Zwischen Praxis und Utopie: Alternativen zu Knast und Strafe

von Britta Rabe

Vorstellungen zur Abschaffung von Gefängnis und strafendem Staat reichen von der Reduktion von Freiheitsstrafe über Konfliktschlichtung bis hin zur Transformation der Gesellschaft, die nicht auf Strafe, sondern auf gemeinschaftliche Verantwortungsübernah­me setzt.

Überlegungen, auf welche Weise die Polizei abzuschaffen wäre, kommen nicht ohne die Beschäftigung mit der Frage aus, wie Alternativen zu der nachgeordneten einsperrenden Institution Gefängnis aussehen können. Denn abseits des aktuellen Trends von Strafrechtsverschärfungen – trotz eines kontinuierlichen Rückgangs von Straftaten – ist längst die Einsicht eingekehrt, dass Freiheitsstrafen Verbrechen nicht verhindern und auch sonst der Gesellschaft wenig praktischen Nutzen bieten. Die Rechtfertigung der Freiheitsstrafe ist zwar laut § 2 des Strafvollzugsgesetzes die Resozialisierung der Gefangenen. Dieses Ziel wird aber nicht erreicht, nicht zuletzt, da Gefangene ihrem gesellschaftlichen Umfeld entrissen werden. Als erfolgreiche „Resozialisierung“ gilt in der Praxis oft allein die Eingliederung in den Arbeitsmarkt.

Das Gefängnis als Abschreckung der Allgemeinheit, Straftaten zu begehen, ist ähnlich ineffektiv. Forschungsergebnisse belegen eine Abschreckung durch die Androhung von Freiheitsentzug nicht, eine Wirkung sei bestenfalls im Bereich der Alltagskriminalität festzustellen.[1] Selbst hohe Freiheitsstrafen bis hin zur Todesstrafe hätten keinen Abschreckungseffekt. Die Rückfallquote ändere sich zudem wenig, unabhängig von der Schwere der Strafe.

Deutschland inhaftiert im internationalen Vergleich zwar wenig, dennoch sind aktuell rund 60.000 Menschen in Gefängnissen eingesperrt. Die Mehrzahl verbringt dort im Durchschnitt zwei bis vier Jahre. Rund 3.000 Menschen sind lebenslang inhaftiert, davon knapp 600 Personen in Sicherungsverwahrung.[2] Rund 50% der Freiheitsstrafen entfallen auf Eigentums- und Vermögensdelikte, sechs Prozent der Inhaftierten sind wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung in Gefangenschaft, sieben Prozent wegen Tötungsdelikten.[3] In Deutschland werden ca. 80% aller Strafen als Geldstrafen ausgesprochen. Kann die Geldstrafe nicht eingetrieben werden, wird stattdessen die Ersatzfreiheitsstrafe vollstreckt; das betrifft schätzungsweise ein Drittel aller Aufnahmen und Entlassungen in einem Jahr in deutschen Gefängnissen.[4] In Vorschlägen für ein Zurückdrängen der Freiheitsstrafe als Schritt hin zu einer gefängnisfreien Gesellschaft ist daher die Beseitigung der Ersatzfreiheitsstrafe und Entkriminalisierung von Delikten wie Beschaffungskriminalität zentral,[5] idealerweise begleitet von ausreichender sozialer Absicherung, Bildung und Demokratisierung, wie dies unter dem Stichwort „Defund the Police“ diskutiert wird. Dass in Deutschland die Ersatzfreiheitsstrafe problemlos abgeschafft werden könnte, zeigte sich 2020 während des ersten Lockdowns in der Corona-Pandemie: Mehrere Bundesländer setzten sie vorübergehend aus, so dass statt 4.773 Personen im Februar im Juli 2020 bundesweit nur 1.956 Personen auf dieser Grundlage inhaftiert waren.[6] In manchen Bundesländern wurden zudem Kurzhaftstrafen zeitweise nicht vollstreckt bzw. der Haftantritt verschoben.

