Praktizierte Distanz zur Polizei – Erfahrungen in der Straßensozialarbeit mit Jugendlichen

Interview mit Christian Schramm, Gangway e.V.

Keine Weitergabe personenbezogener Daten, keine Angaben zu konkreten Personen oder Gruppen an die Polizei – dieser Grundsatz müsse durchgehalten werden, sagt der Sozialarbeiter Christian Schramm. Norbert Pütter befragte ihn über seine Erfahrungen mit Jugendlichen und Polizei.

Der 1990 gegründete Verein „Gangway e.V.“ ist der größte Träger von Straßensozialarbeit in Berlin. Rund 70 SozialarbeiterInnen arbeiten gegenwärtig in 23 Teams. In den 14 regionalen Teams, die jeweils mit drei Personen besetzt sind, wird klassische Straßensozialarbeit mit Jugendlichen gemacht.[1] Unser Interviewpartner arbeitet im „Team Tiergarten“ im Stadtteil Moabit, der zum Bezirk Mitte gehört.

Norbert Pütter: Seit wann arbeiten Sie als Streetworker bei Gangway?

Christian Schramm: Seit 15 Jahren. Also eigentlich seit 16 Jahren, aber zwischendurch habe ich ein Jahr in einem Projekt zur U-Haft-Ver­meidung gearbeitet, kam dann aber wieder zu Gangway.

NP: Ihre regionalen Teams sind auf die Arbeit mit Jugendlichen ausgerichtet. Gibt es bestimmte Gruppen oder Milieus von Jugendlichen, auf die Ihre Arbeit zielt?

CS: Nein. Gangway versucht, in dem Stadtteil, in dem man arbeitet, an alle Milieus ranzukommen. Es ist nicht so, dass wir etwa sagen, wir arbeiten nur mit türkischen oder arabischen Jugendlichen, weil die hier die Mehrheit darstellen, sondern wir gehen nach dem Bedarf, der auf der Straße ist. Wir sagen nie, mit der oder der Gruppe arbeiten wir nicht, weil wir etwa nicht die kulturelle Kompetenz haben. Das muss man sich dann eben selber erarbeiten.

„Betriebsgeheimnisse“

NP: Spielt in Ihrer Arbeit mit den Jugendlichen die Polizei eine Rolle? Kommen Sie überhaupt in Kontakt mit der Polizei?

CS: Kontakt mit der Polizei – der findet auf der Straße immer wie­der statt. Etwa wenn ich zufällig dabei bin, wenn Jugendliche festgenom­men werden. Mich haben auch schon Jugendliche geholt, während eine Haus­durchsuchung stattfand. Vor der Wohnung hatte sich bereits eine Men­schentraube versammelt. Drei Wannen waren auch da. Ein Jugendlicher war festgenommen und saß in der Wanne. Ich bin hoch gegangen und habe dann mitbekommen, dass die Hausdurchsuchung ohne unab­hängigen Zeugen gelaufen ist. Ich habe darauf hingewiesen, dass das nicht rechtens ist. Dann wollten sie mich als Zeugen nehmen; das habe ich aber abgelehnt. Immer wieder gibt es solche Situationen, in denen man der Polizei erklären muss, welche Rechte die Jugendlichen haben.

Neben diesen alltäglichen Kontakten gibt es Verbindungen auf „höherer Ebene“, etwa in bestimmten Arbeitsgruppen. Dort reden wir mit der Polizei, sofern es etwa um Phänomenbeschreibungen oder um die Strukturen unserer Arbeit geht. Das macht auf Landesebene unsere Geschäftsführerin, das geschieht aber auch in lokalen oder thematischen Vernetzungen. In Einzelfällen gibt es auch Absprachen mit der Polizei – etwa dass sie nicht ausgerechnet dann einen bekannten Treffpunkt von Jugendlichen kontrollieren, wenn wir dort eine Aufklärungsaktion zur Drogenprävention machen. Gespräche mit der Polizei kommen auch im Rahmen von Fortbildungsveranstaltungen zustande, die von PolizistIn­nen und SozialarbeiterInnen besucht werden. Insgesamt verfolgt Gang­way eine Strategie des kritischen Dialogs mit der Polizei. Für die Kontakte auf allen Ebenen, sei es auf der Straße oder in irgendwelchen Fo­ren, ist oberster Grundsatz von Gangway: Keine Weitergabe personen­bezogener Daten, keine Angaben zu konkreten Personen oder Gruppen an die Polizei!

