Während in Berlin Schritte hin zu einer Liberalisierung des Versammlungsrechts eingeschlagen werden, scheint Nordrhein-Westfalen den entgegengesetzten Weg zu gehen. Der Entwurf für ein Landesversammlungsgesetz atmet den Geist des Misstrauens gegen Anmelder*innen und Teilnehmer*innen, anstatt möglichst umfangreich die Versammlungsfreiheit zu gewährleisten.
Seit der Föderalismusreform 2006 liegt das Versammlungsrecht in der Kompetenz der Länder. Bisher haben lediglich Bayern (2008), Sachsen-Anhalt (2009), Niedersachsen (2010), Sachsen (2012) und Schleswig-Holstein (2015) von dieser Kompetenz Gebrauch gemacht. In den übrigen Bundesländern gilt gemäß Art. 125a Abs. 1 Grundgesetz (GG) (teilweise mit geringfügigen Abwandlungen) weiterhin das Versammlungsgesetz des Bundes. Das in Berlin beschlossene Versammlungsfreiheitsgesetz (VersFG BE) ist Ende Februar 2021 in Kraft getreten. Inmitten pandemiebedingter Einschränkungen brachte die nordrhein-westfälische Landesregierung am 21. Januar 2021ebenfalls einen Gesetzesentwurf in den Landtag ein, der es in sich hat.[1] Mit dem Entwurf für ein Landesversammlungsgesetz könnten Versammlungen zukünftig erheblich erschwert werden. Im Folgenden sollen wesentliche Punkte des Gesetzesentwurfes diskutiert und dem Berliner Gesetz gegenübergestellt werden, um abschließend auch das Berliner Gesetz kritisch zu beleuchten.
Militanzverbot
Besondere Medienaufmerksamkeit hat das im Entwurf für ein nordrhein-westfälisches Versammlungsgesetz (VersG-E NRW) angekündigte Militanzverbot (§ 18 Abs. 1) erhalten.[2] Demnach soll es künftig verboten sein, „an einer Versammlung teilzunehmen, wenn diese infolge des äußeren Erscheinungsbildes
1. durch das Tragen von Uniformen, Uniformteilen oder uniformähnlichen Kleidungsstücken,
2. durch ein paramilitärisches Auftreten oder
3. in vergleichbarer Weise
Gewaltbereitschaft vermittelt und dadurch einschüchternd wirkt.“
Diese Regelung geht weit über das bisher in §3 Abs. 1 Bundesversammlungsgesetz (BVersG) geregelte Verbot hinaus, „Uniformen, Uniformteile oder gleichartige Kleidungsstücke als Ausdruck einer gemeinsamen politischen Gesinnung zu tragen“.
Die Gesetzesbegründung nennt als Beispiel „uniformierte rechts- oder linksextremistische Verbände in der Weimarer Republik wie die SA und SS“[3] sowie als heutige Anwendungsfälle neonazistische Gruppierungen und den sogenannten schwarzen Block. Wörtlich heißt es: „Das Ensemble aus gleichartiger – meist schwarzer, aber zunehmend auch andersfarbiger – Kleidung, etwa auch gleichfarbiger Overalls (wie bei den Garzweiler-Demonstrationen im Sommer 2019), dazu bei den Rechtsextremisten Springerstiefel mit gleichfarbigen Schnürsenkeln, verbunden mit Marschtritt, Trommelschlagen und Führen schwarzer Fahnen, deren suggestiv-militante, aggressionsstimulierende und einschüchternde Wirkung sich geradezu aufdrängt, entspricht in hohem Maße dem Gefahrenbild, das der Gesetzgeber beim Erlass des Versammlungsgesetzes im Jahre 1953 vor Augen hatte.“[4] Ob eine „suggestiv-militante Einschüchterungswirkung“ bestehe, müsse jeweils durch die Polizei vor Ort beurteilt werden und sei gerichtlich überprüfbar.
