Beobachtungsobjekt AfD? Unterwanderung statt politischer Auseinandersetzung

von Heiner Busch und Norbert Pütter

Nach einiger Vorlaufzeit kam der Paukenschlag: Nun werde die Alternative für Deutschland (AfD) als Gesamtpartei vom Verfassungsschutz als „Verdachtsfall“ beobachtet, hieß es im Januar 2021. Schon einen Tag später zwang ein Gericht das Bundesamt, diese Entscheidung einstweilen zurückzunehmen. Während der „Vorgang AfD“ im Moment ruht, haben die Verfassungsschutzämter mit den „Querdenkern“ neue Verfassungsfeinde entdeckt.

Im November 2015 erklärte der damalige Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) Hans-Georg Maaßen, die AfD werde von seiner Behörde „nicht als extremistisch eingeschätzt“ und stelle auch „keine Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung“ dar.[1] Auf einem Parteitag im Juli 2015 hatte sich Frauke Petry als Vertreterin der nationalkonservativen Strömung gegen den wirtschaftsliberalen AfD-Mit­be­grün­der Bernd Lucke durchgesetzt und war zur Parteisprecherin gewählt worden. Zweiter Sprecher wurde zwar der keinem Flügel zugerechnete Jörg Meu­then, mit Alexander Gauland, Beatrix von Storch und Albrecht Glaser dominierten die Nationalist*innen aber auch den Rest des Vorstandes und bestimmten nun definitiv den Kurs der Partei.[2]

Die öffentliche Debatte um die Frage der verfassungsschützerischen Beobachtung nahm jedoch erst Ende Januar 2016 Fahrt auf, nachdem Petry dem Mannheimer Morgen ein Interview gegeben hatte. [3] Sie sagte dort, Grenzpolizist*innen müssten, um „den illegalen Grenzübertritt (von Flüchtlingen zu) verhindern, notfalls auch von der Schusswaffe Gebrauch machen. So steht es im Gesetz.“ Petry erklärte in der Folge, sie sei zu dieser Aussage gedrängt worden. Dass das Gesetz über den unmittelbaren Zwang aus dem Jahre 1961 Grenzbeamt*innen im Falle von „Grenzdurchbrüchen“ tatsächlich zum Schusswaffengebrauch ermächtigt, spielte in der folgenden Auseinandersetzung keine Rolle. Es waren vor allem Repräsentanten der Grünen und der SPD, die nun nach dem Inlandsgeheimdienst riefen: Anton Hofreiter in der Tagesschau, Sigmar Gabriel in der „Bild am Sonntag“. Die AfD, so der damalige SPD-Vorsitzende, stehe nicht mehr „auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ und in der Vergangenheit sei man „gut beraten“ gewesen, sich „solche Gruppen genauer anzusehen“.[4]

Die Aufgeregtheit legte sich schnell wieder, die AfD wurde weiterhin nicht beobachtet. Petry, die noch im September 2016 dafür plädiert hatte, den Begriff „völkisch“ wieder „positiv aufzuladen“, galt im Sommer 2017 plötzlich als gemäßigt und trat nach der Bundestagswahl im September aus der Partei aus. Der erneute Rechtsrutsch der AfD schien das BfV nicht weiter zu beeindrucken. Erst im März 2018 beschloss die Amtsleitertagung, das regelmäßige Treffen der Leiter der Verfassungsschutzämter der Länder und des Bundes, das BfV solle einen „ergebnisoffenen Prüfprozess zu tatsächlichen Anhaltspunkten für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung in der AfD und/oder ihren Teilorganisationen“ einleiten.[5]

