Christina Clemm ist Anwältin für Straf- und Familienrecht und engagiert sich gegen sexualisierte und rassistische Gewalt. Im Interview betont sie die Notwendigkeit intersektionaler Feminismen. Sie kritisiert eine mangelnde wissenschaftliche Expertise bei Polizei und Justiz zu sexualisierter und gegenderter Gewalt, und sie erläutert, warum es Strafrecht und Nebenklage zu deren Bekämpfung braucht.
Du arbeitest als Strafverteidigerin und als Nebenklagevertreterin nicht zuletzt von Opfern sexualisierter Gewalt. Auf der Basis Deiner Praxiserfahrung, wo würdest Du sagen, drückt der Schuh am meisten in diesem Bereich?
Christina: Sexualisierte Gewalt und insgesamt geschlechtsspezifische Gewalt ist ein massives gesamtgesellschaftliches Problem, das alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens durchzieht. Es gibt sie sowohl alltäglich im sozialen Nahraum als auch in politischen Auseinandersetzungen, zum Beispiel gegen Sexarbeiter*innen auf der Arbeitsstelle, in Wohnprojekten, auf Festivals. Es gibt sie besonders häufig gegen Frauen mit Beeinträchtigungen und gegen Menschen, die zusätzlich rassistisch diskriminiert werden, gegen Transpersonen, homosexuelle Personen. Grundsätzlich kann sie jedoch überall vorkommen. Aber sie wird weiterhin individualisiert, statt strukturell analysiert und bekämpft. In der juristischen Praxis bedeutet dies, dass geradezu überrascht auf das Verhalten der Täter*innen gesehen wird, statt die Hintergründe zu analysieren. Meist wird das Verhalten der Täter*innen auf das Verhalten der Opfer zurückgeführt und diesen damit einen Teil der Verantwortung zugeschoben. An der Tagesordnung sind Fragen wie: Warum hat sich die Betroffene so gekleidet, ist betrunken mit dem späteren Beschuldigten mitgegangen, hat erst „Nein“ gesagt, nachdem sie schon einverständlich Zärtlichkeiten ausgetauscht haben? Warum hat sie nach den ersten Schlägen den Partner nicht verlassen? Weshalb setzt sie sich dieser Gefahr aus oder übt diesen Beruf aus? Warum engagiert sie sich so öffentlich im politischen Kampf? Häufig wird sodann aus dem Verhalten der Opfer geschlossen, dass die beschuldigte Person gar nicht erkennen konnte, dass ihr Handeln nicht gewollt und ggf. strafrechtlich relevant sein könnte.
Bei Ermittlungsbehörden und Justiz besteht wenig oder keine (sozial)wissenschaftliche Expertise über sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt, ähnlich wie bei rassistisch oder rechtsextrem motivierter Gewalt. Hier wären verpflichtende Fortbildungen und auch bereits Lehrveranstaltungen in der (universitären) Ausbildung dringend erforderlich.
Aber Strafrecht individualisiert ja grundsätzlich, da es vor Gericht um Einzelfälle und die mehr oder weniger eindeutige Feststellung von Schuld geht. Wo siehst Du im Strafrecht Möglichkeiten strukturell anzusetzen?
C.: Selbstverständlich muss es im Strafprozess um die Feststellung der individuellen Schuld der angeklagten Person gehen. Aber wenn die gesellschaftlichen Strukturen ausgeblendet werden, werden die Motive falsch verstanden und bewertet. Zum Beispiel geht es bei sexualisierter Gewalt nicht vordringlich um Sex, sondern um Macht und Demütigung. Oder auch die Frage der Bewertung von Feminiziden im Strafrecht. Ähnlich wie bei rassistischen Morden ist es wichtig zu erkennen, dass die Tötung aus Eifersucht oder „Verzweiflung über das Ende des gemeinsamen Lebensentwurfs“ nicht aus Liebe, sondern aus nicht zu tolerierenden Besitzansprüchen geschieht.
Unter kritischen Jurist*innen schwelt ein Streit um die Nebenklage im Strafverfahren. Kannst Du, gerade auch für nicht-anwaltliche Leser*innen, die wichtigsten Konfliktpunkte unter feministischen Anwält*innen auf dem Terrain des Sexualstrafrechts skizzieren und wie Du Dich dazu verortest?
C.: Ich denke, es ist weniger eine Auseinandersetzung unter den feministischen, als unter den sogenannten linken Anwält*innen. Es ist grundsätzlich die Frage, ob man sich mit der Nebenklage auf die Seite des Staates stellen darf und damit staatliche Strafen an sich legitimiert. Erstaunlicherweise ist es dabei für die meisten sich selbst als links bezeichnenden Anwält*innen völlig in Ordnung, Nebenklagen bei rechtsextremer oder rassistisch motivierter Gewalt zu führen. Problematisiert wird es vor allem bei Nebenklagen bei sexualisierter Gewalt.