Eine erweiterte Kritik an der Institution Gefängnis nimmt abseits der negativen Folgen von Haft auch Rassismus und Kolonialismus in den Blick – beide sind eng mit der Geschichte des Gefängnisses verbunden.[7] In Deutschland haben 25,1 Prozent der Inhaftierten keine deutsche Staatsangehörigkeit.[8] Mit einem Anteil von nur 12,4 Prozent der Gesamtbevölkerung befinden diese sich demnach überproportional häufig im Gefängnis.[9] Auch in Deutschland existiert also ein rassistisches Gefälle. Haft ist zudem eine Klassenfrage. Als Disziplinierungsinstrument dient das Gefängnis der Verwaltung marginalisierter sozialer Gruppen und zur Durchsetzung des Arbeitszwangs, bei gleichzeitigem Abbau der sozialen Absicherung.[10] Dies zeigen auch Straftatbestände, die in Zusammenhang mit Armut stehen und zu einer Ersatzfreiheitsstrafe führen können.[11]

Für die Inhaftierten heißt das Gefängnis oft die weitgehende Fremdbestimmung über ihre Person durch Rechtlosigkeit und Unterwerfung. Haft schafft auch weiteres Leid: Nicht nur findet in Gefängnissen neben der Entrechtung oft Gewalt statt (durch Wärter*innen oder Mithäftlinge), auch sind Familie und Freund*innen durch die Abwesenheit der inhaftierten Person mit betroffen. Zwei Drittel der von Ersatzfreiheitsstrafe Betroffenen leiden ferner unter massiven psychischen Beeinträchtigungen, denen (Freiheits-)Strafen nicht gerecht werden. Haft wirkt zu­dem auch nach der Entlassung fort, denn Ex-Gefangene sind häufig mit Arbeitsplatzverlust, Wohnungsnot und sozialer Deklassierung konfrontiert. Jede Diskussion um Alternativen zu Knast und Strafe muss sich daher an ihrem Vermögen zur Beseitigung von Klassismus, Rassismus und Sexismus messen lassen.

Gewalt als gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Auch bezüglich einer zukünftig (gefängnis)befreiten Gesellschaft müssen wir uns Gedanken machen, wie wir mit Verhalten umgehen, das Menschen physisch oder psychisch schädigt. Alternative Konzepte zu Strafe und Freiheitsentzug gehen davon aus, dass schädigendes Verhalten veränderbar ist und seine Ursache nicht allein in der gewaltausübenden Person liegt, sondern durch gesellschaftliche Strukturen mit hervorgebracht wird. Es ist daher eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, einen anderen Umgang mit (massiver) Gewalt zu finden. Mehrere Konzepte bieten alternative Ansätze zum herrschenden Strafsystem.

Die Restorative Justice (RJ), also „wiedergutmachende Gerechtigkeit“, wurzelt in indigenen vorkolonialen Gerechtigkeitspraxen Nordamerikas, Zentralasiens und Afrikas: Mit Rückgriffen auf solche Mechanismen zur Konfliktregelung wird heute an vielen Orten gearbeitet.[12] RJ zielt weniger auf die Bestrafung der Täter*in, als vielmehr auf die Wiedergutmachung der negativen Konsequenzen für das Opfer. Anders als im derzeitigen Strafsystem erhalten Opfer und deren Angehörige eine zentrale Rolle. Dazu gehören das oft geäußerte Bedürfnis, Täter*in und Tat zu verstehen, sowie die materielle, finanzielle, emotionale und soziale Kompensation und die Unterstützung bei der Befriedigung von Bedürfnissen oder Wünschen nach Sicherheitsgefühl, Würde, Gerechtigkeit und Rehabilitation. Eine Entschuldigung der Gewalt ausübenden Person wird oft als zentral angesehen. In der RJ soll sie zudem eine aktivere Rolle einnehmen und Verantwortung für ihre Handlung übernehmen, statt nur zur Verantwortung gezogen zu werden. RJ geht davon aus, dass auch die Täter*in Schäden bzw. Verletzungen davongetragen hat, die „geheilt“ werden müssen. Ihrem Bedürfnis nach Sicherheit, sozialer Unterstützung und Anerkennung ihrer Würde soll ebenfalls Rechnung getragen werden.