An der öffentlichen Präsentation des Amtes und des vorgesetzten Bundesinnenministers änderte sich jedoch nichts. Noch am 1. September 2018, als der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke mit Lutz Bachmann von Pegida und diversen hitlergrüßenden Neonazis an der Spitze eines „Schweigemarschs“ in Chemnitz liefen, sah Horst Seehofer keinen Grund zur Änderung seiner Linie: „Natürlich muss man immer genau hinschauen, und das tut der Verfassungsschutz, ob es sich bei Aussagen von Parteimitgliedern oder Zusammenarbeit mit bestimmten Gruppen um Einzelmeinungen oder parteipolitische Linie handelt. Derzeit liegen die Voraussetzungen für eine Beobachtung der Partei als Ganzes für mich nicht vor.“[6] Erst Ende September 2018 machte die Amtsleitertagung dem BfV Druck – offenbar nachdem sich die Vertreter der CDU- und der SPD-ge­führ­ten Länder in der Innenministerkonferenz, der damalige Innenminister Mecklenburg-Vorpommerns, Lorenz Caffier, sowie der Niedersach­sens, Boris Pistorius, geeinigt hatten. Die Landesämter, die dem BfV noch kein Material geliefert hatten, sollten dies bis Oktober 2018 tun. Zur Jahreswende sollte das BfV ein Ergebnis vorlegen.

Klar ist, dass dieser Gesinnungswandel im BfV kaum etwas mit der realen Entwicklung nach rechts innerhalb der AfD zu tun hatte. Diese war be­reits seit 2015 deutlich zu erkennen. Aber ob eine Organisation „beobachtet“ wird oder nicht, ist eine Frage der politischen Opportunität. Und die schien dem Duo Maaßen/Seehofer nicht gegeben. Generell war der Chef des Bundesamtes sehr zurückhaltend, was den Umgang mit nicht offen neonazistischen Organisationen und Aktionen betrifft. Das zeigt sich nicht nur an seinen Äußerungen zu der Frage, ob es denn bei den Aus­schreitungen in Chemnitz im August 2018 „Hetzjagden“ auf „ausländisch aussehende“ Menschen gegeben hatte.[7] Es zeigt sich auch an seinen diversen Treffen mit AfD-Funktionär*innen – mit Petry, Gauland und Stephan Brandner.[8] Dass er dabei auch Tipps zur Vermeidung einer „Beobachtung“ gegeben habe, hat der BfV-Chef dementiert. Im September 2018 war Maaßen auch für Seehofer nicht mehr haltbar. Ein Wechsel als Berater ins Innenministerium scheiterte. Anfang November erfolgte die Versetzung in den einstweiligen Ruhestand.

Aber auch die Landesämter scheuten eine Beobachtung der AfD, die sie auch alleine hätten beschließen können.[9] Soweit ersichtlich hatten im September 2018 nur Niedersachsen und Bremen die AfD-Jugendor­ga­nisation auf dem Schirm. Der niedersächsische Landesverband der Jungen Alternative löste sich daraufhin formell auf. Thüringen machte die AfD im September 2018 zum „Prüffall“. Alle anderen Länder hielten sich bis zum Januar 2019 zurück – offensichtlich aus Furcht, dass die Beobachtung gerichtlich angefochten würde.

Politische Parteien als Beobachtungsobjekte

Die verfassungsrechtliche Basis für die „Beobachtung“ politischer Parteien liegt in Artikel 21 Grundgesetz. Während in Absatz 1 das „Parteienprivileg“ formuliert ist („Ihre Gründung ist frei.“), erlaubt Absatz 2 das Verbot von Parteien durch das Bundesverfassungsgericht, sofern sie „nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik zu gefährden“. Diese, dem Modell der „wehrhaften Demokratie“ folgende Möglichkeit des Parteienverbots setzt voraus, dass Informationen gesammelt werden (dürfen), ob „Ziele“ oder „Verhalten“ vorliegen, die ein Verbot rechtfertigen könnten.[10]

