Die Kölner Silvesternacht: Polizeiversagen, ihre Opfer und NutznießerInnen

In einer späteren Bilanzierung wird das Bundeskriminalamt von 900 Sexualdelikten berichten, die zum Jahreswechsel 2015/16 auf öffentlichen Plätzen in deutschen Städten an rund 1.200 Frauen begangen wurden. Mehr als die Hälfte dieser Taten geschah im Umfeld des Kölner Hauptbahnhofs. Die Kölner Silvesterübergriffe sind deshalb zum Synomym geworden: für offenkundiges Versagen der Polizei wie für Projektionen jedweder Couleur.

Betrachtet man die Kölner Ereignisse mit den Begriffen der Strafverfolgung, so zeigte sich Anfang September 2016 folgendes Bild: 1.201 Anzeigen waren insgesamt eingegangen, davon bezogen sich 505 auf sexuelle Übergriffe, zu denen auch 27 Verfahren wegen versuchter oder vollendeter Vergewaltigung zählten. Die Ermittlungen richteten sich insgesamt gegen 286 Beschuldigte; bislang konnte nur von 153 Personen die Identität geklärt werden. Unter ihnen befinden sich 79 Asylbewerber, 12 Geduldete, 39 „Illegale“ und 22 Deutsche. Über 150 der 286 Beschuldigten kommen aus Algerien oder Marokko, rund 60 aus Syrien oder dem Irak. Die Staatsanwaltschaft hat insgesamt 31 Anklagen erhoben, es kam zu 22 Aburteilungen (von Freispruch bis Freiheitsstrafen unter zwei Jahren ohne Bewährung), von denen 14 rechtskräftig sind.[1]

Die strafrechtliche Aufarbeitung ist die eine Seite, sie wird noch andauern. Obwohl die Polizei recht schnell eine 135-köpfige Ermittlungsgruppe „Neujahr“ einsetzte und obwohl 466 Videos (1.164 Stunden) aus öffentlichen und privaten Quellen ausgewertet wurden, 1,6 Millionen Datensätze aus der Funkzellenauswertung zur fraglichen Nacht vorlagen und 94 Telefonüberwachungen eingeleitet wurden,[2] werden die strafrechtlichen Ergebnisse nur bescheiden ausfallen. Die Taten wurden in einer Menschenmenge begangen, die Identifizierung einzelner Täter ist schwierig; jenseits der Eigentumsdelikte – bei denen man etwa die Spur eines gestohlenen Handys nachverfolgen kann – fehlen Sachbeweise weitgehend.[3] Für die Betroffenen – ganz überwiegend Frauen – mag die strafrechtliche Bearbeitung bedeutsam sein, der Allgemeinheit dagegen ging es in erster Linie um die öffentliche und politische „Würdigung“ der Kölner Übergriffe.

Im öffentlichen Raum begangene Eigentumsdelikte in diesem Ausmaß waren vor der Silvesternacht 2015/16 in Deutschland unbekannt. Noch bedeutsamer und erschreckender waren die Angriffe auf die körperliche Unversehrtheit und die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen. Angesichts der Missachtung dieser grundlegenden Menschenrechte, angesichts der Erniedrigungen, Einschüchterungen und der Angst, die die Frauen erlebten, war und ist die öffentliche Auseinandersetzung mit den und über die Kölner Silvesternacht notwendig und richtig.