Elemente von RJ finden international in vielen Strafjustizsystemen Anwendung, in Deutschland im Täter-Opfer-Ausgleich. In ihrer existierenden Form sei RJ keine visionäre Alternative zur Überwindung des staatlichen Strafmonopols, wie Tilman Lutz[13] am Beispiel Neuseeland ausführt: In der „Modellnation“ für RJ wird das Konzept seit mehreren Jahrzehnten regelhaft im Bereich der Jugendkriminalität angewandt. Dort nehmen die jugendliche Person sowie Familienmitglieder und andere Unterstützer*innen teil sowie das/die Opfer, ein*e Mediator*in und ein*e Polizist*in. Ziel ist die Einigung unter allen Beteiligten. Kommt es nicht dazu, geht der Fall an das Gericht. Das Ergebnis kann in Entschuldigungen bis hin zu Wiedergutmachungen bestehen – finanziell oder durch Arbeit für das Opfer, die Gemeinschaft oder Organisationen, aber auch in einer Freiheitsbeschränkung für den/die Jugendlichen. Der Fokus liegt hier primär auf der Täter*in und der Sanktionierung, die Opfer spielen eine untergeordnete Rolle. Mit der Kopplung an Polizei und Gerichte verbleibt das neuseeländische Modell im traditionellen Strafsystem, die Definitionsmacht vorrangig bei den staatlichen Behörden.

Andernorts gehen Praxen der RJ über die Anwendung in der Jugendkriminalität weit hinaus: Ruanda bearbeitete in den Jahren 2005 bis 2010 den Genozid u. a. mit derartigen Methoden.[14] Sogenannte „modernisierte Gacaca-Gerichte“ verbanden dazu traditionelle und moderne Ansätze, um die gesellschaftlich weit verbreitete Mitwirkung an dem Genozid zu verarbeiten. Sie hatten die Aufgabe, schwere Körperverletzung, Totschlag und Mord sowie Vermögensdelikte zu verfolgen.[15] „Gacaca“ bezeichnet ein traditionelles ruandisches partizipatives Konfliktlösungsmodell, das neben den Streitenden die gesamte Gemeinde in die Verhandlung und Urteilsfindung miteinbezog. Seit vorkolonialer Zeit bildete es die Grundlage des Gewohnheitsrechts und betraf in der Mehrzahl Verhandlungen zwischen Familien, Nachbar*innen oder auch Gemeinden. Es ging um Fälle wie Körperverletzung und Gewaltanwendung, Landrecht und familiäre Konflikte. In der traditionellen Form war das alternative Richten weitgehend unabhängig vom Staat ausgeübt wor­den, während die modernisierte Form in das nationale Rechtssystem eingebunden und vom Staat kontrolliert wurde. In den „modernisierten Gacaca-Gerichten“ entschieden gewählte Versammlungen und Gerichtsräte auf verschiedenen Ebenen. Der Anspruch, in wenigen Jahren über eine Million Fälle zu bearbeiten, und Gremien, die für das Ausmaß der Gewalttaten nicht ausreichend vorbereitet wurden, führten dazu, dass die Aufarbeitung des Genozids und das Herstellen von Gerechtigkeit bis heute nicht abgeschlossen ist.[16]

Transformieren und Verantwortung übernehmen

Einen über die RJ hinausgehenden Ansatz haben die Konzepte der „Transformative Justice (TJ), „Verändernde Gerechtigkeit“, und Community Accountability (CA), also „kollektive Verantwortungsübernahme“.[17] Statt vorrangig auf individuelle Wiedergutmachung, Veränderung individuellen Verhaltens und die Wiederherstellung der bisherigen Ordnung zweier Parteien zu setzen, zielen sie darauf, auch die zugrunde liegenden sozialen und politischen Verhältnisse zu verändern. Grundlage ist die Vision von einer Auseinandersetzung mit Gewalt, die Sicherheit für marginalisierte Gruppen bietet – jenseits von staatlichen Institutionen wie Polizei, Gefängnis, Psychiatrie, Jugendhilfe sowie allen Stationen des Migrationsregimes, vom Grenzschutz bis zu Lagern und Abschiebehaft. Die „kollektive Verantwortungsübernahme“ ist daher nicht staatlich strukturiert, sondern selbstorganisiert. Statt die von Gewalt be­troffene Person mit der Aufarbeitung allein zu lassen, soll sie kollektiv unterstützt und das weitere Umfeld mit einbezogen werden. Eine Verhaltensänderung ist auch bei der Täter*in erwünscht. Fernziel ist der Wandel hin zu einer weniger gewaltvollen Gesellschaft mit mehr kollektiver Verantwortungsübernahme.

