Der Kopenhagener Stadtteil Christiania in Dänemark und sein Cannabismarkt sind seit 1971 weitgehend selbstverwaltet und doch vom Kontext staatlicher Drogenprohibition geformt. Der Beitrag aus dem Projekt www.narcotic.city zeigt Machteffekte von interner Normierung, externer Normalisierung und Polizeihandeln auf: Hierarchien illegaler Drogen, Exklusion von Heroin und Community-Dealer*innen sowie verstärkte Raumkämpfe.
Kaum ein Satz beschreibt das Verhältnis von Drogen und Christiania treffender als Adornos bekannte Feststellung: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“.[1] Denn das Stadtviertel entstand als Ort des Widerstands und war doch immer von äußeren Kräfteverhältnissen geprägt,v. a.von Drogenverbot, Marginalisierung und Gentrifizierung.
Im Jahr 1971 besetzten Aktivist*innen zahlreiche Gebäude eines Militärgeländes, das sich auf einer künstlichen Insel und zugleich in einer 1A-Immobilienlage im Zentrum Kopenhagens befand.[2] Es folgten Verhandlungen der bald ca. 800 Besetzer*innen mit der Kommune und dem Kultusministerium, die auf der Fläche des Verteidigungsministeriums einen Wohn-, Gewerbe- oder Kulturstandort etablieren wollten. Nach Räumungsversuchen, die aufgrund befürchteter Proteste halbherzig ausfielen,erkannte das dänische Parlament die „Freie Stadt“1973 als „soziales Experiment“ an. Anknüpfend an einen ersten Vertrag mit den Bewohner*innen 1972 konnten die Christianit*innen gegen 50 Kronen monatlich pro Person für Wasser und Elektrizität bleiben. Angesichts einer konservativen Regierungsübernahme im gleichen Jahr blieb Christiania trotz dieser Einigung einer der zentralen sozialen Kämpfe der Dekade. Insbesondere der Drogenmarkt, der dazu beitrug, dass das Viertel zur internationalen Tourist*innenattraktion avancierte, blieb umkämpft. Denn der Handel wuchs zum Missfallen konservativer Politiker*innen und z.T. auch der Christianit*innen stark an (auf geschätzte Jahresumsätze von 40 bzw. 85 Million Euro in den Jahren 1989 und 2003).[3] Zudem protestierten angrenzende Länder, v.a. Schweden, gegen die Unterwanderung ihrer prohibitiveren Cannabispolitik durch den nahegelegenen Marktplatz.[4]
Christiania als Beleg für abolitionistische Forderungen
In den frühen Aushandlungen spielte, wie es Davis[5] aufarbeitete, das drugs&crime-Thema eine herausragende Rolle – und zwar sowohl für die Fürsprecher*innen als auch für die Opponent*innen des autonomen Viertels: Zustimmung für Christiania förderte – neben dem utopischen Charakter des Wohnexperiments, dem kreativen Protest und dem zersplitterten dänischen Vielparteiensystem – die Rolle des Ortes für Randgruppen. Schon bald nach der Besetzung diente das Stadtviertel als Auffangbecken für Marginalisierte und Geringverdienende. Neben Aussteiger*innen, Studierenden, Obdachlosen, Alleinerziehenden, Trinker*innen und jugendlichen Ausreißer*innen bot das Viertel auch eine Bleibe für Teile von Kopenhagens ca. 5000-köpfiger Drogenszene. Die Stadt stellte dieser Gruppe nur etwa ein Zehntel an Therapieplätzen zur Verfügung. Christiania hingegen bot nicht nur niedrigschwellige Stabilisierungsmöglichkeiten für prekäre Lebensweisen – durch günstige Unterkünfte, informelle Jobs (u.a. im Drogenhandel) und ein Stigma-armes Umfeld. Vielmehr fiel die Anerkennung Christianias auch in eine Zeit, in der Gemeinden im Globalen Norden damit zu experimentieren begannen, alternative zivilgesellschaftliche Kräfte in die oft ineffizienten, kostspieligen sozialstaatlichen Hilfen für Marginalisierte einzubinden.[6] Bereits der erste Vertrag von 1972 zwang die „Freie Stadt“ dementsprechend, die Marginalität im Viertel aktiv zu adressieren und diesbezüglich mit der Stadt zu kooperieren.[7]
Anderseits skandalisierten Konservative neben Transferleistungsbezug vieler Christianit*innen v.a. Kriminalität.[8] Sie kritisierten die Illegalität der Besetzung, unbezahlte Strom- und Wasserrechnungen sowie eine Verhaftung von fünf Inuits wegen Mordes (die medial in rassistischen Stereotypen des ewig betrunkenen Grönländers diskutiert wurde). Die Polizei, der Christiania ein Dorn im Auge war, leakte ein Papier, das dem Viertel eine hohe Kriminalität zuschrieb.[9]
Die Skandalisierungen wurden von kritischen Kriminolog*innen in Frage gestellt.[10] Sie problematisierten, dass das Polizeipapier sich nur auf vage Angaben zu „Polizeikontakten“ stützte. Ihrerseits gestützt auf die Polizeistatistik, betonten sie eine für Kopenhagen durchschnittliche Kriminalität und zeigten, dass das Viertel eine deutlich niedrigere Gewalt- und Kleinkriminalität aufwies als ähnliche Stadtviertel.