In der Formulierung des Gesetzes besteht die Aufgabe der Verfassungsschutzbehörden in der „Sammlung und Auswertung von Informationen“ unter anderem über „Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ gerichtet sind (§ 3 Absatz 1 Bundesverfassungsschutzgesetz, BVerfSchG). § 4 definiert „Bestrebungen“ („solche politisch bestimmten, ziel- und zweckgerichteten Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss“) sowie die Merkmale der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“, die das Verfassungsgericht in den Verbotsverfahren der 1950er Jahre entwickelt hatte. Zulässig ist eine Beobachtung nur dann, wenn „tatsächliche Anhaltspunkte“ auf die verfassungsgefährdenden „Bestrebungen“ vorliegen. Was genau unter „tatsächlichen Anhaltspunkten“ zu verstehen ist, liegt irgendwo zwischen mehr als bloßer Vermutung und weniger als Gewissheit; jeweils im Einzelfall müssen die Nachweise erbracht werden. Was im Einzelfall zulässig ist, muss zudem dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen: Der Grad an Verdacht und Gefährlichkeit entscheidet über die Mittel, die zur „Beobachtung“ zulässig sind.

Aus dieser Grundkonstellation haben die Verfassungsschutzämter eine Hierarchie ihrer „Beobachtungsobjekte“ entwickelt: Die untere Stufe ist der „Prüffall“. Hier haben die Ämter – auf welchem Weg auch immer – Hinweise auf verfassungsgefährdende Bestrebungen erhalten, die sie als „tatsächliche Anhaltspunkte“ bewerten. Ihre Tätigkeit ist im Folgenden darauf gerichtet, die Anhaltspunkte zu prüfen. Dies tun sie auf der Grundlage von § 3 in Verbindung mit § 8 Absatz 1 BVerSchG, der ihnen die gezielte Auswertung allgemein zugänglicher Quellen erlaubt. Sieht das Amt den Verdacht bestätigt, dann wird der „Prüffall“ zum „Verdachtsfall“ hochgestuft. Die Bewertung als Verdachtsfall erlaubt den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel (nach § 8 Absatz 2 BVerschG), sie hat die Aufnahme in die Verfassungsschutzberichte zur Folge, und sie kann zum Verbot von Vereinigungen, zum Entzug von Grundrechten oder zu einem Parteiverbotsverfahren führen.

Bereits die Sammlung von Informationen aus allgemein zugänglichen Quellen wird als Grundrechtseingriff gewertet; bei natürlichen Personen als Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, bei Parteien als Eingriff in das „Parteienprivileg“. Allerdings gilt dieser Eingriff als so geringfügig, dass bereits ein geringer Verdachtsgrad als ausreichend betrachtet wird. Zudem ist die Klassifizierung als „Prüffall“ ein behördeninterner Vorgang. Das heißt, im Normalfall erfahren die „Beobachtungsobjekte“ nicht davon, dass ihre Verfassungsgefährlichkeit von den Behörden überprüft wird.

Am 19. Januar 2019 erklärte das BfV, dass die AfD-Jugend­organisation „Junge Alternative“ und die Teilorganisation „Der Flügel“ als Verdachtsfall, die AfD als Gesamtpartei als „Prüffall“ bearbeitet würden.[11] Das diesen Entscheidungen zugrunde liegende Gutachten (als „Verschlusssache – vertraulich“ eingestuft) wurde kurze Zeit später von netzpolitik.org im Volltext veröffentlicht.[12] Nachdem die AfD vergeblich vom BfV die Unterlassung der Äußerung verlangt hatte, dass sie als Prüffall geführt werde, rief sie das Kölner Verwaltungsgericht (VG) an. Am 26. Februar 2019 verbot es dem Amt per einstweiliger Anordnung, weiterhin zu verbreiten, dass die AfD als „Prüffall“ behandelt werde.[13] Die öffentliche Markierung als „Prüffall“ stelle einen Eingriff, eine „mittelbar belastende negative Sanktion“ gegen die AfD dar.

