Alle Beiträge von Jenny Künkel

Kontrolle im Kapitalismus: Eine intersektionale Perspektive

Kapitalismus war lange Zeit out. Seit Finanzkrise und Pandemie widmen sich soziale Bewegungen mit unterschiedlichen Verhältnissen zum repressiven Staatsapparat sowie die Kritische Kriminologie, in der abolitionistische Traditionen aufleben, verstärkt der kapitalistischen Vergesellschaftung. Der Beitrag umreißt, welche Fragen gestellt und künftig bearbeitet werden sollten.

Kontrolle im Kapitalismus zu betrachten, ist seit jeher das Metier der marxistisch inspirierten Kritischen Kriminologie. Schon die sogenannten „Neuen Sozialen Bewegungen“ und parallele Theorieentwicklungen seit den späten 1960er Jahren rückten bekanntermaßen Herrschaftsverhältnisse jenseits des Widerspruchs von Kapital und Arbeit verstärkt in den Blick. In Fortentwicklung und zugleich Kritik der Kritischen Kriminologie entstand etwa eine feministische Kriminologie, die Themen wie Abtreibung, Sexarbeit oder Vergewaltigung in den Blick nahm. Seit den 1990er Jahren sorgte die Verbreitung poststrukturalistischer Ansätze in der Wissenschaft und den sozialen Bewegungen für einen Perspektivwechsel. Kriminolog*innen und Aktivist*innen problematisierten nicht mehr „nur“ materielle Gegebenheiten wie die kapitalismusstabilisierende Wirkung des Strafjustizsystems, die ideologischen Hintergründe und materiellen Effekte einer geschlechtsblinden Klassenjustiz oder die „Definitionsmacht“[1] einer Polizei, die als strukturkonservative Institution oft auf der Basis traditioneller Vorstellungen von z. B. Frauen oder Migrant*innen agiert. Vielmehr wurden die Kategorien selbst grundlegend hinterfragt und das Verständnis von Macht erweitert. Bereits in den 1960er und 70er Jahren hatte der „labeling approach“[2] in der Kriminologie deutlich gemacht, dass Kriminalität schlicht das ist, was die Gesellschaft als solche versteht. Nun setzte sich die Erkenntnis durch, dass auch „Frau“ oder „Schwarzer“ keine natürlichen Tatsachen sind, sondern gesellschaftlich hervorgebracht werden – wobei die Subjekte nicht nur durch staatliche Ver- und Gebote sowie Ideologie reguliert werden, sondern durch die machtvollen Anrufungen auch hervorgebracht und tagtäglich in die Machtverhältnisse verwickelt sind, wie es Foucault und Autor*innen der Gouvernementalitätsstudien betonten.[3] Kontrolle im Kapitalismus: Eine intersektionale Perspektive weiterlesen

Redaktionsmitteilung

Klimawandel, Aufstieg der Rechten, Machtkonzentrationen im Finanzmarktkapitalismus – viele Aspekte der „multiplen Krise“ spitzen sich gegenwärtig zu und sind daher zunehmend umkämpft. Entsprechend deutlich zeigt ein Blick auf das Gewaltmonopol im Jahr 2023, wie die Polizei die herrschende Ordnung nicht nur absichert, sondern, wenn nötig, auch gegen Protest durchsetzt. In Lützerath etwa räumten im Januar über 3.000 Beamt*innen ein Dorf für einen börsennotierten Energieversorger. Die dabei eingesetzte Gewalt galt teils als unverhältnismäßig und mithin rechtswidrig. Auch in Leipzig, wo die Stadt im Juni Demonstrationen gegen die Verurteilung einer militanten Antifaschistin verboten hatte, dürften Bundes- und Landespolizei den legalen Rahmen überschritten haben: Sie riefen die Bahn zur Meldung „linker“ Anreisender auf und kesselten selbst Minderjährige stundenlang ein. Redaktionsmitteilung weiterlesen

Redaktionsmitteilung

Wer dieser Tage in die Zeitung schaut, könnte meinen, das Abendland sei wieder am Untergehen. In NRW behauptet die Justizministerin, kriminelle Clans stünden „über dem Recht“. In Essen seien nach einer Schlägerei von ein „paar hundert Arabern“ die „Anwohner angewidert“ und der „deutsche Staat“ machtlos, weiß die WELT. Weil dies die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetze, verfolgt der Innenminister von NRW eine „Null-Toleranz-Strategie“. Auch der Bundesinnenministerin machen Clans „viel Sorge“, denn sie störten „Familien mit Kindern“ (keine Clans) bei ihren Freibadbesuchen. Redaktionsmitteilung weiterlesen

#BlackLivesMatter in den USA: Von rassistischer Unterdrückung zum Black Capitalism?