Ich bin sehr gerne bereit, andere Formen der Aufarbeitung von Gewalt im Allgemeinen zu diskutieren und beschäftige mich seit langem mit den Möglichkeiten von Restorative Justice etc. Dabei macht es für mich keinen Unterschied, ob wir etwa über einen mordenden Neonazi oder einen mordenden Ehemann sprechen.
So, wie die Diskussion aber zurzeit geführt wird, finde ich sie eher abwegig. Wenn Strafverteidiger*innenvereinigungen etwa beklagen, dass die Neuregelung des Sexualstrafrechts zu einer Einschränkung der „freien Sexualität“ führe, dann sollte ihnen eigentlich klar sein, dass sie nicht über die Sexualität aller, sondern nur eines kleinen Teils der Gesellschaft, nämlich vornehmlich der freien Sexualität von Cis-Männern sprechen. Für alle Beteiligte konsensuale Sexualität soll ja keineswegs eingeschränkt, sondern als Maßstab festgelegt werden.
Es gibt keine Verfahren, die so vehement und streitig und opferbeschuldigend geführt werden, wie Verfahren wegen sexualisierter Gewalt. Es gibt auch keine Verfahren, in denen die Opfer derart häufig erneut traumatisiert und stigmatisiert werden. Es gibt unendlich viele Mythen, wie etwa, dass Betroffene regelmäßig Vorteile aus einer falschen Vergewaltigungsanzeige zögen oder dass es eine überdurchschnittlich hohe Quote an falschen Verdächtigungen gäbe. Laut wird hier von „linken Strafverteidiger*innen“ gefordert, strafrechtliche Schritte nicht wahrzunehmen und Diversionsverfahren oder ähnliches zu nutzen. Man stelle sich einmal vor, dies bei rassistisch oder rechtsextrem motivierten Taten zu fordern, also mit Nazis sprechen und sich einigen, statt deren Verurteilung zu fordern.
In der Bundestagsanhörung zu Femiziden am 1. März 2021 hast Du gefordert, die strukturelle Dimension zu berücksichtigen und intersektional zum Beispiel auch Morde an Sexarbeiter*innen oder Transpersonen zu erfassen. Kannst du erläutern, warum das wichtig ist?
C.: Ich halte die Einführung des Begriffs der Femizide oder Feminizide für dringend erforderlich, da bisher das Phänomen nicht beachtet und nicht systematisch bekämpft wird. Es wird erst langsam begonnen, die sogenannten (Ex‑)Partnerschaftstötungen zu analysieren, etwa besondere Risikofaktoren herauszufinden, sich zu fragen, inwiefern frühere staatliche Interventionen hilfreich sein können et cetera.
Wichtig ist aber auch, nicht ausschließlich die Tötungsdelikte im Nahbereich zu betrachten, sondern auch zu betrachten, wie viele Tötungsdelikte an Transpersonen, Sexarbeiterinnen, in politischen Auseinandersetzungen oder ähnliches verübt werden. Es gibt jährlich rund 300 Tötungen von Frauen im sozialen Nahraum, insgesamt aber etwa 700 Tötungen an Frauen. Was ist mit den anderen 400 Frauen, in welchen Zusammenhängen werden diese getötet? Sind es Femizide?
Wie grenzt du das ab – Femizide und andere Tötungen an Frauen?
C.: Die Definition von Feminiziden ist leider nicht einfach. Gut finde ich die Ausführungen im Sammelband von Rosa Linda Fregoso und Cynthia Bejarano „Terrorizing Women: Feminicide in the Américas“ aus dem Jahr 2010.
Feminizide lassen sich definieren als die Tötung von Frauen und Mädchen, die in einer geschlechtsspezifischen Machtstruktur begründet ist und die sich sowohl öffentlich als auch privat äußert und (direkt oder indirekt) sowohl den Staat als auch einzelne (private oder im staatlichen Auftrag agierende) Täter involviert. Sie umfassen somit systematische, weit verbreitete und alltäglich-zwischenmenschliche Gewalt als auch systematische Gewalt, die in sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ungleichheiten wurzelt. In diesem Sinne konzentriert sich die Analyse derselben nicht nur auf das soziale Geschlecht, sondern auch auf die Überschneidung der Geschlechterdynamik mit den Grausamkeiten von Rassismus und wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten in lokalen wie globalen Kontexten. Wichtig ist dabei, dass es um alle feminisierte Subjekte geht.
In der Debatte um Femizide wird meist „Frauenhass“ als Motiv angeführt. Besteht die Gefahr, dass wir weißen Mittelschichtsfeminist*innen mit dem Femizid-Begriff Trans- und Sexarbeitsfeindlichkeit, Monogamie, Rassismus, Arbeitsmarktzwänge etc. eher vereinnahmen als sie zu zentrieren?