NP: Kann denn ein solcher Grundsatz in der Praxis durchgehalten werden?

CS: Er muss durchgehalten werden. Geben wir personenbezogene Informationen an die Polizei, so ist das ein Kündigungsgrund. Nach dem Verständnis von Gangway handelt es sich dabei um Betriebsgeheim­nisse, deren Wahrung wir mit unserem Arbeitsvertrag unterschrieben haben. Wer diese an Außenstehende weitergibt, dem droht die Kündigung.

NP: Ist diese Verweigerung noch zeitgemäß? Häufig hört man heute das Argument: Sozialarbeit und Polizei hätten beide das Wohl der Jugendlichen vor Augen. Da müssen sie doch eng zusammenarbeiten und ihre Erkenntnisse austauschen?

CS: Einmal abgesehen von der datenschutzrechtlichen Seite ist für uns entscheidend: In Hinblick auf die Jugendlichen wollen Polizei und Sozialarbeit durchaus nicht dasselbe. Wir arbeiten mit den Jugendlichen, wir sehen ihre Situation, wir versuchen mit ihnen die Probleme zu bewältigen, die sie haben. Unsere Arbeit ist auf Dauer und Nachhaltigkeit ausgerichtet. Die Polizei ist am Recht orientiert, ihr geht es um schnelle Erfolge, ihr geht es um die Festnahme von Personen, um die Verunsicherung von Szenen, um die Herstellung einer bestimmten öffentlichen Ordnung. Das sind erhebliche Unterschiede.

Kein Zeugnisverweigerungsrecht

NP: Nun gilt für die Streetworker wie für alle BürgerInnen der § 138 des Strafgesetzbuches, nach dem bestimmte geplante Straftaten angezeigt wer­den müssen. Im Bereich der Jugendlichen kommt etwa das „Jacken abzie­hen“ als Raub in Frage. Wie gehen Sie mit dieser Strafandrohung um?

CS: Im Prinzip besteht das Problem auch bei anderen Delikten, die nicht im § 138 erfasst sind, denn bei einer geplanten Körperverletzung würden wir auch nicht tatenlos zusehen. Wir gehen davon aus, dass wir ein so gutes Verhältnis zu den Jugendlichen haben, dass es uns gelingt, sie von den Straftaten, die uns bekannt werden, abzuhalten. Da setzen wir unseren ganzen Ehrgeiz rein. Sofern das nicht gelingt, wird niemand aus­schließen, eine angekündigte Tat anzuzeigen. Ich habe das aber noch nicht tun müssen.

NP: Problematischer als die Anzeigepflicht wird häufig das fehlende Zeugnisverweigerungsrecht für SozialarbeiterInnen empfunden. Durch Ihre Nä­he zu den Jugendlichen könnten Sie ja ein prädestinierter Zeuge in Strafverfahren sein. Gibt es das, dass Sie als Zeuge vorgeladen werden?

CS: In der Auseinandersetzung mit der OGJ[2] wurden wir schon mal mit Vorwürfen der Verdunkelung einer Straftat konfrontiert. Naja, meine Chefin meinte, dann sollen die eine Anzeige machen. Das wäre dann sehr spannend gewesen. Ich hatte so eine Situation bisher nur derart, dass die Polizei mich als Zeuge laden wollte. Es ging um einen einfachen Fahrraddiebstahl. Ich war mit einer spannenden Gruppe unterwegs. Wir waren auf einer Kartbahn, so dass die Polizei nachher Adressen und Namen hatte. Und am Ende wurde eben ein Fahrrad geklaut. Ich habe noch versucht, den Typen zu erwischen, dass er mir das Fahrrad über­gibt und ich es zurückbringen kann. Blöderweise war das aber ziemlich schnell verkauft. Auf jeden Fall sollte ich als Zeuge geladen werden. Dann hat sich meine Chefin, die Geschäftsführerin von Gangway, einge­schaltet, und ich musste nicht mehr hin. Das war auch mein Einstieg damals, wir hatten hier als Team in Moabit neu angefangen. Da Fahrrad­diebstahl nicht die „Hausnummer“ dieser Gruppe war, sondern ganz andere Baustellen bei denen waren, die auch heftiger waren, wollten wir an die ran, wir wollten mit denen arbeiten. Eine Aussage hätte da alles kaputt gemacht, alles. Wir wären nie wieder an diese Gruppe und das ganze Umfeld herangekommen.