Wenngleich die Polizeistatistik sicherlich auch den Versuch der Christianit*innen spiegelte, Konflikte ohne Polizei zu regeln, entstand so in der Öffentlichkeit das Bild einer Gemeinschaft, die mit Armut, Ausgrenzung, Straftaten und Drogen konfliktärmer und integrativer umzugehen vermochte als der Rest der Gesellschaft.
Bald rahmten die unterstützenden Stimmen aus der Wissenschaft das Wohnexperiment gar als Beleg für abolitionistische Forderungen. So kam etwa Balvig 1982 in einem Forschungsüberblick zu dem Schluss: Christiania ermögliche deshalb vielen jungen Menschen mit Vorstrafen ein Leben ohne Straffälligkeit, weil die Gemeinschaft auf sinnstiftende Arbeit, Rechte und materielle Versorgung setzte, statt Straftäter*innen zu isolieren, zu stigmatisieren und in Armut zu belassen.[11] Er propagierte daher Community-Inklusion statt Polizei als Lösung von armuts- und abhängigkeitsbedingter Kriminalität: „Die Erfahrungen in Christiania zeigen, dass Kriminalität durch einen mangelnden Zugang zu den Ressourcen der hegemonialen Gemeinschaft entsteht, und dass die Förderung der Fortentwicklung von Communities Kriminalität eher reduzieren kann als Polizeiintervention und Gefängnis, welche eine Entfremdung der Straftäter*innen vom normativen Leben fördern.“[12]
Die Betonung einer anti-kriminogenen Integrationsleistung der Community war Teil einer größeren Unterstützungskampagne, welche die Christianit*innen angesichts eines Beschlusses der konservativen Regierung zur Räumung des Viertels am 1.4.1976 lancierten (die Räumung wurde später um drei Jahre vertagt, letztlich aber nie umgesetzt). Die Kampagne, deren Motto durch die Christiania-Hymne „Ihr könnt uns nicht töten, denn wir sind Teil von Euch“ auf den Punkt gebracht wurde, stellte die soziokulturellen Serviceleistungen der alternativen Gemeinschaft für ganz Kopenhagen heraus.[13] Dies hatte Erfolg: Angesichts der Beliebtheit des Viertels, die sich in Umfragen und Großdemonstrationen ausdrückte, sah die Regierung von einer Räumung ab, zumal diese polizeiliche „Lösung“ absehbar mit erheblichen Straßenschlachten verbunden gewesen wäre.
Ausgrenzung als Kehrseitevon Community
Das Kampagnenimage einer integrativ-kreativen, von außen bedrohten Alternativgemeinschaft verdeckte interne Widersprüche (welche die Bewohner*innen, wenngleich weniger öffentlich, selbst diskutierten). So beruhte etwa die Integration Marginalisierter auf Hierarchien innerhalb der von Balvig als Lösung des Polizeiproblems beschworenen lokalen Gemeinschaft und auf informellem Polizieren.