Offenkundig um die Beobachtung der Gesamtpartei abzuwenden, kündigte der „Flügel“ im April 2020 an, sich auflösen zu wollen.[14] Da er aber keine formale Organisation darstellte, bedeutet die „Auflösung“ nur den Verzicht auf regelmäßige und öffentlichkeitswirksame Selbstinszenierungen, keineswegs den Verzicht auf das koordinierte Wirken in der Partei. Im Januar 2021 scheiterte die AfD mit dem Versuch, die Einstufung als „Verdachtsfall“ durch das BfV im Rahmen eines gerichtlichen Eilverfahrens zu verhindern. Das VG Köln lehnte den Eilantrag ab, da das Amt eine „Stillhaltezusage“ abgegeben hatte, in der es zusicherte, einstweilen keine Pressekonferenzen zu dem Thema abzuhalten und Funktionär*innen, Mandatsträger*innen und Wahlbewerber*innen nicht mit nachrichtendienstlichen Mitteln zu überwachen. Im Februar 2021 bestätigte das NRW-Oberverwaltungsgericht dieses Urteil.

Anfang März 2021 berichteten Medien, der Verfassungsschutz habe die AfD bundesweit als „Verdachtsfall“ eingestuft. BfV-Präsident Thomas Haldenwang habe dies den Präsidenten der Landesämter auf einer Videokonferenz mitgeteilt. Aufgrund einer gutachterlichen Auswertung verschiedener öffentlicher Quellen behandele das Amt die Partei nun als „rechtsextremistischen Verdachtsfall“. Diese Entscheidung bedeutete zugleich, dass das Amt „nachrichtendienstliche Mittel“ gegen die AfD einsetzen kann. Das Bundesamt äußerte sich nicht zu den Medienberichten; die AfD rief erneut das VG Köln an.[15]

Am 5. März gab das Gericht der Klage statt. Weil die Beobachtungsentscheidung an die Öffentlichkeit gelangt war, habe das Amt gegen seine Zusage verstoßen, die Grundlage der vorherigen Entscheidungen gewesen war. Damit habe es in „unvertretbarer Weise in die verfassungsrechtlich gewährleistete Chancengleichheit politischer Parteien eingegriffen“. Das Gericht verpflichtete das Amt zum öffentlichen Stillschweigen; zugleich stoppte es die Bearbeitung der AfD als „Verdachtsfall“.[16] Nach dieser blamablen Posse sind die Verfassungsschutzämter nun in Sachen AfD zum Abwarten gezwungen, bis die Gerichte in der Hauptsache entschieden haben.

Was der „Verdachtsfall“ erlaubt

Die Einstufung der AfD als „Verdachtsfall“ wäre für die Ämter mit zwei Wirkungen verbunden. Sie erlaubt eine intensivierte Beobachtung durch den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel („Methoden, Gegenstände und Instrumente zur heimlichen Informationsbeschaffung“): Observationen, Bild- und Tonüberwachungen, Einsatz von V-Leuten und Gewährspersonen, Verwendung von Tarnpapieren et cetera (§ 8 BVerschG). Personaldossiers („P-Ak­ten“) dürfen angelegt und entsprechende Einträge im Nachrichtendienstlichen Informationssystem (NADIS) erfolgen. Damit stehen die typischen Probleme der Infiltration im Raum: Welche Aktivitäten gehen auf die Spitzel der Ämter zurück, nutzen die V-Leute ihre Bezahlung, um die Arbeit in der Partei umso intensiver betreiben zu können? Die Geschichte der NPD-Verbotsversuche und die des „Thüringer Heimatschutzes“ bzw. des NSU haben die Gefahren dieser Art von „Beobachtung“ deutlich vor Augen geführt.