Bewegungen mit revolutionärem Anspruch wenden zur gesellschaftlichen Transformation unter anderem Formen der TJ und CA praktisch an. Im mexikanischen Bundesstaat Guerrero ist in den zapatistischen Regionen Costa Chica und La Montaña eine Regionalkoordination der Gemeindevertretungen (CRAC) für die Anwendung der Konzepte zuständig.[18] Anhaltende Gewalttaten gegen die indigene Bevölkerung, die von staatlichen Stellen weder verfolgt noch bekämpft wurden, hatten zur Einrichtung dieses autonomen Schutzkonzepts mit eigenem Justizsystem geführt. Das gemeinschaftliche Justizsystem besteht aus drei Instanzen: eine beauftragte Person des Landkreises, die jährlich von allen Gemeinden neu gewählt wird und kleinere Konflikte löst und sanktioniert, die Koordinator*innen der vier Casas de Justicia, die schwerwiegendere Angelegenheiten bearbeiten, sowie, als höchste Autorität, die Vollversammlung der Gemeinden. Als Grundlage dient ein in einem ge­meinsamen Prozess abgestimmtes internes Regelwerk für Sanktionierung, Organisation in den Gemeinden nach den geltenden Gebräuchen sowie für die Rechtsprechung. Schwere Gewalttaten, etwa ausgehend von Drogenkartellen, werden weiterhin den offiziellen Regierungsinstitutionen übergeben. Trotz großer Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung wurde das autonome Justizsystem nach mehreren Jahren stark erschüttert, da die selbstverwalteten Regionen unter anderem steten Angriffen von Seiten der offiziellen Regierung sowie externen ökonomischen Interessen ausgesetzt sind.

In den autonomen Gebieten im kurdischen Rojava werden im Zuge des Aufbaus einer Rätedemokratie ebenfalls Praxen von TJ und CA angewandt.[19] Freiheitsentzug als Strafe existiert gegenwärtig parallel, die Gefängnisse sollen perspektivisch in „Rehabilitationszentren“ umgewan­delt werden. Im jeweiligen Stadtteil oder der Gemeinschaft aus mehreren Dörfern sind gewählte „Friedens- und Konsenskomitees“ zuständig für Streitigkeiten, Gewalt sowie für Taten wie Raub oder Ausbeutung.

Die Komitees entstehen derzeit auch auf unterster Ebene für jede „Kommune“, bestehend aus mehreren Haushalten. In die Komitees wer­den unter anderem Menschen gewählt, die für besonders fähig gehalten werden, Streitparteien durch einen Diskussionsprozess zusammenzubringen. Bleibt ein Konsens zwischen den Parteien erfolglos, wird ein ebenfalls gewähltes Volksgericht eingeschaltet. Seine Mitglieder sind in der Regel auch Personen ohne juristischen Hintergrund. Streitigkeiten und Auseinandersetzungen zwischen Individuen, Familien und Gruppen nehmen in den Regionen langsam ab und dort, wo die Komitees länger bestehen, ist ein Rückgang von Taten wie Mord im Namen der „Ehre“ sowie Diebstahl zu beobachten.[20] Die anhaltende Kriegssituation erschwert die Transformationsprozesse. Menschenrechtsbeobachter*innen dokumentieren fehlende Transparenz bei der Entwicklung des neuen Rechtssystems sowie Menschenrechtsverletzungen in Haft.[21] Eine weitere Herausforderung stellt zudem der Umgang mit den ehemaligen Kämpfern des überwundenen IS-Regimes und ihren Angehörigen dar.[22]