Heroin duldete Christiania von Anfang an nicht. Einige Quellen sehen interne Normen einer Drogensubkultur am Werke – ähnlich der pazifistischen Hashszene, die sich im New York der 1990er Jahre von älteren Heroin- und Crackszenen abgrenzte.[14] Die Wertegemeinschaft verbot demnach Cannabisverkauf an Minderjährige und Heroinverkauf.
Andere Autor*innen zeigen Spaltungen der Bewohner*innen auf, die die Durchsetzung der Normen ermöglichten:[15] Gegründet in den Nachwehen der 1968er-Bewegung prägten bald einige einflussreiche Hippie-Familien das Viertel. Die Aktivist*innen nahmen die zunehmende Zahl an Marginalisierten und Drogenkonsument*innen im Viertel oft als unproduktiv, weil kaum an Gemeinschaftsarbeit beteiligt und als überfordernd, weil bedürftig, wahr. Bestimmte Formen des Drogenkonsums und -handels grenzten sie aktiv aus.
In der antikapitalistischen Alternativkultur war Cannabiskonsum akzeptiert. Als problematisch galt aber starker Alkoholkonsum, und schon 1971, auf einem der ersten Plena,verurteilte die Gemeinschaft den Verkauf von Cannabis zu Profitzwecken.[16] Zugleich konstruierten die tonangebenden Christianit*innen alle anderen illegalen Drogen als hart und inakzeptabel.[17] Dies entsprach dem damaligen dänischen Drogendiskurs, der Cannabis weniger als Einstiegs- denn als Alternativdroge verhandelte, weshalb das Land den Besitz von bis zu zehn Gramm Haschisch qua Rundschreiben des Generalstaatsanwalts seit 1969 erlaubte (geändert: 2004, s. unten).[18]
Um den Heroinhandel aus dem Viertel herauszuhalten, verprügelten die Christianit*innen Dealer*innen und übergaben sie z.T. der Polizei – obgleich das Verhältnis angespannt war.[19] Denn v.a. die 1965 gegründete Eingreiftruppe für Organisiertes Verbrechen, die „uropatruljen“ (Unruhestreife), führte im Viertel regelmäßig in zivil Kontrollen und Durchsuchungen durch (sie wurde erst 1976 nach Schüssen auf einen Migranten vorerst aus dem Viertel abgezogen, und die Polizei dann verdächtigt, Christiania durch Nichteingreifen gezielt der Verelendung zu überlassen).
Als sich die Konflikte um den Drogenmarkt im Viertel zuspitzten, gaben im Sommer 1978 einige Christianit*innen die Namen von Heroindealer*innen an die Polizei weiter, welche daraufhin 30 Menschen verhaftete.[20] Die Polizeikooperation endete allerdings in Enttäuschung, da sich Razzien unterschiedslos gegen Heroin-wie Cannabishandel und Konsument*innen richteten. Im Herbst 1979 nahm die Community daher – von der Polizei skeptisch wegen Vigilantismus beäugt – den Ausschluss von Heroin selbst in die Hand. In einer 40-tägigen „Junk-Blockade“schloss sie die Tore Christianias für die Heroindealer*innen – wobei einige Cannabisdealer*innen, die für die Legalisierung der Droge eintraten, mithalfen die Exklusion aufrechtzuerhalten.[21]
Die Konsument*innen wurden vor die Wahl gestellt: Entzug oder Auszug. Dafür hatten Community-Ärzte neben der Verschreibung der Ersatzdroge Methadon bereits mit einem selbstorganisierten Entzug experimentiert (eine Reisegruppe fuhr zu diesem Zweck nach Ägypten, erlebte aber bei Rückkehr zu 100% Rückfälle).[22] Seit der Junk-Blockade übergab die Community ihre Konsument*innen „harter“ Drogen jedoch meist an städtische Therapieeinrichtungen – wie es bereits zuvor auch mit Ausreißer*innen und Alleinerziehenden erprobt worden war.[23] Zur Überprüfung des – laut Gemeinschaftsgesetz verbotenen – Konsums von Heroin führte Christiania zudem bald obligatorische Urintests ein.[24]