NP: Und die Polizei hat sich von dieser Argumentation überzeugen lassen?

CS: Das ging über die Direktionsleitung und die guten Kontakte unserer Geschäftsführerin. Ich kann mich bisher immer nur auf die Sachen zurückziehen, die ich arbeitsrechtlich habe. Dann haben wir gute Anwaltskontakte. Und ich habe die Zusage meiner Chefin, sie besucht mich in Beugehaft und bringt mir Zigaretten mit. Ich würde es aber sehr begrüßen, wenn wir ein Zeugnisverweigerungsrecht hätten, dann müssten wir nicht so „rumeiern“.

NP: Werden denn von der Polizei konkrete Wünsche an Sie gerichtet?

CS: Nein, so konkret habe ich das noch nicht erlebt. Das kommt eher auf einer allgemeinen Ebene. Etwa dass ein Beamter sagt: Ja, wir können ja kooperieren, und wir gucken dann auch weg und so. Das ist subtiler. Es wird nie direkt nach Person XY gefragt. Das habe ich bei Jugendclubs schon erlebt, dass da gefragt worden ist: Kommt denn der zu euch? War der dann und dann da? Gangway hat eine gute Beziehung zu den Jugendclubs. Weil die häufiger mit derartigen Polizeifragen konfrontiert waren, haben wir damals eine Veranstaltung zu diesem Thema organi­siert: Welche Rechte die KollegInnen vor Ort in den Einrichtungen haben, welche Pflichten sie aber auch haben. Also wenn ein Polizeibeamter kommt und fragt: „Kennst du den, ist der bei dir?“, dann haben sie da keine Auskunft zu geben. Deshalb gibt es in unserem Stadtteil Moabit keine Einrichtung, die eine Kooperation mit der Polizei gemacht hat. In anderen Altbezirken von Mitte (Mitte und Wedding) geschieht das durchaus.

Die Polizei – dein Helfer?

NP: Gab es denn schon umgekehrt Fälle, in denen die Polizei Ihnen geholfen hat? Es gibt das Argument, dass Sozialarbeit mitunter in gefährliche Situationen kommt, so dass sie selbst polizeiliche Hilfe braucht.

CS: Nee, das habe ich noch nicht erlebt. Naja, da kommen KollegInnen, die in Einrichtungen arbeiten, eher in eine solche Situation. Aber auf der Straße ist das anders. Ich kenne die meisten. Beziehungsweise, wir sind ja zu dritt. Und selbst, wenn man mal eine Situation hat, die einem unangenehm ist – ich sage immer, man kann nur in eine Situation reingehen, wenn man Selbstsicherheit ausstrahlt. Und das ist keine Sache, die man nur rational beurteilen kann, sondern das ist ein Gefühl vom Bauch, da kommen die ganzen Erfahrungen, die man mit dieser Gruppe gemacht hat, hinzu, mit den Personen. Und dann weiß man in dem Moment, ich kann mich dazwischen stellen, ich kann den anschreien, oder ich kann ihn einfach in den Arm nehmen oder ähnliches. Dann brauche ich keine Polizei. Es gab vielleicht mal zwei Bedrohungs­situationen, die ich dann schnell relativieren konnte und wusste, es geht gar nicht um die Bedrohung, es geht um andere Sachen. So nach dem Motto: Bist du auch einer, der sofort wegläuft? Der sich langfristig nicht um mich kümmert, nur weil ich durchgeknallt bin … Ich hatte das in meinem ganzen Berufsleben bislang noch nie, auch nicht im Bereich der Straßensozialarbeit. Vielleicht habe ich auch immer nur Glück gehabt. Aber ich weiß auch, dass es bei Gangway insgesamt nicht mehr so ein Problem ist. Diese Zeiten (in den 1990er Jahren) mit den Großgruppen waren bestimmt an dieser Stelle schwieriger. Da weiß ich nicht, ob mal Polizei geholt wurde. Wir haben ja jetzt überschaubarere Gruppen mit maximal 30 Leuten.

