Eurodac für die Balkanregion? Ausgelagerte Datenbanken im Dienst der Migrationswehr

von Sophie-Anne Bisiaux und Lorenz Naegeli

Die Europäische Kommission finanziert unterschiedliche Datenerfassungssysteme für Migrant*innen auf dem Balkan. Recherchen zur biometrischen Datenerfassung in den Nicht-EU-Staaten werfen die Frage auf, ob der Dublin-Mechanismus über die EU-Grenzen hinaus ausgeweitet werden soll. Das wäre ein weiterer Schritt zur Externalisierung der Migrationskontrolle.

„Wir werden die Dublin-Verordnung abschaffen und sie durch ein neues europäisches System zur Steuerung der Migration ersetzen … Es wird einen neuen starken Solidaritätsmechanismus geben“.[1] Das sagte Ursula von der Leyen im September 2020, eine Woche vor der Vorstellung des neuen Europäischen Pakts zu Migration und Asyl. Die Abschaffung von „Dublin“ und mehr Solidarität: zwei verlockende Versprechen in einem Europa, das sich in einer Aufnahmekrise befindet. Doch bei der Lektüre der vorgeschlagenen Verordnungen des „Pakts“ klingt die von der Chefin der europäischen Exekutive versprochene Solidarität seltsam. Ein Eckpfeiler des neuen Vorhabens ist der „verpflichtende Solidaritätsmechanismus“. Er eröffnet den Mitgliedstaaten, die sich gegen jede Form der Aufnahme wehren, die Möglichkeit, die Ausweisung von „irregulären“ Personen in deren Herkunftsländer zu „unterstützen“.[2] Die Regierungen sollen sich ihrer Aufnahme­verantwortung zusätzlich entziehen können, indem sie einem anderen Mitgliedstaat beim Ausbau seiner Grenzkontrollkapazitäten und seiner Zusammenarbeit mit Drittländern in diesem Bereich helfen. Es ist damit gleichsam die Zusammenfassung der EU-Migrationspolitik: Solidarität gibt es nur zwischen europäischen Ländern. Ziel ist es nicht, Migrant*innen in würdiger oder gar fairer Weise aufzunehmen, sondern primär, sie von den europäischen Grenzen fernzuhalten.

Der neue Pakt folgt alten Rezepten: Was die EU-Kommission in neuem Gewand vor­schlägt, ist nichts anderes als die Weiterführung ihrer Ausweisungsmaschinerie und einer schrittweisen, aber kompromisslosen Externalisierung. Damit versucht sie seit Anfang der 2000er Jahre nicht nur die Kontrolle ihrer eigenen Grenzen, sondern auch das sogenannte Migrationsmanagement an Drittstaaten auszulagern. Bei der Entwicklung dieser Strategie spielen die Balkanländer eine Schlüsselrolle: Die Region scheint zu einem Versuchsfeld für die Schaffung eines groß angelegten Datenerhebungs- und -austauschsystems geworden zu sein. Dieses System könnte die Vorstufe für die Ausweitung des Dublin-Mechanismus auf Nicht-EU-Staaten darstellen. Es würde den sogenannten Hotspot-Ansatz auf dem westlichen Balkan um einen weiteren Schritt ergänzen und stünde ganz in der Logik der EU als Abschiebe- und Abschottungsgemeinschaft.

Innereuropäische Externalisierung

Im Prozess der Externalisierung der EU-Grenzen nehmen die Balkanländer einen besonderen Platz ein. Zum einen, weil die „Balkanroute“ nach wie vor eine Einreiseroute in Richtung EU ist. Im Juli 2021 berichtete Frontex von 3.600 „illegalen Grenzübertritten“, was laut den Berechnungen der Agentur ein Anstieg von 67% im Vergleich zum Vorjahr darstellt.[3] Diesen Anstieg nutzt Frontex, um im selben Atemzug auf den steigenden Migrationsdruck an den östliche Grenzen der EU zu verweisen.  Seit dem EU-Gipfeltreffen von Thessaloniki im Juni 2003 wurden alle Länder entlang der „Balkanroute“ als potenzielle Kandidaten für die EU-Mitgliedschaft eingestuft. Als solche erhalten sie finanzielle und technische Hilfe aus Brüssel (vor allem über das Instrument für Heranführungshilfe, IPA), um ihre Kapazitäten in verschiedenen Bereichen wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit oder Achtung der Grundrechte zu stärken.

