einengung des Betroffenenkreises über den Zweck der Maßnahme führt aber in der Praxis oftmals zwangsläufig in eine Ausrichtung der Kontrolltätigkeit anhand des äußeren Erscheinungsbildes und wirkt sich daher strukturell unzulässig diskriminierend aus. In dieser Systematik ist es folgerichtig, dass die Polizei ebenfalls nicht mehr zu Identitätsfeststellungen an Orten befugt sein soll, an denen sich nach ihrer Einschätzung Personen aufhalten, die gegen aufenthaltsrechtliche Strafvorschriften verstoßen. Diese Befugnis war geradezu ausgerichtet auf eine ethnozentrisch motivierte Kontrolltätigkeit der Polizei an praktisch jedem von ihr zu bestimmenden Ort. Sie soll daher im neuen Polizeigesetz ersatzlos gestrichen werden.

Eingeschränkt wird die maximale Dauer von Freiheitsentziehungen. Der Gesetzentwurf sieht zudem die Möglichkeit jederzeitiger unangekündigter parlamentarischer Kontrolle von Gewahrsamseinrich­tungen der Polizei und der konkreten Umstände eines Gewahrsams vor. Die Par­lamentarierInnen sollen dabei auch vertrauliche Gespräche mit akut Betroffenen führen können. Das rückt einen der schwerwiegendsten Grundrechtseingriffe der Polizei über den Richtervorbehalt hinaus in besonderer Weise in den Fokus einer Überprüfung der Verhältnis­mäßigkeit. Die neue Regelung kann einen bedeutsamen Beitrag dazu leisten, den nicht selten Angst auslösenden Zustand von Gewahrsamsräu­men der Polizei und den oftmals als entwürdigend wahrzunehmenden Gewahrsamsabläufen schon organisationsintern größere Bedeutung beizumessen.

Nicht ganz unwichtig, wenn auch in der Praxis bislang ohne konkrete Bedeutung, sieht das Gesetz quasi eine Teilentwaffnung der Polizei vor. Künftig sollen auch Unterstützungskräfte der Bundespolizei in Nieder­sachsen nicht mehr zum Einsatz von besonderen Waffen – also Maschinengewehren, Handgranaten oder Panzerfäusten – ermächtigt sein. Im Verständnis der Rolle und Funktion einer zivilen Bürgerpolizei eine sicher überfällige und in Zeiten ausufernder Terrorängste zugleich beruhigende Entwicklung.

Bußgelder für ungehorsame BürgerInnen

Soweit so gut, möchte man meinen, denn der Entwurf verfolgt doch deutlich die in der rot-grünen Koalitionsvereinbarung festgeschriebene Zielsetzung, die Bürgerrechte zu stärken, was naturgemäß immer gleichbedeutend damit ist, die Befugnisse der Polizei einzuschränken oder an engere Voraussetzungen zu knüpfen. Vor dem Hintergrund dieser Zielsetzung, die Polizei im Berufsverständnis einer Bürgerpolizei weiter zu entwickeln, wirft aber eine zunächst vielleicht eher unscheinbare Neuregelung Fragen auf.

In den Polizeigesetzen der Länder sind neben Generalklauseln und Standardmaßnahmen vor allem die Anwendung von Zwangsmitteln und die Erhebung von und der Umgang mit Daten geregelt. Wie die Prozessordnung im Strafrecht zählt ein Polizeigesetz daher zum sogenannten Eingriffsrecht, das sich in der Gesetzessystematik an die Institutionen des Staates richtet, deren Handeln im Sinne eines wirksamen Grundrechtsschutzes möglichst klaren Regeln und Beschränkungen unterworfen werden soll. Obgleich ein/e PolizistIn mit der Wahr­nehmung etwa der Befugnis zum Platzverweis von Betroffenen eine bestimmte Handlung verlangt, richtet das Eingriffsrecht selbst keine Forderungen an solchermaßen polizierte BürgerInnen. Wer einen Platzverweis nicht befolgt, muss mit Zwangsmitteln rechnen oder sogar eine Freiheitsentziehung gewärtigen, aber er oder sie verwirklichte darüber hinaus bislang keinen Tatbestand.