Jugendgruppen – auf Trab gehalten

NP: Welche Bedeutung hat die Existenz der Polizei für die Jugendlichen?

CS: Bei uns ist es so, dass wir wirklich nur noch zwei Gruppen haben, die feste Plätze haben. Also sprich, die meisten Jugendlichen haben keinen Bock auf diese Polizei. Selbst wenn es nur der Small Talk ist, also „Hallo, wie geht’s euch“ und solche Sachen. Deshalb wandern die Jugendlichen viel mehr im Stadtteil rum. Die wissen, wenn wir jetzt einen festen Ort haben, dann kommt die OGJ bei uns genauso regelmäßig vorbei wie Gangway – naja, vielleicht nicht ganz so regelmäßig.

NP: Erschwert oder erleichtert das Ihre Arbeit?

CS: Das erschwert unsere Arbeit natürlich. Früher hat man gesagt, einmal die Woche, wenigstens alle 14 Tage eine ‚große Runde‘ machen, wirklich durch ganz Moabit, an viele Plätze etc.; das sind so 20 Kilometer. Mittlerweile muss man das schon häufiger machen, damit man außer unseren ‚Stammtruppen‘ auch mal die anderen, kleineren Grüppchen sieht. Vor einer Weile hatten wir am Neuen Ufer welche getroffen. Und zwei Tage später waren die dann auf einem kleinen Spielplatz an einer ganz anderen Stelle im Stadtteil. So, das ist total gestreut. Kann ich auch verstehen. Ich würde auch gerne in Ruhe gelassen werden. Natürlich spielen die Handys eine Rolle. Ich kann mich leichter ir­gendwo anders verabreden, wenn ich ein Handy habe. Aber der Kontroll­as­pekt ist schon das Motiv. Ansonsten kann ich ja an meinem ange­stamm­ten Platz bleiben.

NP: Sie haben die unterschiedlichen Logiken erwähnt, die Ihr Handeln und das der Polizei bestimmen. Drückt sich das auch in einzelnen Konflikten aus? Sie haben Beispiele genannt: Durchsuchung, Festnahme …

CS: Letztens wurde ein Jugendlicher wegen einer Körperverletzung gesucht. Die Polizei hat dann hier auf einem Platz eine Gruppe Jugend­licher kontrolliert. Aber der gesuchte Tatverdächtige gehörte nicht zu dieser Gruppe, sondern er war der Bruder von jemandem aus der Gruppe. Von der Polizei wurde gesagt, ihr habt da jemanden geschlagen. Und die Jugendlichen sagten: Wir haben keinen geschlagen. Die waren empört, aber sie wurden alle erkennungsdienstlich behandelt, vor Ort, umgehend. Dabei war die Tat einen Tag her, es gab also keine „Gefahr im Verzug“ oder ähnliches. Für mich war das klar: Die Polizei wollte einfach Druck ausüben und verdeutlichen: Leute, macht keinen Müll, hier ist die Staatsmacht, und wir haben euch im Auge.

Wenn wir neue Gruppen in Moabit kennenlernen, dann kennen die auch schon die OGJ. Manchmal sind wir ein bisschen schneller. Aber das findet fast zeitgleich statt. Und bei denen, da geht es nicht um Prävention, wie in anderen Bezirken bei der OGJ, das ist gleich immer repressiv angelegt: Leute, wir haben euch im Auge …

NP: Manche Einsätze finden im Rahmen der Strafverfolgung statt; bei anderen soll den Jugendlichen die Staatsmacht vor Augen geführt werden. Gibt es noch andere Interessen, die hinter der polizeilichen Arbeit stehen?