Was aber dann seit dem 4. Januar geschah, war ein Beispiel für die Unfähigkeit, halbwegs mit Vernunft auf ein – in dieser Form – neues Problem zu reagieren. Im Januar belegte das Thema mit 217 Minuten Sendezeit hinter Meldungen zur „Flüchtlingskrise und -politik“ den 2. Platz in den deutschen Fernsehnachrichten[4] – ganz zu schweigen von seiner Präsenz in Talkshows, in der Berichterstattung in den Print- und der Resonanz in den Sozialen Medien. Betrachtet man die Reaktionen insgesamt, so liegt nahe, dass es nicht allein das Neue und der Umfang der Ereignisse waren, die diese öffentliche Entrüstung hervorriefen, sondern vor allem der Umstand, dass hier zwei „aufgeladene“ Themen zusammenstießen: auf der einen Seite die politisch umstrittene „Flüchtlingsfrage“, auf der anderen Seite das stark moralisch besetzte Thema sexualisierter Übergriffe. So wurde die Nacht von Köln ganz schnell zu einer „Projektionsfläche“, die als Bestätigung herhalten musste für das, was man schon immer wusste.

Chronologie der Ereignisse 31.12.2015 – 01.01.2016[5]

ab 18:00       

Abfeuern von Feuerwerkskörpern beginnt*

21:00

auf dem Bahnhofsvorplatz: ca. 500 junge Männer, augenscheinlich Migranten nordafrikanischer/arabischer Herkunft

21:30    

1. Einsatzbesprechung: Polizeiführer, Stadt Köln,Bundespolizei (BPol)

22:00 

2. Einsatzbesprechung (zusätzlich beteiligt: Bereitschaftspolizei (BePo), Beginn des BePo-Einsatzes

22:14

Meldung einer Streife an die Leitstelle des Innenstadtreviers: weit über tausend Personen auf dem Bahnhofsvorplatz*

22:25  

10 Bereitschaftspolizisten werden von anderen Orten zum Hauptbahnhof beordert

22:50   

alle BePo-Kräfte werden zum Bahnhofsvorplatz beordert

23:00 

1.000 – 1.500 Personen auf dem Bahnhofsvorplatz, Abfeuern von Feuerwerkskörpern in die Menschenmenge hat zugenommen, deutlich aggressivere Stimmung, keine Reaktion auf polizeiliche Maßnahmen (Ansprachen, Platzverweise …)

23:15 

Entscheidung, die Treppe von der Domplatte zum Bahnhofsvorplatz und den Platz selbst zu räumen

ohne genaue Zeitangabe

Der Polizeiführer vor Ort verzichtet auf die Anforderung von Verstärkungskräften, da diese zu spät eintreffen würden („aufgrund des Zeitverzugs … nicht für zielführend“)

23:30    

die Leitstelle des Kölner Polizeipräsidiums informiert das „Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste“ über die „Einsatzlage im Bereich des Hauptbahnhofs“. Vom Amt angebotene Unterstützungskräfte werden von der Leitstelle für nicht erforderlich gehalten

23:35 

Beginn der Räumung durch BePo, Schließung der A-Passage zum Bahnhof, Bahnhof kann nicht mehr betreten werden (BPol)

23:56   

Die BPol sperrt die Gleise, die über die Hohenzollernbrücke führen, d.h. der gesamte Zugverkehr ist unterbrochen (bis 01:15 Uhr)*

00:05   

die BPol öffnet die Türen des Bahnhofs wieder

00:15   

Treppe und Vorplatz sind geräumt

00:27   

Zugang zum Bahnhof und die Treppen wieder geöffnet

00:30 

30-50 Personen warten in der Polizeiwache Stolkgasse darauf, Strafanzeigen erstatten zu können

00:50    

BePo erhält erstmalig Kenntnis von Belästigungen

01:00   

Polizeiführer besucht Wache in der Stolkgasse

01:20    

Befehl: Ansammlungen von Menschen aufzulösen

04:00 

Entspannung der Lage

Was alle schon vor „Köln“ wussten

Statt sich auf die Suche nach den vermutlich nicht so griffigen Antworten auf die vergleichsweise schlichten Fragen: „Was geschah genau? Wie konnte es dazu kommen?“ zu machen, richtete sich der öffentliche Fokus schnell auf einen Nebenschauplatz: Hat die Kölner Polizei versucht, die Vorfälle zu bagatellisieren? Hat sie – etwa auf Anweisung des Ministeriums oder im vorauseilenden Gehorsam „politischer Korrektheit“ – die auf nordafrikanisch/arabisch aussehende junge Männer lautenden Täterbeschreibungen unterdrückt? Damit war der Fokus schnell in den Kontext oberflächlicher Skandalisierung gerückt. Und auf dieser Suche nach den Verantwortlichen, ihren Hintermännern und ihrer politischen Überzeugung ließ sich dann mühelos alles mit „Köln“ in Verbindung bringen, was einen schon immer störte.