Auch abgesehen davon, dass hier Mörderbanden wie SA und SS mit Protesten durch klimapolitische Ende-Gelände-Aktivist*innen im Rheinland in einem Topf geworfen werden, ist diese Regelung aus einer Vielzahl von Gründen problematisch. Zunächst erscheint fragwürdig, ob das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot hier noch gewahrt ist. Begriffe wie „einschüchternd wirken“ oder „in vergleichbarer Weise“ lassen sich kaum klar abgrenzen und führen daher zu erheblicher Rechtsunsicherheit. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass bei einem dynamischen Versammlungsgeschehen innerhalb kürzester Zeit entschieden werden muss, ob ein Rechtsverstoß vorliegt oder der Rahmen des Zulässigen gewahrt ist. Weiterhin ist völlig offen, wie sich die Vorschrift auf „nicht-militante“ Versammlungsteilnehmer*innen auswirkt, wenn Teile einer Versammlung entsprechend auftreten. Praktisch gesprochen: Verstoße ich bei einer Demonstration mit 10.000 Teilnehmer*innen gegen das Militanzverbot, da ich weiterhin an der Versammlung teilnehme, obwohl in 1km Entfernung andere Teilnehmer*innen desselben Demonstrationszuges durch ihre „uniformähnlichen Kleidungsstücke Gewaltbereitschaft vermitteln und dadurch einschüchternd wirken“? Der Gesetzeswortlaut schließt eine solche Konstellation nicht aus.
Auch die mit dem Militanzverbot verbundene Strafandrohung ist extrem problematisch. Für die Androhung von bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe soll es bereits ausreichen, durch sei eigenes äußeres Erscheinungsbild zu einem Verstoß gegen das Militanzverbot „aggressiv oder provokativ beizutragen“ (§ 27 Abs. 8 VersG-E NRW). Schon weniger gravierende Verstöße gegen Anordnungen zur Durchsetzung des Militanzverbotes werden als Ordnungswidrigkeit pönalisiert (§ 28 Abs. 1 Nr. 6 VersG-E NRW). Der nordrhein-westfälische Landtag sollte sich, um diese Vielzahl von Problemen zu vermeiden, darauf beschränken, das bereits aus dem Bundesversammlungsgesetz bekannte Uniformverbot in sein Landesrecht zu übertragen bzw. die einschränkende Auslegung des Bundesverfassungsgerichts normieren, wie es §9 Abs. 2 Berliner Versammlungsfreiheitsgesetzes tut.
Vermummungs- und Schutzausrüstungsverbot
Weiterhin soll in NRW auch verboten sein, Vermummungs- und Schutzausrüstung zu tragen oder mit sich zu führen (§ 17 VersG-E NRW). Welche Gegenstände vom Verbot umfasst sind, setzt die Versammlungsbehörde per Anordnung fest. Dabei soll das Mitführen von „geeigneten und den Umständen nach dazu bestimmt(en)“ Gegenständen als ordnungswidrig gelten (§ 28 Abs. 1 Nr. 7), während das Tragen sogenannter Vermummung oder Schutzausrüstung mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe bestraft wird (§ 27 Abs. 1 Nr. 6). In Berlin hingegen werden entsprechende Verstöße als Straftaten mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft (§ 26 Abs. 2 Nr. 4 VersG BE). Allerdings ist in Berlin zukünftig auch erst die Verwendung von Vermummung und Schutzausrüstung verboten (§ 19 Abs. 1 VersG Berlin), nicht bereits – wie in NRW geplant – das bloße Mitführen entsprechender Gegenstände.
Auch wenn die Einschränkung der inkriminierten Verhaltensweisen positiv ist, bleibt die Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit „aus bürgerrechtlicher Sicht eine Mindestforderung“.[5] Dies muss umso mehr gelten, da die Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit den handelnden Polizeibeamt*innen zusätzliche Spielräume ermöglicht, entsprechende Verstöße nicht zu verfolgen. Grundsätzlich ist die Polizei nach dem sogenannten Legalitätsprinzip verpflichtet, beobachtete Straftaten auch zu verfolgen (§§ 152 Abs. 2, 163 Abs. 1 S. 1 Strafprozessordnung, StPO). Bei einer Ordnungswidrigkeit ist dies für Polizeibeamt*innen jedoch nur „nach pflichtgemäßem Ermessen“ (§ 53 Abs. 1 Ordnungswidrigkeitengesetz, OWiG) geboten. Zudem besteht gemäß § 47 Abs. 1 OWiG jederzeit eine Einstellungsmöglichkeit, die die Polizei im strafprozessualen Ermittlungsverfahren nicht hat. Inwiefern die Polizei aus Gründen der Deeskalation in einem dynamischen Versammlungsgeschehen von der Verfolgung von Straftaten absehen kann, ist in der Wissenschaft umstritten.[6] Mit der Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit könnte die Gesetzgebung hier eine Klarstellung bewirken und den Schutz des Versammlungsgeschehens in den Mittelpunkt rücken.