CS: Naja, da greifen mehrere Sachen zusammen, die nicht unbedingt nur von der Polizei initiiert werden. Ich finde es sehr bedenklich, dass bei der Berliner Polizei nun eine Stadtplanerin eingestellt worden ist, die dafür sorgen soll, dass – etwa wenn Plätze neu gestaltet werden – das subjektive Sicherheitsempfinden mit bedacht wird. So ist dann zum Beispiel hier bei der Planung der Umgestaltung des Kleinen Tiergartens auch ein Polizist dabei. Der sagt dann: Hier muss alles zurechtgestutzt werden. Im günstigsten Fall werden dann offensichtliche Szenen wie die Trinkerszene noch berücksichtigt. Die bekommen dann noch einen kleinen Platz. Unsere Jugendlichen, die werden jedoch verdrängt, wenn alles zurechtgestutzt und alles einsehbar ist: Die verliebten muslimischen Pärchen, die nicht von ihren Verwandten gesehen werden wollen, die haben keine Rückzugsräume mehr. Genauso wie die Jugendlichen, die gerne mal kiffen. Dafür suchen sie nicht einsehbare Ecken – auch weil sie nicht wollen, dass kleine Kinder das sehen. Wenn ich mir einige umgestaltete Plätze ansehe, da kann man nun quer über den Platz gucken. Und man sieht sofort, wo sich welche Gruppe aufhält.

Hier spielt auch das Quartiersmanagement eine Rolle. In dessen Rahmen ist es häufig so, dass die Plätze so verändert werden, dass auch die AlkoholikerInnen keinen Platz mehr finden. Natürlich ist in der Kneipe das Bier teurer, deshalb sitzt man draußen. Das greift halt ineinander: Das, was die Polizei mit Umgestaltung will, und das, was bestimmte AnwohnerInnen wollen, die in Quartiersräten sitzen. Das sind ja nicht die „Bodenständigen“: Die rennen nach der ersten Sitzung weg, weil sie diese Art zu diskutieren gar nicht ertragen. So greift das ineinander. Es wäre gemein, das alles nur der Polizei zuzuschieben.

NP: In Berlin sind die Ordnungsämter in den letzten Jahren mit uniformiertem Personal ausgestattet worden. Spielen die eine Rolle?

CS: Hier in Moabit nicht, in anderen Bereichen wie am Alexanderplatz, am Bahnhof Zoo und Umfeld sehr wohl. Sowohl das Streetworkteam Mitte-City hat am Alex mit den Ordnungsämtern zu tun, als auch die Leute von den Brennpunktteams. Aber bei uns, in dem klassischen Jugendbereich, wo selten Orte von überregionaler Bedeutung sind, da tauchen die Ordnungsämter fast nicht auf.

Politischer Druck?

NP: Wie die Polizei wird die Sozialarbeit aus öffentlichen Kassen finanziert. Gibt es einen politischen Einfluss des Geldgebers auf Ihre Arbeit?

CS: Komischerweise nein. In den Bezirken erfahren wir mit unserer Arbeit eine große Wertschätzung; da spielt es auch keine Rolle, welche Partei das Sagen hat. Wir sind auch in den politischen Gremien präsent. Ich bin zum Beispiel häufig im Jugendhilfeausschuss. Wenn dann neue Jugend­grup­pen im Bezirk in Erscheinung treten, dann heißt es, wie kann man das machen, mit Streetwork angehen etc.? Da ist man dann in der Dis­kus­sion. Aber es gibt keinen Rechtfertigungsdruck über die Arbeit, wie wir sie machen, ob wir sie anders zu machen haben und ähnliches. Wir haben bestimmte Standards, zu denen die Parteilichkeit für die Jugendlichen und auch die Distanz zur Polizei gehören. Dann müsste der Bezirk sagen, er will unsere Arbeit nicht mehr.

NP: Ich schließe daraus: Gangway hat eine vergleichsweise große Freiheit in der praktischen Umsetzung der eigenen Arbeit.