Unter dem Generaltenor „junge muslimische Männern vergreifen sich an deutschen Frauen in der Öffentlichkeit unter den Augen der Polizei“ war für alle etwas dabei. Bundesjustizminister Heiko Maas diagnostizierte schnell eine Form „organisierter Kriminalität“, CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach betonte, es sei falsch „jene Gefahren zu ignorieren oder zu bagatellisieren, die sich aus der … nur lückenhaft … kontrollierbaren Zuwanderung“ ergeben.[6] FDP-Chef Christian Lindner stellte sogleich ein „Staatsversagen“ fest, dessen jüngster Ausdruck die Kölner Ereignisse seien.[7] Bereits am 7. Januar nennt Margarethe Stokowski die Debatte „ekelhaft“, einzelne Beiträge seien „so perfide wie dumm“; alle forderten, was sie bereits vor „Köln“ forderten – „nur noch lauter.“[8]

Margarete Stokowski verweist auch auf die feministische Frauenzeitschrift EMMA. In der Online-Ausgabe vom 11. Januar ist von den Männern die Rede, die in „großen Rudeln über Frauen herfallen“; es ist vom „Terror dieser Nacht“ die Rede – eine Variante, der „europaweit beschworenen ‚Terrorgefahr‘“.[9] In der Printausgabe von März/April hat Alice Schwarzer die Antwort parat: „Diese Männer … hatten sich verabredet, um Frauen zu klatschen.“ „Denn die sexuelle Gewalt ist eine traditionelle Kriegswaffe.“ Ergo waren in Köln, die Islamisten am Werk, die nur die „Spitze des Eisbergs“ „rückwärtsgewandter Muslime“ seien. Das sollte anfangs versucht werden, „mit einer falschen Toleranz“ zu vertuschen. Aber im Lichte der „unbarmherzigen Realitäten“ erweise sich nun endgültig „der linke, akademische Kulturrelativismus als elitär, ja reaktionär.“[10] Wie allerdings der Umstand, dass es sich um hochgradig alkoholisierte und enthemmte Gruppen handelte, in das Bild einer islamistischen Kriegsführung passt, übergeht Frau Schwarzer großzügig.

Der Untersuchungsausschuss

Am 11. Januar beschäftigte sich der Innenausschuss des Landtages mit den Silvesterübergriffen.[11] Am 14. folgte eine Sondersitzung des Landtages.[12] Am 19. Januar setzte der Landtag einen Untersuchungsausschuss ein, der am 18. Februar seine Arbeit aufnahm. Bis Mitte September hatten 39 Sitzungen stattgefunden; bis zum Jahresende sind weitere 25 Sitzungen terminiert.[13] Der Ausschuss veröffentlicht keine Dokumente, Protokolle oder Zwischenberichte. In dem von den Fraktionen von SPD, CDU, Grünen und FDP eingebrachten Einsetzungsbeschluss (die Piraten enthielten sich bei der Abstimmung) wird als Auftrag formuliert, sich ein „Gesamtbild … der Geschehnisse in der Silvesternacht im und vor dem Kölner Hauptbahnhof“ zu verschaffen und zu klären, „ob es Fehler und Versäumnisse von Landesbehörden, insbesondere der Polizei, auch im Zusammenwirken mit der Bundespolizei gegeben hat“.[14]