Nach der sogenannten „Flüchtlingskrise“ von 2015 fand insbesondere im Bereich des Migrationsmanagements und der Grenzkontrolle ein massiver Ausbau statt. Zwischen 2007 und 2019 flossen mehr als 216 Millionen Euro aus dem IPA-Fonds für die Balkanländer in den Bereich Migration. Hinzu kommen 141 Millionen Euro an europäischer Hilfe, die seit 2015 freigegeben wurden, um den Ländern bei der Bewältigung der Ankunft von mehreren Hunderttausend Personen zu helfen. Ein Blick auf die Ausgaben zeigt,[4] dass die europäischen Mittel größtenteils zur Kontrolle der Mobilität eingesetzt wurden: für den Bau neuer Grenzposten, Zäunen und Stacheldraht, Lieferung von Ausrüstung an die für die Grenzüberwachung zuständigen Behörden, Einrichtung von Lagern, Eröffnung von Haft- und Ausweisungszentren und vielem mehr.

Migrationsabwehr statt humanitärer Hilfe

In den letzten Jahren haben sich die Kommission und der Rat der Europäischen Union besonders darauf konzentriert, die Kapazitäten der Balkanländer für die Erhebung und den Austausch von migrationsbezogenen Daten auszubauen. Nicht öffentliche Dokumente des Rates nennen „die Entwicklung nationaler Systeme für die Registrierung und den Austausch biometrischer Daten von Asylbewerbern und irregulären Migranten durch die westlichen Balkanstaaten zu fördern“[5] als Ziel dieser Bemühungen. Die Systeme, so der Rat, müssen sowohl untereinander als auch mit der Eurodac-Datenbank kompatibel sein, um ihre künftige Verknüpfung und Interoperabilität zu gewährleisten. Eurodac enthält die Fingerabdrücke von Drittstaatsangehörigen, die einen Asylantrag gestellt haben oder in Verbindung mit dem „irregulären“ Überschreiten einer Außengrenze aufgegriffen worden sind. Sie wird von der EU im Zusammenhang mit der Anwendung der Dublin-Verordnung verwendet, um den für einen Asylantrag zuständigen Mitgliedstaat zu bestimmen.

Die Ausweitung der Datenbanken in den Balkanländern wird durch EU-finanzierte Programme[6] unterstützt. Die Grenzschutzagentur Frontex ist mit der Bestandsaufnahme aller bestehenden Informationssysteme beauftragt und spielt eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung und Ausbildung regionaler und mit dem Eurodac kompatibler Systeme zur Sammlung migrationsbezogener Daten.

Mehrere Balkanländer haben bereits damit begonnen, sich mit der AFIS-Technologie (Automated Fingerprint Identification System) auszustatten, die eine automatische Erkennung von Fingerabdrücken ermöglicht und auch bei der Eurodac-Datenbank verwendet wird. Dies gilt beispielsweise für Bosnien und Herzegowina, das dafür zwischen 2015 und 2020 17 Millionen Euro aus dem IPA-Fonds erhalten hat. Um Zugang zu den meisten Lagern und grundlegenden humanitären Diensten zu erhalten, müssen dort gestrandete Migrant*innen nun die Abdrücke ihrer zehn Finger abgeben, ohne dass sie darüber informiert werden, wie und wozu diese verwendet werden. Diese Lager werden von der EU finanziert und von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) verwaltet. Die an die UNO angegliederte Organisation ist Hauptempfängerin von EU-Geldern für Migrationsangelegenheiten im Balkan und verantwortlich für zahlreiche Programme in Bereich Migrationsmanagement, also dem Betreiben von Camps, dem Ausbilden und Ausrüsten von Sicherheitskräften, Rückkehrprogrammen oder eben dem Sammeln von migrationsbezogenen Daten.