Nilson beschreibt die Junk-Blockade als „wichtigen (und vermutlich seltenen) Moment nahezu vollständiger Einigkeit“ einer Community, die quasi in Notwehr gehandelt hatte, da sie kurz davor stand, „den Bach runter zu gehen“.[25] Denn der Heroinhandel war aufgrund internationaler Marktverschiebungen angestiegen und das Zahlenverhältnis unter den Bewohner*innen hatte sich zugunsten von Heroinkonsument*innen verschoben, nachdem etliche Aktivist*innen in Folge der jahrelangen Räumungsdrohung ausgezogen waren. Zudem waren ab Sommer 1978 innerhalb eines Jahres zehn Menschen im Viertel an Heroin verstorben – was es den tonangebenden Christianit*innen erlaubte, das Problem als „tödliche Bedrohung“ für die Gemeinschaft und die Junk-Blockade als Maßnahme für das „Überleben“ ganz Christianias zu rahmen.[26]
Andere sprechen bezüglich der Blockade-Entscheidung von einem „geschlossenen Treffen“.[27] Beteiligt waren nur jene, die sich als politische Aktivist*innen verstanden und von den Konsument*innen und Marginalisierten abgrenzten. Die Spaltungen innerhalb der Community beschreibt ein Aktivist der frühen Stunde wie folgt: „Ich erinnere wie ein guter alter kommunistischer Freund von mir es ausdrückte: 300 Revolutionäre passen auf 300 Loser auf.“[28]
Für die „Revolutionäre“ löste die Blockade und Einführung eines Therapiegebots für Heroinkonsument*innen einige Probleme. Dennoch kamen auch in der Folgezeit – nicht zuletzt unter dem Druck einer im Folgen den beschriebenen Normalisierung Christianias – immer wieder Spannungen mit dem Drogenmarkt auf. Auch die Spaltungen zwischen Aktivist*innen und „dem Rest“ der Community blieben erhalten. Sie verschoben sich aber von der Kritik an gesellschaftlichen Verlierer*innen zur Konsumkritik an den ökonomisch Erfolgreichen im Drogenmarkt.
Zwischen Markt, Kritik und Normalisierung
Auf die Junkblockade folgte eine konfliktreiche Übergangsphase: Zum einen übernahm die Motoradgruppe „Bullshit“ Mitte der 1980er Jahre trotz Kritik der Christianit*innen den dortigen Drogenmarkt und verließ das Viertel erst nach Machtkämpfen mit den konkurrierenden Hells Angels 1987.[29] Im Gemeinschaftsgesetz, das in der Freien Stadt bald mittels international verständlichen Piktogrammen verdeutlicht wurde, ergänzte seither ein Kuttenverbot die Untersagung von „harten“ Drogen, Gewalt, Privatautos, Feuerwerk, Diebstahl und Diebesgut sowie Schusswaffen und schusssicheren Westen. Zum anderen nahmen die Spannungen mit der Polizei zu. Denn die Christianit*innen unterstützten verschiedentlich soziale Kämpfe der neuen, militanten Besetzer*innen-Bewegung BZ Brigaden.[30] Die folgende Normalisierung – ab 1989 durch Legalisierung, ab 2004 durch Drogenkontrolle und ab 2011 durch Immobilienmarktintegration – wurden dementsprechend von Polizeirepression begleitet und forciert.[31]
Ab 1986 stellte erneut eine linksliberale Koalition die Regierung. Diese legalisierte die kollektive Landnutzung und Selbstverwaltung qua Gesetz (1986) und Rahmenvereinbarung (1991-2003). Sie unterwarf zugleich die informellen Strukturen dem allgemeinen Steuer-, Gewerbe- und Baurecht, was im Falle der Alkohollizenzen für Bars zu Widerstand führte, der durch Razzien gebrochen wurde. Parallel verhandelte eine Gruppe an Frauen aus Christiania die Begrenzung des Cannabismarkts auf eine bald von Verkaufshütten gesäumte Straße (Pusher Street). Denn der Handel sorgte im Zusammenspiel mit der Polizeirepression für Unruhe und für wohnortnahe Drogenverstecke. Trotz der relativen Pazifierung kam es zwischenzeitlich zu Konflikten mit der Polizei, die von Straßenkämpfen mit Besetzer*innen aufgestachelt war und wegen Drogenhandel eine „Christiania Einsatzgruppe“ schuf. Ein 15-monatiger Schwerpunkt-Einsatz 1992/93 endete nach negativer Presse erneut im Abzug der „Unruhe-Streife“ auf Anweisung des Innenministers und einer Rüge von Amnesty International 1994 wegen Polizeigewalt und illegalen Durchsuchungen.[32] In der relativ beruhigten Situation unter einer linken Regierung fanden von 1997 bis 2001 vier Anhörungen zur Legalisierung von Cannabis in Christiania statt.