Gegliedert in vier Komplexe enthält dieser Beschluss auch insgesamt 86 „Detailfragen“, die der Ausschuss beantworten soll. Spätestens hier werden die Intentionen deutlich, die die Fraktionen mit dem Ausschuss verbinden. Gefragt wird hier

  • unter dem Komplex „Einsatzplanung“ (19 Fragen), inwieweit die Vorgaben des Innenministeriums zu den Polizeieinsätzen bei Spielen der 3. Fußballliga die Einsatzplanung für Köln beeinflusst hätten oder ob es eine Einflussnahme des Ministeriums auf die Polizei dahingehend gegeben habe, dass sie sich bei Maßnahmen gegenüber Flüchtlingen zurückhalten solle;
  • unter „Durchführung des Einsatzes“ (33 Fragen), wann Innenminister und Ministerpräsidentin was erfahren und was sie dann getan haben. Oder wie sich im „Vorfeld der Ereignisse die Umsetzung ausländerrechtlicher und aufenthaltsrechtlicher Vorschriften … gestaltete“;
  • unter „Gesamtkontext von Polizeiarbeit“ (26 Fragen) etwa, inwieweit das Polizeiversagen auf mangelnde Aus- und Fortbildung zurückzuführen ist; besonders erhellend sind auch die Fragen nach der Anzahl der jährlichen Übergriffe auf PolizistInnen, nach den polizeilichen Erkenntnissen über „eine organisierte und ggfs. massenhafte Begehung sexueller Übergriffe“ oder zur Entwicklung von „No-Go-Areas“ in Nordrhein-Westfalen (drei Fragen).[15]

Weitere 32 Fragen, die der Abgeordnete Daniel Schwerd (fraktionslos, nachdem er aus der Piratenfraktion aus- und in die Linkspartei eingetreten ist) dem Untersuchungsausschuss aufgeben wollte, wurden von den genannten vier Fraktionen abgelehnt.[16] Für die Aufklärung der Vorgänge wird der Ausschuss wenig leisten. Es ist offenkundig, dass es darum geht, hier zusätzliches Futter für den Landtagswahlkampf 2017 zu produzieren. Schon der Innenausschuss hatte sich stundenlang damit beschäftigt, wann und durch wen angeblich versucht worden war, das Wort „Vergewaltigung“ aus der Betreffzeile einer (behördeninternen) WE-Meldung (WE = wichtiges Ereignis) gestrichen worden war.[17] Die Öffentlichkeit interessierte sich erst wieder für den Ausschuss, als Berichte über einen angeblichen Anruf aus dem Innenministerium auftauchten.[18] Die Opposition wird bis zum Ende der Legislaturperiode den Rücktritt des Innenministers fordern, und die Regierungsfraktionen werden treu zu ihrer Regierung stehen.

Polizeilicher Einsatz

Die Vorbereitungen auf die Silvesternacht hatten nach Darstellung des Innenministeriums mit einer gemeinsamen Besprechung zwischen der Kölner Polizei, Vertretern der Bundespolizei und der Stadt Köln am 9. Dezember 2015 begonnen. Für ihre Aufgaben richtete die Kölner Polizei eine Besondere Aufbauorganisation (BAO) ein, deren Leitung einem „erfahrenen Beamten“ der lokal zuständigen Inspektion 1 übertragen wurde, der auch den Einsatz im Jahr zuvor geleitet hatte. Innerhalb der BAO wurden fünf Einsatzabschnitte mit unterschiedlichen Zuständigkeiten eingerichtet: für die Rheinbrücken (13 BeamtInnen), für die Ringe (18), für Kriminalitätsbekämpfung (12), für Verkehrsdelikte (6) und für den „Raumschutz“ für drei Brücken, Altstadt/Rheinufer und Ringe (89). Gegenüber dem Vorjahr war der Personaleinsatz von 88 auf 142 eingesetzte Kräfte erhöht worden (inklusive Einsatzleitung); darunter befanden sich 83 BeamtInnen der Bereitschaftspolizei (BePo). In den Vorgesprächen hatte die Kölner Polizei 38 BereitschaftspolizistInnen (= 1 Zug) mehr verlangt, weil man eine Zunahme von Eigentumsdelikten befürchtete. Mit dem Verweis auf die Einsatzreserven wurde das abgelehnt. Auch später wies das Ministerium mehrfach auf die mobilisierbaren Reserven hin: Züge der BePo in Aachen, Wuppertal und Gelsenkirchen, das Personal in den Regeldiensten der anderen Kölner Inspektionen, die Bereitschaften in Köln und benachbarten Polizeibehörden. Keine dieser Möglichkeiten nahm der Polizeiführer der BAO in der Silvesternacht wahr.