Interview mit Margit Mayer

Hierzulande gaben #blm und #DefundThePolice zumindest Impulse, Abolitionismus konsequent antirassistisch zu denken und liberale Racial-Profiling-Kritik antikapitalistisch zu reformulieren. In den USA erscheinen große Teile der Bewegung zunehmend parteinah und zielen auf Schwarzes Unternehmertum statt auf gesellschaftliche Transformation. Wir sprachen mit der Bewegungsforscherin Prof. Margit Mayer über Hintergründe und Alternativen. Sie beobachtete das massive Anwachsen von Fördergeldern von Großkonzernen und liberalen Stiftungen, die in den USA eine ethnienübergreifende Klassenpolitik durch Black-Unity-Ansätze verhindern. Statt der Anrufung singulärer Identitäten plädiert sie für intersektionale Herrschaftskritik.

#blm wird von hiesigen Linken sehr gefeiert. Deine Analyse der Situation in den USA fällt nüchterner aus.[1] Du sagst, ähnlich wie frühere Black-Power-Bewegungen droht #blm, letztlich v. a. (der Förderung von) Schwarzen Eliten zu dienen. Dabei entzündete sich die Bewegung doch grade an der Polizeigewalt gegen Schwarze, die über wenig ökonomische Mittel verfügen …

Margit: Mehr noch, #blm entstand vor dem Hintergrund der verstärkten Prekarisierung gerade von People of Color (POC) und Migrant*innen in den USA. Diese wurde durch das Zusammenfallen von Pandemie und Wahlkampf 2020 deutlich sichtbar und auch skandalisierbar. Im Gefolge der 2008er Hypothekenkrise und Rezession bedeutete die Pandemie für Massen von Geringverdiener*innen, und insbesondere für rassifizierte Gruppen, Job- und damit oft Krankenversicherungs- oder gar Wohnungsverlust. Für die meisten im Niedriglohnbereich oder in der Gig-Economy Arbeitenden war eine COVID-Prävention durch „Home Office“ ebenso wenig möglich wie für Obdachlose, die trotz Gesundheitsrisiken an ihren Arbeitsplätzen erscheinen und in überfüllten Bussen und U-Bahnen pendeln mussten – falls sie das „Glück“ hatten, dass ihre Arbeitsplätze nicht der Coronakrise zum Opfer fielen. #BlackLivesMatter in den USA: Von rassistischer Unterdrückung zum Black Capitalism? weiterlesen

Pimmelgate

Mit dem Hashtag #Pimmelgate schaffte es Hamburgs Innensenator Andy Grote bis in die internationale Presse. Sogar die Washington Post berichtete über eine Hausdurchsuchung bei dem Betreiber einer linken Bar auf St. Pauli wegen eines Tweets „Du bist 1 Pimmel“.[1] Seither ist das Thema regelrecht eskaliert.

Die Vorgeschichte: Ende Mai 2021 empörte sich der Innensenator über die „Ignoranz“ junger Menschen, die trotz Pandemie in den Straßen des Schanzenviertels feierten („dämliche Aktion“). Es folgte ein Sturm der Entrüstung, dann der besagte Pimmel-Tweet. Denn der Senator hatte kaum ein Jahr zuvor, bei seiner Ernennungsfeier – nicht im Freien, sondern in einer Bar – selbst gegen Corona-Auflagen verstoßen. Und danach noch im Innenausschuss gesagt, seine Feier sei mit der Verordnung aus seinem Hause vereinbar. Da dies leicht widerlegbar war, musste er laut Medienberichten 1.000 Euro Strafe zahlen.[2] Pimmelgate weiterlesen