Störungsverbot
Ähnlich wie § 2 Abs. 2 BVersG regelt auch der § 7 Abs. 1 VersG-E NRW ein Störungsverbot für Versammlungen. In Abs. 2 geht die Landesregierung jedoch deutlich darüber hinaus und will insbesondere verbieten,
„1. in der Absicht, nicht verbotene Versammlungen zu behindern oder zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vorzunehmen oder anzudrohen oder Störungen zu verursachen, [oder]
- in der Absicht, nicht verbotene Versammlungen zu verhindern oder ihre Durchführung zu vereiteln oder wesentlich zu erschweren, Handlungen vorzunehmen, die auf die Förderung von in Nummer 1 beschriebenen Handlungen gegen bevorstehende Versammlungen gerichtet sind“.
Damit stellt sich der Entwurf gegen ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Münster, das feinsinnig herausgearbeitet hatte, dass friedliche Blockaden von der Versammlungsfreiheit umfasst sind und daher auch Einüben von entsprechenden Handlungen bei sogenannten Blockadetrainings noch keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit begründe.[7] Die Gesetzesbegründung sagt hingegen: „Die Vorbereitung oder Einübung von Störungshandlungen ist auch dann verboten, wenn ein konkretes Versammlungsgeschehen nicht absehbar ist. Zusammenkommen müssen vielmehr lediglich eine subjektive Verhinderungsabsicht und objektiv Handlungen, die die Durchführung der Versammlung behindern können. Das ist bei einem ‚Blockadetraining‘ der Fall, da es die Blockadefähigkeiten potenzieller Blockierer erhöhen und letztere zudem in ihrer Blockadeabsicht bestärken kann, was sich wiederum potenziell nachteilig für die blockierte Versammlung auszuwirken vermag.“[8]Damit würde allein wegen potenzieller Nachteile durch potenzielle Blockierer*innen das Recht genommen, Blockadetrainings zur Mobilisierung von Protesten zu nutzen.
Wie schon § 21 BVersG, stellt auch § 27 Abs. 4 VersG-E NRW „grobe Störungen“ einer Versammlung unter Strafe. Darüber hinaus werden Verstöße gegen den oben dargestellten Abs. 2 künftig als Ordnungswidrigkeit mit Geldbuße bis zu 3.000 Euro geahndet. Eine entsprechende Ordnungswidrigkeit kann nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 VersG-E NRW bereits durch einfache „Störungen“ begangen werden. Während für eine grobe Störung verlangt wird, dass „nicht nur einzelne Teilnehmer*innen gestört werden, sondern die Durchführung der Versammlung insgesamt ungewiss sein“[9] muss, liegt die Hürde für eine einfache Störung (die gleichwohl verboten und ordnungswidrig sein soll) geringer. Daher steht zu befürchten, dass die geplante Regelung eine erhebliche Einschränkung von (antifaschistischen) Gegenprotesten zur Folge haben wird. Wer traut sich noch, extrem rechten Redebeiträgen mit lauten Trillerpfeifen zu begegnen, wenn hierfür möglicherweise ein Bußgeld droht? Bemerkenswert erscheint auch der Kontrast zum Berliner Versammlungsgesetz. Während man in NRW offenbar bemüht ist, Gegenproteste möglichst klein zu halten, normiert § 3 Abs. 3 VersFG Berlin: „Soweit dies erforderlich ist, stellt die zuständige Behörde bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben nach Absatz 2 einen schonenden Ausgleich zwischen der Versammlungsfreiheit und den Grundrechten Dritter her. Dies gilt auch bei Versammlungen, die sich örtlich und zeitlich überschneiden würden. Die Durchführung einer Gegenversammlung soll in Hör- und Sichtweite der Ausgangsversammlung ermöglicht werden.“
Pflichten der Anmelder*innen
Eine Versammlung anzumelden, soll in Nordrhein-Westfalen zukünftig mit mehr Pflichten verbunden sein. Verpflichtete der Brokdorf-Beschluss[10] bisher lediglich die Versammlungsbehörde zu versammlungsfreundlichen Verhalten, soll § 3 Abs. 3 VersG-E NRW auch eine Kooperationsobliegenheit der Veranstalter*innen normieren. Zwar besteht keine rechtliche Pflicht der Anmelder*innen zur Zusammenarbeit, die zuständige Behörde soll die Mitwirkung jedoch bei Beschränkungen der Versammlung berücksichtigen. Die Gesetzesbegründung führt als Beispiel eine aus Behördensicht „ungeeignete“ Route an. Verweigern sich Veranstalter*innen einem Kooperationsgespräch