Die Abnahme der biometrischen Daten erfolgt unter anderem in Blazuj, einem IOM-Lager in der Nähe von Sarajevo. Dort sind mehr als 3.000 Menschen unter prekären hygienischen Bedingungen zusammengepfercht. Das hohe Niveau der Datenerfassungstechnologien steht in einem krassen Gegensatz zu den archaischen Lebensbedingungen, denen die Menschen ausgesetzt sind. „In den IOM-Lagern leiden die Menschen an Krätze und sterben immer noch an Lungenentzündung. Wer stirbt heutzutage noch an einer Lungenentzündung?“, fragte uns die Journalistin Nidzara Ahmetasevic aus Sarajevo und bezog sich dabei auf einen kleinen Jungen, der aufgrund mangelnder medizinischer Versorgung starb.

Ein Blick nach Bosnien zeigt das Zusammenspiel zwischen Dublin-Mitgliedstaaten, der EU-Ebene, lokalen Regierungen und internationalen Organisationen wie der IOM. Das Dublin-System legt fest, dass immer der erste Dublin-Staat, den eine Person erreicht hat, für deren Asylgesuch verantwortlich ist. Das Dublin-Mitglied Schweiz hat in Bosnien und Herzegonwina (BiH) zwischen 2017 und 2019 ein Projekt im Umfang von 1,2 Millionen Schweizer Franken (etwa 1,11 Millionen Euro) finanziert, das unter anderem die Einführung und Verbesserung eines „Migrant Information System“ (MIS) zum Ziel hatte. „Das Upgrade verbesserte die Verbindungen, den Austausch und die Interoperabilität zwischen verschiedenen Institutionen und mit anderen Informationssystemen von Polizeibehörden außerhalb von BiH (regionale Länder, Europol, Interpol, Frontex)“, heißt es im Fact-Sheet des Programms.[7]

Auf Nachfrage führt ein Sprecher des schweizerischen Staatssekretariats für Migration aus: „Das Projekt unterstützte die Integration von vier unabhängigen Registern in die zentrale Datenbank (MIS). Außerdem wurde ein Modul für die Integration von biometrischen Daten von Ausländern in MIS entwickelt. Basierend auf diesem Modul war die Finanzierung von Hardware und Installation durch die EU IPA-Mittel genehmigt.“ Damit werde sichergestellt, dass die Daten mit dem EU-Fingerabdrucksystem kompatibel seien, sobald das Land „dem Eurodac beitritt“, so das Staatssekretariat. Verantwortlich für die Umsetzung ist die IOM. Allerdings ist Bosnien und Herzegowina, in dem die humanitäre Situation für Migrant*innen (unter anderem in den von der IOM betriebenen Camps) katastrophal ist, weit von einem EU-Beitritt entfernt.

Anschluss an den Eurodac ohne EU-Beitritt?

Die EU-Kommission macht keinen Hehl daraus, dass sie die Balkanländer letztendlich in die Eurodac-Datenbank integrieren möchte. Sie weist jedoch darauf hin, dass diese Verbindung nicht vor einem Beitritt zur EU möglich sein wird. Angesichts der fehlenden kurz- und mittelfristigen Beitrittsperspektiven für die meisten Balkanländer stellt sich jedoch die Frage: Warum sollten Millionenbeträge ausgegeben werden, um die Staaten bei der Einrichtung von Datenerfassungs- und –aus­tausch­systemen zu unterstützen, die sie in einigen Jahren oder Jahrzehnten nicht mehr nutzen können, wenn die verwendeten Technologien in der Zwischenzeit veraltet sind? Tatsächlich ist der Beitrittsprozess vieler regionalen Staaten seit langem ins Stocken geraten, und zwar sowohl aus EU-spezifischen Gründen (Misstrauen gegenüber jeglicher Erweiterung, insbesondere seit dem Brexit) als auch aus Gründen aufseiten der Kandidatenländer (mangelnder politischer Wille, institutionelle Blockaden usw.).