Neben den Kräften des Polizeipräsidiums waren die Bundespolizei (BPol) und das städtische Ordnungsamt beteiligt. Die Zuständigkeit der BPol beschränkt sich auf den Bahnhof und die Bahnanlagen. Die Einsatzkräfte waren durch eine Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit auf 67 BeamtInnen verstärkt worden (2014/15: 45).[19] Das Ordnungsamt hatte Personal zur Überwachung der Hohenzollernbrücke eingesetzt: 24 eigene Wachleute und 44 Angestellte einer privaten Sicherheitsfirma. Dieses Personal war an den Zugängen zur Brücke stationiert. Die Idee der BPol, aufgrund der Erfahrungen im Vorjahr die Brücke komplett zu sperren, war im Vorfeld verworfen worden. Die Hohenzollernbrücke schließt unmittelbar an den Hauptbahnhof an. Sie ist eine Eisenbahnbrücke, die auf beiden Seiten mit breiten Fußgängerwegen versehen ist. Die Brücke ist in der Silvesternacht sehr beliebt, weil man von ihr aus das Feuerwerk besonders gut beobachten kann. In der Silvesternacht überwanden die Schaulustigen auf der Brücke die hohen Zäune, die die Gleise schützen, um von der südlichen auf die nördliche Brückenseite zu gelangen. Weil Personen auf den Gleisen waren, musste der Zugverkehr eingestellt werden – und das führte dazu, dass für 80 Minuten der Bahnhof eine Endstation war, in der sich immer mehr Menschen sammelten. Als die Türen in den Bahnhof wieder geöffnet wurden, führte das zusätzlich zu Enge und Gedränge vor den Türen, die von den Angreifern zu weiteren Übergriffen genutzt wurden. Rund 40 Prozent der (bis Juni 2016 angezeigten) Delikte wurden während dieser Zeit der Sperrung des Bahnhofs begangen.[20] Ihre Begehung wurde erheblich begünstigt durch die Maßnahmen der Sicherheitskräfte, denn sie erzeugten eine Enge, aus der sich die potenziellen Opfer nicht entfernen konnten.

Ausnahme und Regel

In emotional aufgeladenen Debatten ist es besonders schwer, der berechtigten Entrüstung ein wenig Nachdenken an die Seite zu stellen. Blickt man auf den Umfang der in Köln registrierten Delikte, dann verlangt die Ehrlichkeit einige Hinweise: Der Jahreswechsel 2015/16 mit 1.201 gemeldeten Delikte steht nicht einem Vorjahressilvester mit 0 Delikten entgegen. Selbst wenn man diese Zahl kennen würde, ihre Aussagekraft wäre begrenzt. Denn die riesige Medienresonanz, der bereits am 2. Januar erfolgte Aufruf der Kölner Polizei, alles zur Anzeige zu bringen, hat dazu geführt, dass das Dunkelfeld der geschehenen, aber nicht gemeldeten Taten in diesem Jahr so gering war wie noch nie. Das gilt auch für die Sexualdelikte. Die Diskussion um den Anstieg der Vergewaltigungen während des Münchener Oktoberfests ist bekannt.[21] Und man stelle sich vor, es gäbe eine von allen Medien an prominentester Stelle platzierte Aufforderungen an die weiblichen Servicekräfte in der Gastronomie oder während Volks- und Schützenfesten, alle sexuellen Belästigungen zur Anzeige zu bringen. Da entstünde dann schnell eine Debatte, die nicht auf dem Rücken von Geflüchteten ausgetragen werden könnte.