über eine „geeignete Route“, soll dies ein Verbot der Versammlung rechtfertigen können. Dies komme in Betracht bei „Demonstrationsrouten, die unmittelbare Gefahren für Leib oder Leben begründen können, beispielsweise in dem Fall, dass der Aufzug in unmittelbarer Nähe der Dutzende Meter hohen Abbaukante eines Braunkohletagebaus vorbeiführen soll. In besonderer Weise dürfte dies gelten, wenn durch den Veranstalter schon im Vorfeld … öffentlich zur Begehung von Straftaten unter dem Schlagwort des ‚zivilen Ungehorsams‘ aufgerufen wird und der im Wege der Gestaltungsfreiheit geplante Weg …das staatliche Ziel der Verhinderung von eben diesen Straftaten wesentlich erschwert oder vereitelt.“[11]
Auch Ordner*innen könnten zukünftig vor der polizeilichen Erfassung nicht mehr sicher sein. § 12 Abs. 2 S. 1 VersG-E NRW normiert: „Wenn aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte zu besorgen ist, dass von einer öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, hat die Veranstalterin oder der Veranstalter der Behörde auf deren Aufforderung hin Namen und Adressen der vorgesehenen Ordnerinnen und Ordner mitzuteilen.“ Der Rechtsanwalt Jasper Prigge schreibt zu dieser Formulierung, „dass letztlich von jeder Versammlung die eine oder andere Gefahr ausgeht. Die jetzige Regelung würde die Vorlage von Ordner*innen-Listen erlauben, selbst wenn die Gefahr in überhaupt keinem Zusammenhang mit den eingesetzten Ordner*innen stehen. Warum eine Liste vorgelegt werden sollte, wenn die Gefahr besteht, dass die Versammlung zu Störungen des Autoverkehrs führt, ist fraglich.“[12] Jedenfalls ist davon auszugehen, dass weniger Menschen bereit sein werden, als Ordner*innen an einer Versammlung mitzuwirken, wenn sie befürchten müssen, dass ihre Daten bei der Polizei landen.[13] Dies gilt umso mehr, als von einem Interesse des polizeilichen Staatsschutzes an solchen Listen ausgegangen werden kann – rechtswidrige Zugriffe auf Polizeidaten von extrem rechten Beamt*innen noch gar nicht mitgedacht.
Beschränkung und Beobachtung der Versammlung
Versammlungsbeschränkende Maßnahmen setzen (wie auch traditionell präventivpolizeiliche Maßnahmen) das Vorliegen einer unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Sicherheit voraus. Daneben besteht unter anderem nach dem Bundesversammlungsgesetz noch die Möglichkeit, Beschränkungen mit einer unmittelbaren Gefährdung der „öffentlichen Ordnung“ zu rechtfertigen. Nach der Definition des Bundesverfassungsgerichts meint öffentliche Ordnung die „Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird“[14] Vereinfacht ließe sich auch sagen, der Begriff der öffentlichen Ordnung beschreibt die jeweils herrschende Sozial-moral. Dieser Begriff wird wegen seiner unklaren Abgrenzbarkeit als mit dem besonders sensiblen Bereich der Versammlungsfreiheit nur schwer vereinbar kritisiert. Zudem müssen gerade die sozial-ethischen Anschauungen der Mehrheit durch den Gebrauch von Grundrechten durch eine Minderheit in Frage gestellt werden können, um zukünftig andere gesellschaftliche Mehrheiten erreichen zu können.[15]
Aus diesem Grund haben bereits die Länder Sachsen-Anhalt (§13 Abs. 1 VersammlG LSA) und Schleswig-Holstein (vgl. § 13 Abs. 1 VersFG SH) den Begriff der öffentlichen Ordnung aus ihren Landesversammlungsgesetzen gestrichen. Der Entwurf für Nordrhein-Westfalen behält die Kategorie der „öffentlichen Ordnung“ jedoch explizit bei und begründet dies mit der Möglichkeit, damit Naziaufmärsche zu beschränken. Zwar ist es durchaus möglich, unter engen Voraussetzungen, Versammlungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung zu untersagen, wenn dort getätigte rassistische oder antisemitische Äußerungen der Versammlung ein Gesamtgepräge der Identifikation mit dem Nationalsozialismus oder einer aggressiven, provokativen oder einschüchternden Wirkung verleihen.[16] Sofern man der Meinung ist, das Versammlungsrecht solle in derartiger Weise Position beziehen, wäre aus rechtsstaatlicher Sicht jedoch mindestens geboten, dieses Ziel in konkreten Tatbestandsvoraussetzungen zu normieren.