Doch schon 2001 wandten sich eine neue konservativ-liberale Regierung und eine zwecks verbesserter crowd control militarisierte Polizei dem Drogenthema repressiv zu. Bereits 1996 hatte die Polizei – frustriert von Verhaftungen der immer gleichen Dealer*innen – dem Parlament schärfere Strafen für wiederholten Handel mit Kleinstmengen und erleichterte Ausweisungsmöglichkeiten abgerungen.[33] Dabei stand allerdings weniger Christiania im Fokus als der Stadtteil Vesterbro, wo migrantische Dealer*innen im Kontext der „behutsamen“ (und doch verdrängenden) Stadterneuerung mediale Aufregung erregten.[34] 2003 verkündete die Regierung dann insbesondere mit Blick auf Christiania einen „Kampf gegen Drogen“. Unter Verweis auf Nulltoleranz setzte sie auf Polizei und Strafe, während harm reduction – ohne Substitution – nur für Schwerstabhängige vorgesehen war. 2004 kriminalisierte sie jeglichen Betäubungsmittelbesitz bei zugleich erhöhten Strafen.[35]
Die Polizei schloss im selben Jahr nach halbjähriger Observation die Pusher Street: Sie verhaftete 60 Dealer*innen und 20 Schmierestehende (33 davon gingen im Schnitt für 15 Monate ins Gefängnis), ließ die Verkaufsbuden abreißen und patrouillierte ein Jahr lang intensiv.[36] Letzteres zielte auch auf die Eindämmung von teils tödlichen Revierkämpfen, die die Verdrängung um den lukrativen Marktplatz ausgelöst hatte. Schon nach einem Jahr waren die Dealer*innen jedoch wieder im Viertel etabliert, zunächst versteckt, später auch in Buden. Die Polizei kehrte wieder zur relativen Duldung des kontrollierbaren Marktes zurück.[37] Der Konsens der Community mit ihren„lizensierten“ Dealer*innen, die im Viertel lebten,[38] nur Cannabis zu verkaufen, war jedoch hinfällig. Denn unter den Bedingungen der Polizeikontrolle rekrutierten sich Dealer*innen aus marginalisierten Gruppen und standen wegen hoher Preise und geringer Profite mehr in Konkurrenz.[39] Auch die folgenden Bandenkriege, welche die Christianit*innen erst mit Öffentlichkeitsarbeit (z.B. Rock gegen Bandenkrieg 2009), 2016 mit Budenabriss und später temporär mit Straßenschließungen angingen,[40] führen Stimmen aus Christiania auf die Polizeiarbeit zurück.[41]
Dass Kontrolle von außen innere Spaltungen verschärfen kann, zeigte sich auch als die Stadt die Christianit*innen 2011 – im Rahmen einer Innenstadtaufwertungs- und Gentrifizierungspolitik – zwang, die besetzten Grundstücke und Häuser zu erwerben.[42] Der Verkauf – letztlich unter Marktpreis und durch eine Non-Profit-Gesellschaft als Eigentümerin – hob die Räumungsbedrohung auf. Er schuf aber – da die Community Privat-zugunsten von Kollektiveigentum u.a. durch Bullying unterdrückte – Mieter*innen, deren Leben von Staat und Gemeinschaft doppelt regiert wurde.[43] Amouroux[44] beschreibt eine hierarchische Gemeinschaft, in der im Vorfeld der Eingliederung des Viertels in den Immobilienmarkt die Akteur*innen des Drogenmarkts verstärkt problematisiert wurden: Die Dealer*innen galten schon lange als einflussreich. Denn sie regierten nicht nur die Pusher Street (wo sie Fotografieren und Rennen verboten – letzteres wegen Hunden, die ihr Eigentum schützten). Vielmehr blockierten sie auch auf den Stadtteilplena Entscheidungen, die ihren Profitinteressen zuwiderliefen (unterstützten die Community allerdings wohl z.T. auch mit anonymen Spenden). Unter dem Druck konservativer Kritiken an Christiania zur Jahrtausendwende, wurden die Dealer*innen vermehrt abgewertet, z.B. als nicht an der Gemeinschaft beteiligt. Ihre nur am Rande des Viertels geduldeten modernen Häuser galten als Ausdruck von Kommerz. Der Drogenmarkt wurde zunehmend als der Grund schlechthin für die Bedrohtheit Christianias angesehen.