Vorsicht gegenüber den Deliktszahlen ist auch aus anderen Gründen angebracht: Wie bei allen Polizeidaten handelt es sich um Verdachtsmeldungen, deren juristische Bewertung und sachliche Überprüfung aussteht. Man muss nicht so weit gehen, TrittbrettfahrerInnen ins Spiel zu bringen, die es bei großen Katastrophen der jüngeren Vergangenheit immer wieder gegeben hat, aber dass im Einzelfall mitunter nicht klar sein kann, ob Handy oder Geldbörse nur verloren oder geklaut wurden, liegt auch auf der Hand.

Mit diesen Hinweisen sollen die Kölner Übergriffe nicht klein geredet werden – aber zur Deeskalation der Debatte scheint doch eine Perspektive sinnvoll, in der nicht die Silvesternacht als ein Einbruch des Bösen in unseren zivilisierten Alltag erscheint, sondern als eingebettet in sexistische und gewalthafte Kontexte und in eine Gesellschaft, in der Normbrüche zur Normalität der NormalbürgerInnen gehören.

Zur Versachlichung der Debatte könnte auch beitragen, einige Besonderheiten in Rechnung zu stellen. Nur HellseherInnen – von der Art, die den Fall der Mauer voraussagten – hätten die Ereignisse von Köln und anderswo voraussagen können. Es handelte sich um eine historisch einzigartige Situation, in der seit sehr kurzer Zeit sehr viele Menschen aus anderen Ländern nach Deutschland gekommen waren. Statt diesen Sonderfall zu verallgemeinern – falsche Flüchtlingspolitik, Staatsversagen, islamistische Kriegsführung –, wäre es angemessener die Kölner Vorgänge (und die in anderen Städten in dieser Nacht) als konkrete Fälle wahrzunehmen und zu analysieren. Erst in diesem Kontext, in dem die situativen Momente zusammen betrachtet werden mit der „Verfassung“ der Täter, wäre der Ort, an dem auch über Fremdheit, Verunsicherung und Verletzung elementarer Rechte gesprochen werden muss. Indem die „jungen Männer nordafrikanischer/arabischer Herkunft“ auch als Objekte (um nicht „Opfer“ zu schreiben) der globalen Verwerfungen, der Kriege, des wirtschaftlichen Elends und der Unfreiheiten in ihren Herkunftsländern wahrgenommen werden, werden deren Taten nicht entschuldigt. Aber dieser Blick erklärt vielleicht mehr als die Stereotype von der islamischen Frauenfeindlichkeit oder der Kriegsführung mit den Mitteln sexualisierter Gewalt.[22]

Und die Polizei?

Das Versagen der Sicherheitskräfte in Köln ist offenkundig. Die Versetzung des Kölner Polizeipräsidenten in den einstweiligen Ruhestand war sicher angemessen; auch ohne operative Verantwortung hätte der Innenminister die politische Verantwortung übernehmen und sein Amt zur Verfügung stellen müssen. Dass Ralf Jäger im Amt geblieben ist, mag allein den Vorteil haben, dass die politische Opposition weiterhin an der Aufklärung interessiert ist – in der Hoffnung, der Regierung irgendein weiteres Versagen, Verschweigen etc. nachweisen zu können.