CS: Genau. Kann sein, dass es den einen oder anderen Bezirk gibt, wo es andere Drucksituationen gibt, das will ich nicht ausschließen. Aber insgesamt wissen alle, dass wir eine gute und verlässliche Arbeit machen. In der Gründungszeit von Gangway wurde in den Einrich­tun­gen der Jugendhilfe viel mit Hausverboten gearbeitet. Die Straßensozialarbeit hat diese Jugendlichen aufgefangen; in gewisser Weise in Konkurrenz um die Mittel der Jugendarbeit. Mittlerweile werden wir auch von den KollegInnen in den Einrichtungen eher als Unter­stüt­zung gesehen. Diese Konkurrenz gibt es nicht mehr. Es gibt die Vernetzungsrunden in den Sozialräumen, mit Fach-AGen und ähnli­chem, wo wir uns sehr stark einbringen. Es geht ja um die Lobby für Kinder und Jugendliche. Die nehmen wir sehr intensiv wahr. Das bringt uns bei den KollegInnen Anerkennung. Und die Ämter, die sind nicht nur froh darüber, wenn Leute nicht kritisieren. Also selbst da ist es manchmal ganz gut, wenn man im Jugendhilfeausschuss mal Position bezieht.

NP: Seit Jahren wird heftig über Mehrfach- und IntensivtäterInnen diskutiert. Hat dies Folgen für Ihre Arbeit?

CS: Naja, da werden ja auch „Intensivtäter“ konstruiert. Je mehr ich einen bestimmten Raum kontrolliere, in dem sich immer wieder dieselben Leute aufhalten, dann habe ich natürlich schneller diese zehn Straftaten im Jahr zusammen. Bei uns sind es häufig arabische oder türkische Jugendliche, die gleich unter Generalverdacht stehen. Ich hatte hier manchmal das Gefühl, wenn in den Gruppen deutsche Jugendliche waren, die kamen kaum in Haft. Natürlich bauen die ziemlich viel Mist. Aber ein „Intensivtäter“ hat für mich auch intensive Probleme.

Man muss sich die Lebensläufe angucken, was wurde da gemacht? Nichts – oder wenig. Häufig sind die Biografien durch eine Abfolge von Beziehungsabbrüchen bestimmt: Schon als Kind aus der Kita rausgeflogen. Elternhaus: In meinen Augen hätten die Kinder eigentlich schon im Alter von sieben Jahre beim Jugendamt anklopfen müssen: Ich halt’s hier nicht mehr aus. Dann fängt’s an mit einer komischen, schrägen Beschulung. Wir hatten Leute mit neun unterschiedlichen Schulen, bei denen nie das Jugendamt dran war, kein Einzelfallhelfer, kein Familienhelfer etc. Wenn ich kein stabiles Zuhause habe, in Kita und Schule ständig wechselnde Bezugspersonen habe, wo soll da Nachhaltigkeit sein? Das einzige, was mitwandert, ist die Akte. Wenn dann jemand schreibt: Er war schon immer ein schwieriges Kind, dann heißt das für mich: Das Umfeld war schon immer schwierig.

Selbst vor Gericht vermisse ich eine Förderung, die den Namen verdient: Klassische Sanktionen sind Strafarbeiten, eventuell ein Freizeitarrest, solche Sachen. Die Freizeitarbeiten sind noch nicht einmal pädagogisch begleitet, denn dann wären die schon wieder teurer. Dass die Jugendgerichtshilfe den Vorschlag macht, der Familie zu helfen, das habe ich noch nicht gehört. Denn die befürchtet, dass der Richter sagt: ein guter Vorschlag. Und das wären dann Ausgaben, die die Jugendhilfe aufbringen müsste.

[1]      s. www.gangway.de

[2]     Bei den Operativen Gruppen Jugendgewalt (OGJ) handelt es sich um Einheiten, die aus „orts- und szenekundigen“, jüngeren BeamtInnen bestehen und präventive und repressive Aufgaben im Bereich der Jugendgruppengewalt wahrnehmen. Die OGJ treten in Zivil auf, geben sich aber als PolizistInnen zu erkennen.