Mit der Neuregelung des Polizeigesetzes soll das in Niedersachsen künftig anders sein. Aufgenommen werden soll ein eigenständiger Tatbestand, der nicht das Handeln von Polizei und Verwaltung zur Abwehr von Gefahren regelt, son­dern vielmehr die nachträgliche Ahndung des Nichtbefolgens einer Polizeimaßnahme zum Ziel hat. Einstweilen sieht der Gesetzentwurf eine solche Ahndung für das Nichtbefolgen von Platzverweisen sowie Aufenthalts- und Betretungsverboten vor. Es braucht hingegen nicht eben viel Phantasie, sich solche Ahn­dungen auch für weitere Polizeimaßnahmen vorzustellen. Dann droht vielleicht künftig ebenso ein Bußgeld, wenn die Betroffenen einen Berechtigungsschein nicht widerspruchslos aushändigen, ihre Identität nicht unmittelbar preisgeben, einer Meldeauflage oder Vorladung der Polizei nicht nachkommen oder sich gegen eine erkennungsdienstliche Behandlung sperren. Ordnungswidrig handelt, wer vorsätzlich oder grob fahrlässig einem Platzverweis nicht nachkommt oder einem Aufenthalts- und Betretungsverbot zuwiderhandelt, soll es demnach im Gesetz künftig heißen. Als Ahndung drohen Geldbußen bis zu 5.000 Euro.

Anstatt in einem vergleichsweise engen gesetzlichen Rahmen Zwangsgelder androhen und beitreiben zu müssen, kann die Polizei künf­tig einfach ein Bußgeld verhängen, wenn sie ihre Weisungen nicht angemessen befolgt sieht. Schärfere Gesetze und eine harte Hand die durchgreift, sind bekanntermaßen hochgradig beliebte Stilmittel auch sozialdemokratisch legitimierter Innenpolitik. Einer Polizei, die sich zunehmend als Opfer von Respektlosigkeit und Gewalt erlebt und schon von daher einer allenthalben notwendigen Strafverschärfung gern das Wort redet, wird es gefallen, ein Instrument mehr zum Abstrafen von BürgerInnen in die Hand zu bekommen – zumal das Gesetz die Polizeibehörden zugleich als Verfolgungsbehörden ermächtigt und die Polizei die Geldbußen folglich höchstselbst verhängen und beitreiben darf. Da werden BürgerInnen für notwendigen zivilen Ungehorsam nach der formalen Auflösung demonstrativer Blockadeaktionen künftig nicht mehr nur durch Wegtragen eines Platzes verwiesen, da darf die Polizei für derart ‚respekt­lose Erschwernisse‘ ihrer Arbeit auch gleich einmal mit einem Bußgeld nachlegen.

Mit den BürgerInnen glaubt die Innenpolitik es offenbar machen zu können. Hingegen heißt es in dem Gesetzesentwurf nicht: Wer in Ausfüh­rung dieses Gesetzes vorsätzlich oder grob fahrlässig seine Befugnisse fehlerhaft anwendet oder die Verhältnismäßigkeit der Mittel gröblich verletzt, begeht eine Ordnungswidrigkeit, die mit Geldbuße geahndet wird. Warum eigentlich nicht? In der Denke, das Eingriffsrecht zu Teilen in ein Tatbestandsrecht umzugestalten, könnte das doch ebenso nahe liegen. Doch das hieße für unsere Innenpolitik, sich mit der Polizei und deren Berufsvertretungen anzulegen, und das kommt wohl eher nicht in Frage. Offen bleibt, wie weit unsere Innenpolitik noch weitestgehend widerspruchsfrei gehen und im Namen der Sicherheit fort­laufend neue Tatbestände schaffen oder Strafen verschärfen darf. Sicherheit als Grundrecht pervertiert bekanntermaßen die Idee des Rechtsstaats. Der hat nicht die primäre Aufgabe, immer weitreichender Treue gegenüber seinen ausufernden Regeln zu verlangen, sondern zuallererst die BürgerInnen wirksam vor der Willkür seiner Institutionen zu schützen.

[1]   Gössner, R.: Die Novellierung des Niedersächsischen Polizeigesetzes. Rot-grüne „Gefahrenabwehr“, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 45 (2/1993), S. 64-71