Für eine Mischlösung hat sich Berlin entschieden. Dort wird der Begriff der öffentlichen Ordnung zwar gestrichen; ermöglicht wird allerdings die Beschränkung von Versammlungen, wenn diese aufgrund der konkreten Art und Weise ihrer Durchführung „geeignet oder dazu bestimmt ist, Gewaltbereitschaft zu vermitteln, oder in ihrem Gesamtgepräge an die Riten und Symbole der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft anknüpft“ (§ 14 Abs. 2 S. 2 VersFG BE). Dies gilt, wenn die Versammlung„dadurch einschüchternd wirkt“oder „in erheblicher Weise gegen das sittliche Empfinden der Bürgerinnen und Bürger und grundlegende soziale oder ethische Anschauungen verstößt“(ebd.). Zwar konkretisiert die Gesetzesbegründung, dass diese Sozialnormen „mit dem Wertgehalt des Grundgesetzes vereinbar“[17] sein müssen. Gleichwohl bleibt diese (gut gemeinte) Einschränkung fragwürdig. Denn gerade im hochsensiblen Bereich des Art. 8 GG sollte die Gesetzgebung sich darauf beschränken, eine möglichst umfassende Versammlungsfreiheit zu ermöglichen. Sich noch nicht strafbaren, aber als faschistisch zu erkennenden Gruppierungen und Parteien bzw. ihren Versammlungen entgegenzustellen, ist Aufgabe einer lebendigen Zivilgesellschaft.
In Berlin und NRW soll es zukünftig (wie auch schon nach § 12a Abs. 1 BVersG) möglich sein, Bild- und Tonaufnahmen bei Versammlungen anzufertigen, wenn „Tatsachen die Annahme rechtfertigen“, dass von der Person eine „erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ (in NRW auch öffentliche Ordnung) ausgeht (§§ 16 Abs. 1 VersGE-NRW, 18 Abs. 1 VersFG BE). Unterschiedlich handhaben beide Gesetze(sentwürfe) jedoch den Umgang mit sogenannten Übersichtsaufnahmen, die „wegen der Größe oder Unübersichtlichkeit“ im Einzelfall zur „Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes“ angefertigt werden dürfen. Während Berlin festschreibt, dass diese „offen anzufertigen“ sind und „weder aufgezeichnet werden noch zur Identifikation der Teilnehmenden genutzt“ dürfen (§ 18 Abs. 2 VersFG BE), setzt NRW für die Aufzeichnung lediglich Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung voraus und ermöglicht die Nutzung zur Identifizierung der Versammlungsteilnehmer*innen bei einer „Erheblichkeit“ dieser Gefahr (§ 16 Abs. 2 VersG-E NRW).
Die Überwachung von Versammlungsteilnehmer*innen kann auch durch eingesetzte Zivilpolizist*innen erfolgen. Auch wenn gegen diese Vorschrift vermutlich regelmäßig verstoßen wurde, galt bisher, dass sich Polizeibeamt*innen in zivil der Versammlungsleitung zu erkennen geben müssen (§ 12 BVersG). Anders als Berlin, das die Regelung in sein Landesrecht überführt (§ 11 S. 2 VersFG BE), lässt der nordrhein-westfälische Entwurf diese Vorschrift wegfallen, ohne dass sie bisher im Gesetzgebungsverfahren überhaupt Erwähnung fand.
Nicht nur progressiv – Kritikpunkte am Berliner VersG
Das Berliner Versammlungsfreiheitsgesetz kann trotz der genannten Kritikpunkte – Strafbarkeit der Vermummung, Stützung von Verboten auf das „sittliche Empfinden“, Übersichtsaufnahmen – als zurzeit liberalstes Versammlungsgesetz Deutschlands gelten.