Nach außen ist die Deklarierung einer Partei als „Verdachtsfall“ als staatsoffizielle Verrufserklärung in abschreckender Absicht gedacht. Die (potenziellen) Sympathisant*innen der AfD sollen darüber aufgeklärt werden, dass die Partei eine Gefährdung für die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ darstellt. Dass ein solcher Makel ein zweischneidiges Instrument ist, ist offenkundig: Vielleicht gibt es die naiven Bürger*innen, die gestern noch in der AfD die lupenreinen Demokrat*innen sahen und denen nun die Augen geöffnet werden. Vielleicht verdankt die AfD ihre Attraktivität aber gerade ihrer Opposition zum „System“, und ihre Anhänger*innen fühlen sich bekräftigt, dass sie der richtigen Partei zuneigen. Von dem Nutzen ganz zu schweigen, den die Partei daraus ziehen kann, sich als „Märtyrerin“ zu inszenieren.

Wer braucht die Beobachtung?

Angesichts der Konstellationen ist es nicht abwegig festzustellen, dass die anderen Parteien im Jahr der Bundestagswahl versuchen, mit den Mitteln des Verfassungsschutzes eine der Konkurrentinnen zu schwächen. Das ist ein zusätzliches Geschenk an die AfD. Hinzu kommt, dass es einer amtlichen Beobachtung kaum bedarf um festzustellen, dass die AfD ein Demokratieverständnis pflegt, das die Wirklichkeit einer pluralen, offenen, liberalen und multikulturellen Gesellschaft nicht anerkennt. Auftreten und Äußerungen der Partei und ihrer führenden Mitglieder belegen dies dauerhaft. Die formale Auflösung des „Flügels“ – um die Beobachtung der Gesamtpartei abzuwehren – verdeutlicht das Problem: Keineswegs verschwinden gewisse Überzeugungen und ihre Protagonist*innen in der Partei, sondern sie agieren umso wirkungsvoller in anderen Formen.

Dass die Öffentlichkeit die nachrichtendienstliche Durchdringung der AfD benötigt, um tiefere Erkenntnisse über „verfassungsfeindliche“ Bestrebungen in ihrem Innern aufspüren zu können, ist wenig überzeugend. Die gezielten öffentlichen Tabubrüche, das Spiel mit den Andeutungen und versteckten Botschaften sind öffentlich hinlänglich bekannt. Die „nationalkonservative“ Wende der AfD war schon mit dem Wechsel des Führungspersonals im Jahre 2015 deutlich erkennbar. Sofern sie überhaupt erfolgen, waren und sind Abgrenzungen von nationalistischen und neonazistischen, antisemitischen und autoritären Bewegungen leicht durchschaubare Lippenbekenntnisse. Um das festzustellen, bedarf es keines administrativen „Frühwarnsystems“ und keiner Infiltration der Milieus mit staatsfinanzierten Spitzeln.

In den jüngsten Verlautbarungen haben die Ämter einen erneuten Beweis für ihre Sensibilität gegenüber den Gefahren, die der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ von rechts drohen, unter Beweis gestellt: Am 7. Mai 2021 teilte das Sächsische Landesamt für Verfassungsschutz mit, „Pegida“ sei nun als Verdachtsfall eingestuft. Anfangs habe die Bewegung noch ein „heterogenes Publikum“ angezogen, dann jedoch „in zunehmendem Maße qualitativ und quantitativ radikale und zuletzt extremistische Grundüberzeugungen“ entwickelt.[17] Angesichts der rechtsradikalen Affinitäten des Pediga-Führungspersonals, die seit den Anfängen 2014 bekannt waren, liegt der Eindruck nahe, dass das Landesamt mit der „Verdachtsfall“-Erklärung so lange wartete, bis Pegida sich als sektiererische Kleingruppe bereits selbst erledigt hat. Unter „Früh“erkennung wird gemeinhin etwas anderes verstanden.