Diverse (Klein-)Gruppen und Gemeinschaften in Europa und den USA folgen ebenfalls Ansätzen von TJ und CA. Praktische Anwendung finden die Konzepte dort vor allem nach Vorfällen sexualisierter Gewalt. Neben der strukturellen Schwierigkeit, Machtverhältnisse im Gegensatz zu den kritisierten staatlichen Institutionen nicht zu reproduzieren,[23] stellen sich überall ähnliche Fragen.[24] In der Praxis ist etwa oft nicht ausreichend geklärt, welche Kriterien einen Erfolg oder ein Scheitern definieren. An welchem Punkt wird ein Prozess von TJ für beendet erklärt? Wer ist die Community? Was tun, wenn sich die gewaltausübende Person einer Auseinandersetzung verweigert? Und wie viel professionelle Hilfe ist nötig und sinnvoll, um Konflikte erfolgreich zu lösen? Diese Arbeit sollte nicht auf einige Expert*innen abgeschoben werden, denn perspektivisch sollte jede Person in der Lage sein, diese Aufgabe zu erfüllen.

Und wohin mit den gefährlichen Gewalttäter*innen?

Die Existenz von Mörder*innen und Sexualstraftäter*innen begründet das Gefängnis moralisch. Die Furcht vor ihnen setzt ausreichend Ängste frei, um schwerwiegende Maßnahmen gegen Gefangene zu legitimieren. Als „ab­artige Monster“ werden sie entmenschlicht. Damit rücken Zusammenhänge der Tat mit gesellschaftlichen Bedingungen aus dem Fokus. Doch das Gefängnis löst die gesellschaftlich inhärente Gewalt und Grausamkeit auf gemeinschaftlicher Ebene nicht.

In Diskussionen um Alternativen zum Knast taucht häufig die Frage auf, was dann mit gefährlichen Straftäter*innen geschehen solle. Die An­zahl der Menschen, die jenseits populistischer Strafjustiz als langfristige „Gefahr für die Allgemeinheit“ eingeschätzt werden müssten, ist wohl sehr überschaubar. Für diese kleine Minderheit von schweren Gewalttäter*innen halten einige Befürworter*innen von Alternativen von Gefängnis und Strafe einen langfristigen gesellschaftlichen Ausschluss trotzdem für die einzige Lösung – während die meisten diese Frage mit Verweis auf eine künftige bessere Gesellschaft vollständig ausklammern. Sind andere Wege ausgeschöpft, denken manche an gesicherte Dorf- oder inselartige Gelände als Verbannungsorte in letzter Option. Die Opfer bzw. Hinterbliebenen sollten neben möglichen Zahlungen durch Gewalttäter*innen zudem eine lebenslange staatliche Solidarität in Form von finanzieller und therapeutischer Unterstützung erhalten. Denken wir an die rechtsterroristischen Anschläge in Halle und Hanau oder vergleichbare Taten, braucht es noch mehr: Umfassende Aufklärung und Anerkennung sind Forderungen, die viele Opfer und Hinterbliebene nach derartigen Gewalterfahrungen äußern.

Fazit

Meinen wir es ernst mit der Suche nach Wegen hin zu einer gerech­t(er)en Gesellschaft, ist die Abschaffung des aktuellen Strafsystems die unausweichliche Konsequenz. Die Praxis von TJ und CA offenbart schnell eigene Unzulänglichkeiten, sind wir doch trotz eines emanzipatorischen Anspruchs stets selbst aktiver Teil gesellschaftlicher Gewalt- und Machtverhältnisse. Diese Mängel dürfen das grundsätzliche Infragestellen einsperrender Institutionen und des herrschenden Strafsystems jedoch nicht aufwiegen. Konsequenz sollte vielmehr sein, gemeinsam die diversen Prozesse, von denen hier wenige kurz vorgestellt wurden, auf strukturelle Gewalt und Machtverhältnisse sowie Fehler und Misserfolge zu analysieren und weiterzuentwickeln und schwierigen Fragen nicht mit Verweis auf eine zukünftige bessere Gesellschaft aus dem Weg zu gehen.