C.: Deshalb plädiere ich ja für den weiten Blick auf das Phänomen. Meiner Ansicht nach geht es aber auch nicht nur um Feminizide. Sie sind die massivste Form der geschlechtsspezifischen Gewalt, aber es muss um alle Formen der geschlechtsspezifischen Gewalt gehen, unter besonderer Betrachtung von mehrfach diskriminierten Gruppen. Insgesamt ist es erforderlich, die Misogynie, also den Frauenhass, viel mehr in die Analyse hineinzunehmen und endlich zu verstehen. Sehr einfach ist dies bei den rechtsextremen Anschlägen der letzten Monate und Jahre, wenn sich die Täter selbst zu Gruppen wie Incels oder anderen Frauenhassenden bekennen. Selbstverständlich einen rechtsextreme Bewegungen weltweit der Hass auf Frauen, auf Feministinnen, auf alle Bestrebungen, tradierte Lebensformen in Frage zu stellen und divers zu gestalten. Schwieriger ist die Analyse, wenn es um sonstige sexualisierte Gewalt geht. Dabei muss erkannt werden, dass es bei Vergewaltigungen nicht in erster Linie um Sex geht, sondern um eine Form der besonders gewaltvollen Machtdemonstration und Herabwürdigung. Auch bei der sogenannten Partnerschaftsgewalt geht es um Formen des Machterhalts und Unterdrückung in dem bestehenden patriarchalen Gesellschaftssystem.
Letztes Jahr hast Du das Buch „AktenEinsicht: Geschichten von Frauen und Gewalt“ im Kunstmann-Verlag publiziert. Darin beschreibst Du Geschichten auf der Basis der vielen realen Schicksale, die Dir in Deiner Karriere begegnet sind. Kannst du aus diesen Beispielen Aspekte jenseits des Strafrechts ableiten, wie sich Gewalt mit nicht (straf-)rechtlichen Mitteln verhindern oder bearbeiten ließe?
C.: Derzeit kommen wir nicht um die strafrechtliche Bearbeitung herum. Deshalb finde ich auch weiterhin die Änderungen des Sexualstrafrechts richtig und auch die verschiedenen Verbesserungen des Opferschutzes im Strafprozess. Viele Betroffene suchen nach Gerechtigkeit, die selbstverständlich nur schwer im Strafprozess zu erlangen ist. Vor allem aber geht es darum, dass die Taten aufhören und die Täter weder sie noch andere künftig nachhaltig verletzen. Man kann noch so kritisch gegenüber Haftstrafen sein, aber für manche Betroffene ist es einfach unendlich wichtig, dass sie ein paar Jahre Ruhe vor dem stalkenden, gewalttätigen Ex-Partner habe, um sich ihr Leben neu zu organisieren, einen sicheren Ort zu finden et cetera.
Oft geht es den Betroffenen auch nicht um hohe Strafen, sondern eher um Lösungen. Abstand halten, für den Schaden aufkommen, Schmerzensgeld zahlen, die Schuld und das zugefügte Leid anerkennen, die Betroffenen in Ruhe lassen. Schnelle Interventionen wären häufig sehr viel wichtiger als späte hohe Strafen. Aber leider ist das System so aufgebaut, das fast alle Möglichkeiten, wie etwa Schmerzensgeld oder Opferentschädigung, erst durch strafrechtliche Verurteilungen erfolgsversprechend sind. Leider kommt da auch aus den Strafverteidiger*innenvereinigungen nichts Innovatives.
Du hattest vorhin schon Restorative Justice angesprochen. In der linken feministischen Debatte ich auch viel von Transformative Justice die Rede. Kannst Du aus Deiner Praxis Vorteile und vielleicht auch Fallstricke benennen?
C.: Die Strafen im herrschenden Strafrechtssystem sind nur wenig zielführend, und andere Formen der Aufarbeitung würden die Betroffenen besser unterstützen. Wenn sie eben Schutz, Anerkennung und Prävention beinhalten würden. So vertrete ich häufig Betroffene, die versuchen aus den Strafverfahren herauszukommen, da sie durch eine Verurteilung der Täter*in weiteren Hass und Gewalt erwarten. Haft- und Geldstrafen sind auch wenig hilfreich, wenn etwa gemeinsame Kinder vorhanden sind, der Unterhalt dann nicht mehr gezahlt wird oder den Kindern nicht zugemutet werden soll, ihren Vater im Gefängnis zu wissen. Aber leider versagen in der Praxis die Versuche, andere Wege zu finden, sehr oft. Meist werden die Taten dann eben doch bagatellisiert oder in Frage gestellt, stellt sich Solidarität mit den Täter*innen eher ein als mit den Betroffenen oder verlassen die Opfer die Zusammenhänge, nicht die Täter*innen. Die Auseinandersetzung mit geschlechtsspezifische Gewalt ausübenden Personen ist äußerst mühsam, zeitaufwendig und häufig erfolglos, und es gibt nur wenige Menschen, die hierzu bereit und in der Lage sind. Was auch nicht verwundert in einer Gesellschaft, die überall und auch in linken Zusammenhängen geschlechtsspezifische Gewalt zulässt.