Schon Ende April 2021 hatte das BfV einen neuen Verdachtsfall ausgemacht: die COVID 19-„Querdenker“ beziehungsweise einzelne Personen und Gruppen innerhalb dieses Spektrums. Zur Begründung führt das Amt aus:

„Es werden Verbindungen zu ‚Reichsbürger‘- und ‚Selbstverwalter‘-Organi­sationen sowie Rechtsextremisten in Kauf genommen oder gesucht, das Ignorieren behördlicher Anordnungen propagiert und letztlich das staatliche Gewaltmonopol negiert. Ein solches Vorgehen ist insgesamt geeignet und zielt darauf ab, das Vertrauen in die staatlichen Institutionen und seine Repräsentanten nachhaltig zu erschüttern.“

Weil das BfV die „Querdenker“ nicht den recht-, links- oder ausländerextremistischen Schubladen zuordnen will, hat es „einen neuen Phänomenbereich“ „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staa­tes“ eingerichtet: „Innerhalb dieses Bereichs wurde ein bundesweites Sammelbeobachtungsobjekt ‚Demokratiefeindliche und/oder sicherheits­­gefährdende Delegitimierung des Staates‘ eingerichtet, dem die diesbezüglich relevanten Akteure zugeordnet und nachrichtendienstlich bearbeitet werden.“[18] Mit der „Delegitimierung“ haben die Ämter sich einen weiteren neuen Begriff zugelegt. Nach der „Verfassungsfeindlichkeit“ und dem „Prüffall“ – beide exekutive Eigenschöpfungen – verlagert die „Delegitimierung“ die Verdachtsschöpfung ins Ungefähre. Der Begriff der „Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung (…) gerichtet sind“ (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerschG) wird noch weiter aufgeweicht. Es reicht, dass sie geeignet erscheinen, den Glauben an und das Vertrauen in den Staat zu erschüttern. Wie schwach muss sich ein politisches System fühlen, wenn es die Überzeugungen der Bürger*innen dadurch zu festigen glaubt, dass es unter den Aluhüten Spitzel platziert?

Wer braucht die Ämter?

Im Dezember 2020 hat das Bundeskabinett 89 Maßnahmen zur „Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“ beschlossen.[19] 33 davon sind dem Bundesinnenministerium zugeordnet. Wohl dank der alphabetischen Sortierung ist die „Anpassung des Verfassungsschutzrechts“ (Legalisierung der „Quellen-TKÜ“, also der Installation von Überwachungssoftware) an erster Stelle genannt. Der Ausbau der Ämter und ihre Vernetzung folgen als Punkte 16 bis 18.

Quantitativ stehen jedoch die Stärkung der Zivilgesellschaft, Prävention, Teilhabe und Unterstützung der (potenziellen) Opfer im Vordergrund des Katalogs. Nähme man diese Ansätze im Kampf gegen extrem rechte und demokratiefeindliche Akteure ernst, dann läge es auch nahe, auf die „Ämter für Verfassungsschutz“ zu verzichten. Denn dass diese sich ihrer Natur nach der demokratischen Kontrolle entziehen, ergibt sich nicht nur aus ihrem Wesensmerkmal des „Geheimen“. Tatsächlich haben die Geheimdienste in der Geschichte der Bundesrepublik nachdrücklich unter Beweis gestellt, dass sie im deutlichen Widerspruch zu dem stehen, was sie schützen sollen.

Freilich verkennt diese Argumentation, dass die Dienste Mittel staatlicher Herrschaft sind. Sie sind Instrumente, mit denen die bestehenden Verhältnisse vor radikaler Kritik geschützt werden sollen. Nirgendwo wird das deutlicher als in der „Treueerklärung“, die die Bundesregierung all jenen verpflichtend vorschreiben will, die in ihrem Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus durch staatliche Mittel unterstützt werden wollen:

„Zu diesem Zweck müssen Antragsteller bereits anlässlich der Beantragung sich in gesonderter schriftlicher Form zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennen und bestätigen, die Mittel ausschließlich für den Zielen des Grundgesetzes förderliche Aktivitäten und die Bewahrung und Stärkung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu verwenden.“[20]

Auf diesem Wege entscheiden die „Ämter für Verfassungsschutz“ darüber, wessen Engagement gegen rechts gefördert wird.