Im Februar 2018 gab Serbien in seinem Nationalen Programm für die Übernahme des Acquis Communautaire, also den gemeinsamen, rechtsverbindlichen Rechten und Pflichten aller EU-Mitgliedstaaten, an, dass es die Dublin- und Eurodac-Verordnung zwei Jahre vor dem EU-Beitritt umsetzen würde. Wie die in Belgrad ansässige Nichtregierungsorganisation Klikaktiv anmerkt, „wäre dies ein einzigartiger Fall, in dem ein Land die Dublin- und Eurodac-Verordnungen unterzeichnet, bevor es ein EU-Mitgliedstaat wird“.[8] In ihrem Bericht von 2020 über den Stand des serbischen EU-Beitrittsprozesses teilt die EU-Kommission auch mit, dass das serbische Innenministerium statt vorher mehrere, nun eine einzige Datenbank zur Identifizierung und Registrierung von Asylbewerber*innen verwendet und dass „die Vorbereitungen für den Anschluss an die EU-Datenbank für Fingerabdrücke von Asylbewerbern (Eurodac) in der Anfangsphase sind“.[9] Diese Verbindung wäre jedoch sowohl nach den europäischen Normen als auch nach dem serbischen Gesetz über den Schutz personenbezogener Daten illegal. Doch Gesetze sind menschengemacht und folgen politischen Interessen. Es scheint durchaus denkbar und möglich, dass gesetzliche Hürden von den Eurodac-Mitgliedstaaten aus Eigeninteresse aus der Welt geschaffen werden. Wie ein Blick in einen CILIP-Artikel von Heiner Busch aus den 90er Jahren zeigt, war Eurodac seit jeher ein Mittel der Migrationsabwehr im Kampf gegen den sogenannten Missbrauch des Asylrechts.[10] Damals wie heute war der erste Schritt zur Umsetzung die technische Angleichung der unterschiedlichen Systeme in ein allgemeingültiges Format, sprich AFIS. Genau das passiert derzeit in unterschiedlichen Ländern auf dem Balkan auf Druck der EU.

Frontex als Bindeglied

Um eine frühzeitige Vernetzung der Datenbanken zu ermöglichen und gesetzliche Bestimmungen zu umgehen, könnte Frontex ins Spiel kommen. Seit das Mandat von Frontex 2019 erweitert wurde, um deren Kompetenzen für Aktivitäten in Drittländern zu erhöhen, ist die Agentur zunehmend in den Balkanstaaten präsent. Im Mai 2019 startete Frontex ihre erste offizielle gemeinsame Operation in einem Nicht-EU-Staat in Albanien, gefolgt von zwei Operationen in Montenegro im Jahr 2020.[11] Ein für derartige Operationen notwendiges Statusabkommen wurde gerade von Serbien ratifiziert. 44 Frontex-Beamt*innen nahmen darauf ihre Arbeit in Serbien auf – später sollen es bis zu 87 werden.[12] Während Frontex von Bemühungen gegen die „organisierte Kriminalität“ spricht, zeigt ein Blick auf den Einsatzort den wahren Fokus der dort anvisierten Mission. Diese soll nämlich an der „Grenze zwischen Serbien und Bulgarien stattfinden, wo die Zahl der illegalen Grenzübertritte in den letzten Jahren zugenommen hat“. Das lokale Koordinationszentrum der Operation ist der Grenzübergang Gradina, der in der Vergangenheit Ausgangspunkt von Pushbacks, also illegalen, kollektiven Abschiebungen ohne individuelle Prüfung der jeweiligen Asylanträge, gewesen ist. Ähnliche Abkommen gibt es mit Nordmazedonien und Bosnien und Herzegowina, wobei diese bis dato nicht ratifiziert wurden.

Die Vereinbarungen von Frontex mit den Balkanstaaten geben der Agentur bestimmte Rechte zur Abfrage dortiger Datenbanken. Wie Statewatch feststellt, „erlauben die Abkommen mit Albanien und Montenegro dem Aufnahmestaat, (Frontex-)Teammitglieder zu ermächtigen, nationale Datenbanken zu konsultieren, wenn dies für operative Zwecke oder für Rückführungsaktionen erforderlich ist“.[13] Parallel dazu ist Frontex seit der Verabschiedung der Interoperabilitätsverordnung[14] im Jahr 2019 auch berechtigt, auf die verschiedenen europäischen Datenbanken zuzugreifen, darunter auch Eurodac. Dank diesem doppelten Zugang könnte die Agentur oder einer ihrer Verbindungsbeamt*innen die von den nationalen Behörden der Balkanländer mit in der Eurodac-Datenbank erfassten Daten vergleichen.