[1]     Kury, H.: Zur (Nicht-)Wirkung von Sanktionen. Ergebnisse internationaler empirischer Untersuchungen, in: Soziale Probleme 2013, H. 1, S. 11-40
[2]     Statista (Stichtag 31.3.2020, https://de.statista.com)
[3]     Laubenthal, K.: Strafvollzug 8. Auflage, Wiesbaden 2018, S. 62, nach: Galli, T.: Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemandem nützen, Berlin 2020, S. 36
[4]     Thurm, F.: Geld oder Knast, www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-06/ersatzfreiheitsstrafe-geldstrafe-gefaengnis-reform/komplettansicht
[5]   Bögelein, N. u.a.: Wie kann die Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen gelingen?, in: Kritische Justiz 2014, H. 3, S. 282–294
[6]     Hefendehl, R.: Gefängnisse in Not: Was für eine Chance?!, in: Neue Kriminalpolitik  2020, H. 4, S. 415-431 (417)
[7]   Für eine intersektionale Kritik am weißen Abolitionismus und an seiner Unsichtbarmachung widerständiger Praktiken Schwarzer Menschen und People of Color sowie dem Ausklammern feministischer Praxen vgl. Ehrmann J.; Thompson V.: Abolitionistische Demokratie, in: Malzahn, R. (Hg.): Strafe und Gefängnis, Stuttgart 2018, S. 161-181
[8]   Rassismus orientiert sich nicht (nur) an Staatsbürgerschaft, für diese Kategorie existieren aber Daten: European Prison Observatory: Prisons in Europe 2019, www.prisonobservatory.org/upload/Prisons_in_Europe_2019_report.pdf
[9]   Bundeszentrale für politische Bildung: Bevölkerung mit Migrationshintergrund I, in: www.bpb.de v. 20.9.2020
[10]   Wacquant, L.: Bestrafen der Armen. Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit, Opladen 2009
[11]   zu den überproportionalen Betroffenheiten von Frauen* s. Ehrmann; Thompson a.a.O. (Fn. 7)
[12]   vgl. Lutz, T.: Restorative Justice – Visionäre Alternative oder Version des Alten?, Münster 2002 , S. 23f. (inklusive einer kritischen Begriffserörterung)
[13]   ebd., S. 58ff.
[14]   vgl. Wenke, D.: Gacaca Rechtsprechung in Ruanda. Ein traditionelles Gerichtsverfahren in modernisierter Form, in: Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien 2002, H. 4, S. 23-54
[15]   Schwerere Verbrechen (Planung des Völkermordes, Massenmord sowie Vergewaltigung und sexuelle Folter) blieben den nationalen Gerichten und dem Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR) vorbehalten.
[16]   Ruanda: Gacaca-Gerichte hinterlassen zwiespältiges Erbe, Human Rights Watch online v. 30.5.2011
[17]   Brazzell M. (Hg.): Was macht uns wirklich sicher? Toolkit für Aktivist_innen, Berlin 2017; CARA: Das Risiko wagen. Strategien für selbstorganisierte und kollektive Verantwortungsübernahme bei sexualisierter Gewalt, Berlin 2014
[18]   Navarro, L.H.: Kommunale Selbstverteidigung. Formen des bewaffneten Widerstandes gegen Mafia und Staat in Mexiko, Münster 2016, S. 116-142
[19] Ayboğa, E.: Das neue Rechtssystem. Der Konsens ist entscheidend, in: Flach, A.; Aboğa, E.; Knapp, M.: Revolution in Rojava. Frauenbewegung und Kommunalismus zwischen Krieg und Embargo, Hamburg 2015, S. 221-227
[20]   ebd., S. 227
[21]   Syrien: Menschenrechtsverletzungen in kurdischen Enklaven, Human Rights Watch online v. 20.6.2014
[22]   Rojava Information Center: Bringing ISIS to Justice. Towards an International Tribunal in North East Syria, Rojava 2019
[23]   vgl. Piening M.; Künkel, J.: Community Accountability: Feministisch-antirassistische Alternative zum strafenden Staat?, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 123 (September 2020), S. 36-45
[24]   CrimethInc.: Accounting for Ourselves. Breaking the Impasse Around Assault and Abuse in Anarchist Scenes, in: https://de.crimethinc.com/2013/04/17/accounting-for-our­selves-breaking-the-impasse-around-assault-and-abuse-in-anarchist-scenes

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