P.S.: Bevor wir es vergessen: Bei der „Beobachtung“ linker Gruppierungen macht es sich der Verfassungsschutz erheblich einfacher als bei der AfD. So gilt etwa die Zeitung „Junge Welt“ wegen ihrer „revolutionär-mar­xi­sti­schen Grundüberzeugungen“ als „gesichert linksextremistisch“. Begründung: Die „Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit“ widerspreche der Garantie der Menschenwürde. „Menschen dürfen nicht zum ‚bloßen Objekt‘ degradiert oder einem Kollektiv untergeordnet werden, sondern der Einzelne ist stets als grundsätzlich frei zu behandeln.“[21] Noch Fragen?

[1]   Warum der Geheimdienst die AfD nicht überwacht, Welt Online v. 2.2.2016
[2]   AfD wählt national-konservative Führungsspitze, Zeit Online v. 5.7.2015
[3]   Das Interview v. 30.1.2016 ist hinter der Paywall. Die wesentlichen Teile finden sich im „Berlin-Brüssel“-Blog des Deutschlandfunks v. 30.1.2016, http://blogs.deutschlandfunk.de/berlinbruessel/2016/01/30/schusswaffengebrauch-an-der-grenze
[4]   Sigmar Gabriel: So will der SPD-Chef die AfD stoppen, Bild am Sonntag v. 31.1.2016
[5]   Zum Ablauf siehe Abschnitt B.I. des von netzpolitik.org veröffentlichten Gutachtens des BfV zur AfD: Prüffall – Wir veröffentlichen das Verfassungsschutzgutachten zur AfD, netzpolitik.org v. 28.1.2019.
[6]   Horst Seehofer: AfD soll sich von Gewalt distanzieren. Der Westen (Funke-Medien­gruppe) v. 1.9.2018
[7]   Faktencheck: Maaßen und das Video von Chemnitz, tagesschau.de v. 11.9.2018
[8]   Weiteres Maaßen-Treffen mit AfD-Mitglied sorgt für Kritik, Süddeutsche Zeitung online v. 16.8.2018; Gauland berichtet von drei Treffen mit Maaßen, Zeit Online v. 11.9.2018
[9]   Länder uneins über Beobachtung, Berliner Morgenpost v. 5.10.2018; Verfassungsschützer der Länder uneins beim Blick nach rechts, Tagesspiegel Online v. 24.1.2019
[10] zur Rechtsgrundlage s. zusammenfassend: Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages: Beobachtung von Parteien durch den Verfassungsschutz. WD 3 – 3000 – 072/16, Berlin 2016. www.bundestag.de/resource/blob/425104/e0375fd93b9d020677398bc1ed1edf9e/wd-3-072-16-pdf-data.pdf
[11] Pressemitteilung des BfV v. 15.1.2019
[12] AfD: Prüffall – Wir veröffentlichen …, a.a.O. (Fn. 5)
[13] Pressemitteilung des VG Köln v. 26.1.2019
[14] tagesschau.de v. 1.4.2020
[15] zur Chronologie s. Verfassungsschutz beobachtet AfD – oder doch nicht? Online: www.juracademy.de (11.4.2021)
[16] VG Köln, Beschluss v. 5.3.2021, Az.: 13 L 105/21, https://openjur.de/u/2331302.html
[17] www.verfassungsschutz.sachsen.de/download/2021_05_07_PEGIDA_BO_korr.pdf
[18] Pressemitteilung des BfV v. 29.4.2021
[19] www.bundesregierung.de/resource/blob/992814/1819984/4f1f9683cf3fad­df90e­27f09c692abed/2020-11-25-massnahmen-rechtsextremi-data.pdf
[20] www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/themen/sicherheit/ abschlussbericht-kabinettausschuss-rechtsextremismus.pdf
[21]   BT-Drs. 19/29415 v. 5.5.2021

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