Gleichwohl enttäuscht es bürgerrechtliche Erwartungen. Beispielsweise ist nicht sachlich begründbar, dass für Kleinstversammlungen mit nur wenigen Personen die gleichen Pflichten bei der Anmeldung gelten, wie bei Demonstrationen mit tausenden Teilnehmer*innen. Auch das im Gesetzgebungsverfahren umstrittene sogenannte Deeskalationsgebot aus § 3 Abs. 4 VersFG BE, das bisher in keinem anderen Versammlungsgesetz enthalten ist, ist möglicherweise problematisch. Demnach wirkt die Polizei „darauf hin, bei konfliktträchtigen Einsatzlagen Gewaltbereitschaft und drohende oder bestehende Konfrontationen zielgruppenorientiert zu verhindern oder abzuschwächen, um eine nachhaltige Befriedung der jeweiligen Lage zu ermöglichen.“ Was zunächst (als verfassungsrechtliche gebotene) Verhaltenspflicht der Polizei, Einsätze im Zusammenhang mit Versammlungen zurückhaltend durchzuführen, erscheint, könnte auch in das Gegenteil verkehrt werden. Kritiker*innen befürchten, die Polizei begreife die Regelung möglicherweise als „Auftrag, weit im Vorfeld von Gefahren für die öffentliche Sicherheit präventiv und eingreifend tätig zu werden“.[18]
Auch verpasst das Berliner Gesetz genauso wie der Entwurf für Nordrhein-Westfalen die Chance, die sogenannte Polizeifestigkeit der Versammlung, also die (Un-)Zulässigkeit von Maßnahmen nach dem allgemeinen Polizeirecht im Vorfeld und während der Versammlung, zu regeln. Stattdessen sollen polizeirechtliche Maßnahmen möglich sein, „soweit dieses Gesetz die Abwehr von Gefahren gegenüber einzelnen Teilnehmenden nicht regelt“ (§§ 9 Abs. 1 S. 1 VersG-E NRW, 10 Abs. 1 VersFG BE), obwohl das allgemeine Polizeirecht gerade nicht die spezifischen Gefahren einer Versammlung reflektiert.
Fazit
Der Entwurf für ein Versammlungsgesetz NRW scheint von einer größtmöglichen Abneigung gegen den grundrechtlich geschützten Gebrauch der Versammlungsfreiheit getragen zu sein. Gerade in Zeiten eines gesellschaftlichen Rechtsrucks muss Versammlungsfreiheit ermöglicht, nicht beschränkt werden. Stattdessen schafft der Gesetzesentwurf unnötige Barrieren bei der Anmeldung und Durchführung von Versammlungen und weitet die Möglichkeiten versammlungsbeschränkender Maßnahmen aus. Für die CDU-geführte Landesregierung inklusive der „Bürgerrechtspartei“ FDP scheint bürgerrechtlicher Freiheitsgebrauch ein Problem darzustellen.
In seinem wegweisenden Brokdorf-Beschluss bezeichnete das Bundesverfassungsgericht Versammlungen als „ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren. Namentlich in Demokratien mit parlamentarischem Repräsentativsystem und geringen plebiszitären Mitwirkungsrechten hat die Versammlungsfreiheit die Bedeutung eines grundlegenden und unentbehrlichen Funktionselementes.“[19] Dies sollte sich stets zu Augen führen, wer Versammlungsfreiheit einschränkt, weil bestimmte Versammlungen als störend oder politisch nicht genehm scheinen.
Bereits 2002 hatte Heiner Busch hinsichtlich der Versammlungsfreiheit in Art. 8 Abs. 1 GG konstatiert: „Die Formulierung der Versammlungsfreiheit ist halbgar, diktiert von der Angst vor dem Volk – ein ‚typisches Kompromissprodukt der deutschen Verfassungsgeschichte‘, in der einer Opposition außerhalb der verstaatlichten Formen immer polizeiliche Grenzen gesetzt wurden.“[20] Der Entwurf für ein nordrhein-westfälisches Versammlungsgesetz kann nicht einmal als „halbgar“ bezeichnet werden. Er betrachtet Versammlungen als Problem, das es einzuhegen gilt – nicht als Bestandteil einer lebendigen Demokratie.