Polizieren, Sexualität und Gender – Feminismus zwischen Machtkritik und Punitivität

Polizei bleibt hetero-maskulinistisch; Straftäter*innen, Gefangene und (Polizei-)Gewaltopfer sind meist männlich. Doch sexualisierte Gewalt wird oft durch Frauen-, Queer- und Transfeindlichkeit gespeist. Auch das „ideale Opfer“ (N. Christie) und Kriminalitätsfurcht gelten als weiblich. Polizieren und Strafen sind also gegendert. Sexualität dient oft als Thema für Rufe nach mehr Strafe. Im öffentlichen Raum wird sexuelle Devianz kontrolliert. Im Privaten interessierte sexuelle Gewalt lange nicht. Dass sich dies änderte, verdanken wir feministischen Kämpfen – doch diese werden in neoliberalen Zeiten punitiver.

Als Kerninstitutionen des Staates sind Polizieren und Strafen mit Herrschaftsverhältnissen verknüpft. Ihre Rolle bei der Absicherung des (rassialisierten, gegenderten) Kapitalismus ist traditionell ein Fokus von kritischer Kriminologie und Bürger*innenrechtskämpfen.[1] Polizieren, Sexualität und Gender – Feminismus zwischen Machtkritik und Punitivität weiterlesen

Redaktionsmitteilung

In Würzburg tötet am 25. Juni ein junger Somalier drei Frauen und verletzt weitere Personen mit einem Messer. Einen Tag später wird in Wien die Leiche einer 13-Jährigen entdeckt. Zwei afghanische Teenager werden des sexuellen Missbrauchs und Erstickens verdächtigt. In beiden Fällen sind die Umstände unklar. In Österreich spekulieren Polizei und Presse über gemeinsamen Ecstasy-Konsum in der Wohnung eines der Teenager oder ein „Gefügigmachen“ durch Drogen. Die BILD perfektioniert das Bild des unschuldigen Opfers mit der Rede vom Überfall durch mehrere Männer im Park. In Deutschland ist über die Verletzten erst wenig bekannt. Dennoch wissen es Rechte im Netz gleich ganz genau: Gezielt seien Frauen aus islamistischem Frauenhass getötet worden. Unter dem Hashtag #Femizid beklagen sie ein vermeintliches Schweigen der Feminist*innen, deren Thema sie aneigneten, weil der Täter Migrant sei. Auch in Österreich wird über Migrationspolitik diskutiert. Redaktionsmitteilung weiterlesen

Autonomes Polizieren von Drogen: Machteffekte des Prohibitionskontexts in Christiania

Der Kopenhagener Stadtteil Christiania in Dänemark und sein Cannabismarkt sind seit 1971 weitgehend selbstverwaltet und doch vom Kontext staatlicher Drogenprohibition geformt. Der Beitrag aus dem Projekt www.narcotic.city zeigt Machteffekte von interner Normierung, ex­terner Normalisierung und Polizeihandeln auf: Hierarchien illegaler Drogen, Exklusion von Heroin und Community-Dealer*innen sowie verstärkte Raumkämpfe.

Kaum ein Satz beschreibt das Verhältnis von Drogen und Christiania treffender als Adornos bekannte Feststellung: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“.[1] Denn das Stadtviertel entstand als Ort des Wider­stands und war doch immer von äußeren Kräfteverhältnissen geprägt,v. a.von Drogenverbot, Marginalisierung und Gentrifizierung.

Im Jahr 1971 besetzten Aktivist*innen zahlreiche Gebäude eines Militärgeländes, das sich auf einer künstlichen Insel und zugleich in einer 1A-Immobilienlage im Zentrum Kopenhagens befand.[2] Es folgten Verhandlungen der bald ca. 800 Besetzer*innen mit der Kommune und dem Kultusministerium, die auf der Fläche des Verteidigungsministeriums einen Wohn-, Gewerbe- oder Kulturstandort etablieren wollten. Nach Räumungsversuchen, die aufgrund befürchteter Proteste halbherzig aus­fielen,erkannte das dänische Parlament die „Freie Stadt“1973 als „soziales Experiment“ an. Autonomes Polizieren von Drogen: Machteffekte des Prohibitionskontexts in Christiania weiterlesen