Allerdings waren Drogenimage und -verfügbarkeit immer auch zentral für dessen touristische Attraktivität. Die entsprechenden Menschenmassen waren zwar in der letzten Dekade stark umstritten.[45] Zugleich profitier(t)e aber vom Tourismus nicht nur das (Drogen-)Gewerbe des Viertels, sondern auch die Bewohner*innen. Denn ihre im Stadtvergleich noch günstigen, aber seit 2011 wegen Renovierung der historischen Gebäude gestiegenen Mieten werden vom legalen Gewerbe des Viertels gestützt. Dies wird in Zeiten von COVID ebenso zum Problem wie sich allgemeiner die Konflikte um Drogen in der Krise zuspitzen.[46] Nach einer informellen Anfrage der Polizei angesichts größerer Gruppen, die das Viertel trotz COVID-Warnungen im Lockdown als Aufenthaltsraum nutzten, beschloss Christiana am 20.3.2020 die Eingänge des Viertels mit einem Zaun zu versperren. Alle Gewerbe und auch der Drogenmarkt waren damit für acht Wochen geschlossen. Dabei waren sich die Christianit*innen der Ambivalenz durchaus bewusst, dass Drogenkonsum in der Krise angesichts von Unsicherheit, Isolation oder der Sorge vor begrenzter Verfügbarkeit illegaler Substanzen eher zunehmen würde.[47] Dementsprechend verlagerte sich der Handel in das Nachbarviertel Christianshavn, wo – entgegen dem prekären Konsens in Christiania – neben Hash auch andere Drogen gedealt wurden. Als die Polizei – angesichts der Virusmutationen – am 6.1.2021 ein Aufenthaltsverbot für die Pusher Street verhängte, verlagerten diese Dealer*innen ihre Aktivitäten auch in die Wohnbereiche Christianias. Die Christianit*innen brandmarkten die Szene als „unhaltbar“[48] und entschieden am 14.1.2021 das Viertel wieder für den Cannabishandel zu schließen. Parallel wiesen sie in ihrer Internetrepräsentation und mittels eines Schriftzugs am Zaun die Verantwortung der Politik zu: „Liebe*r Politiker*in, jetzt bist du dran! Die Antwort lautet: Legalisieren!“
Fazit: aus Repression wächst Repression
Insgesamt zeigt sich ein ambivalentes Verhältnis der alternativen Gemeinschaft zu Drogen. Diese regierte den Straßenmarkt unter den Bedingungen der Kriminalisierung in den vergangenen 50 Jahren in einer Mischung aus Repression und Laisser Faire, die üblichem Polizeihandeln ähnlich ist.[49] Normen der Community, die analog zu hegemonialen Drogendiskursen gute und schlechte illegale Drogen unterschieden, legitimierten physische Gewalt und räumliche Schließung. Die Unterscheidung von Aktivismus und vermeintlich nicht politischer Marginalität und Sucht erlaubte soziale Ausschlüsse.[50] Zugleich verhinderten die Schwarzmarktpreise und die wiederkehrenden Polizeiinterventionen, die das System von zu den Bewohner*innen gehörigen Dealer*innen zerstörten und das Viertel attraktiv für Banden machten, den dauerhaften Aufbau eines tatsächlich von der Community regulierten Marktes. Das Fallbeispiel zeigt, wie alternatives zivilgesellschaftliches Polizieren von Konflikten – ohne Veränderung des (hier: drogenprohibitiven) gesellschaftlichen Kontextes – dazu neigt, Machtverhältnisse zu reproduzieren.