Man kann nur hoffen, dass der Untersuchungsausschuss trotz der parteipolitischen Instrumentalisierung vielleicht doch noch ein wenig Klarheit bringt. Bislang bleibt der Eindruck, dass die Polizei an diesem Jahreswechsel einen kaum begreiflichen Dilettantismus gezeigt hat. Das bezieht sich nicht auf die Gefahrenprognose, sondern auf das Sicherheitsarrangement für die Silvesternacht und auf die konkreten Entscheidungen in dieser Nacht. Nachdem Nordrhein-Westfalen seit über einem Jahrzehnt das Konzept der „Sicherheitspartnerschaften“ proklamiert und praktiziert, ist vollkommen unverständlich, warum Polizeipräsidium, Bundespolizei und städtischer Ordnungsdienst nebeneinander statt miteinander agierten. Angesichts der vielen Fehlentscheidungen in dieser Nacht steht auch die Frage nach der Professionalität der Polizei im Raum. Eine Polizei, die nicht nur die Frauen nicht hat schützen können, sondern die den Stoff hat entstehen lassen, aus dem die Law-and-Order-Politik und die RassistInnenen des Landes bereitwillig schöpfen können, hat dem öffentlichen und politischen Leben in Deutschland massiv geschadet.

[1]    Tagesspiegel v. 1.9.2016
[2]    Ministerium für Inneres und Kommunales: Bericht … zu dem … Tagesordnungspunkt „Aktueller Sachstand zu massiven Übergriffen auf Frauen in der Silvesternacht in Köln und anderen NRW-Städten“ der Sitzung des Innenausschusses am 7.4.2016, Landtag (LT) NRW A09 Vorlage 16/3831 v. 5.6.2016
[3]    Hinzu kommt der schwache strafrechtliche Schutz gegen sexuelle Übergriffe, der einer gerichtlichen Verurteilung im Wege steht, s. Lembke, U.: Sexuelle Übergriffe im öffentlichen Raum. Rechtslage und Reformbedarf in Deutschland
[4]    Ibis: Köln Silvester 2015. Analyse der Ereignisse und ihre Wirkungen. Ibis eBook 1/2016, Duisburg 2016, S. 5
[5]    LT-NRW A09 Vorlage 16/3585 v. 10.1.2016. Angaben mit * nach: Amjahid, M.; Fuchs, C.; Guinan-Bank, V. u.a.: Was geschah wirklich? ZEITmagazin Nr. 27/2016 v. 28.06.2016
[6]    Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 5.1.2016
[7]    Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 6.1.2016
[8]    www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/margarete-stokowski-ueber-sexualisierte-gewalt-a-1070905.html
[9]    www.emma.de/artikel/koeln-frauen-berichten-emma-331129 vom-terror
[10]   Schwarzer, A.: Was war da los? In: Emma H. März/April 2015, S. 6f. (7)
[11] LT-NRW Protokoll Innenausschuss 16/1121 v. 11.1.2016
[12] LT-NRW Plenarprotokoll 16/102 v. 14.1.2016
[13] s. www.landtag.nrw.de/portal/WWW/GB_I/I.1/PUA/PUA_IV_16._WP/Terminplan.jsp? typ=protokolle&ausschuss=A33
[14]   LT-NRW Drs. 16/10798 v. 19.1.2016, S. 4
[15] LT NRW Drs. 16/10798 v. 19.1.2016
[16] LT NRW Drs. 16/10884 v. 27.1.2016
[17] LT NRW Innenausschuss Protokoll 16/1121 v. 11.1.2016 und 16/1218 v. 7.4.2016
[18] bundesweite Berichterstattung am 2.8.2016, z.B. im Kölner Stadtanzeiger
[19] BT-Drs. 18/7590 v. 18.2.2016, S. 2
[20]   Amjahid u.a. a.a.O. (Fn. 5)
[21] Rossbauer, M.: Die Sache mit der Statistik. Zahlen zur sexuellen Gewalt, taz v. 29.1.2016: Verdopplung der Zahl der angezeigten Vergewaltigungen während der Festtage im Vergleich zum Jahresdurchschnitt.
[22] s. hierzu: Dietze, G.: Das ‚Ereignis Köln‘, in: Femina Politica 2016, H. 1, S. 93-102

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