Zudem wurde laut verschiedenen Dokumenten die Idee eines Balkandac, also eine regionale Eurodac-Plattform, erwogen. Auf Nachfrage erklärt Frontex jedoch, dass dies aus rein technischer Perspektive geprüft und politisch nie vorgeschlagen worden sei. Aussagen von Behördenmitgliedern und Konferenzprotokolle zeichnen jedoch ein anderes Bild: ein Mitarbeiter des mazedonische Innenministeriums kritisierte das Vorhaben von Frontex bereits im Dezember 2019 bei einem Arbeitstreffen.[15]

Die Möglichkeit des Datenabgleichs scheint in Albanien, wo Beamt*innen der Agentur an der griechischen Grenze im Einsatz sind, bereits genutzt zu werden. Seit Beginn der Operation im Jahr 2019 sorgt Frontex dafür, dass Menschen, die von der albanischen Polizei an der Grenze aufgegriffen werden, in Containerlager gebracht und registriert werden. Danach werden sie in der Regel illegal nach Griechenland zurückgeschickt.[16] Verschiedenen Zeug*innen[17] zufolge vergleicht Frontex bei diesem Regis­trierungsverfahren gesammelte Daten mit europäischen Informationssystemen (etwa Schengener Informationssystem, Eurodac, Europol). Damit konfrontiert, weicht die Agentur aus und sagt uns lediglich, dass ihre Mitarbeiter*innen personenbezogene Daten für die Erfüllung ihrer Aufgaben überprüfen dürfen, selbst aber keine Fingerabdrücke abnehmen.

Frontex dient demnach als Bindeglied, das der EU die Erweiterung von Datenabgleichen in den Balkanraum ermöglicht. Da diese Strategie nur eine einseitige Konsultation zulässt (die Balkanstaaten haben keinen Zugang zu EU-Datenbanken), verstärkt sie das Zentrum-Peripherie-Verhältnis zu diesen Ländern und erlaubt der EU noch stärker, ihre Interessen bei der Migrationssteuerung zu verfolgen.

Erweiterung von Dublin?

Das potenzielle Interesse der EU an einer Ausweitung des Eurodac-Systems auf die Balkanregion liegt auf der Hand und könnte ein erster Schritt in Richtung geografischer Erweiterung des Dublin-Systems sein. Für jede Person, die beim irregulären Überschreiten einer Grenze aufgegriffen wird oder in einem Mitgliedstaat einen Asylantrag stellt, wäre es dank der auf diese Region ausgedehnten Eurodac-Datenbank möglich zu erfahren, welche Drittländer auf der Reise zuvor durchquert wurden. Diese Länder wären dann für die Prüfung des Asylantrags oder, im Falle von dessen Ablehnung, für die Ausweisung der Person in ihr Herkunftsland zuständig. Eine Person, die in Italien ankommt, deren Fingerabdrücke aber bereits in einem Lager in Sarajevo abgenommen wurden, könnte somit nach Bosnien und Herzegowina zurückgeschickt werden.

Die Möglichkeit, dass ein Mitgliedstaat einen Drittstaatsangehörigen, der nachweislich durch das Hoheitsgebiet eines der Balkanländer gereist ist, zurückschicken kann, ist zwar bereits in den Rückübernahmeabkommen vorgesehen, die die EU mit diesen Ländern unterzeichnet hat. Doch könnte die Einführung eines Datenerfassungssystems in Zukunft die Ausweitung des Dublin-Raumes über die EU hinaus noch viel umfassender Wirklichkeit werden lassen.

Parallel zum Aufbau von Kapazitäten im Bereich der Datenerhebung und des Datenaustauschs stärkt die EU auch die Kapazitäten der Länder der Balkanregion im Bereich der Inhaftierung und Ausweisung, darunter Bau von Abschiebegefängnissen, Ausbildung von Abschiebebegleitern, Verstärkung von Programmen zur „freiwilligen“ Rückkehr, Anreize zur Unterzeichnung von Rückübernahmeabkommen mit den Herkunftsländern von Schutz suchenden Personen.[18] Die Balkanregion wird auf diese Weise in einen Ort für Aufenthalt und Abschiebung unerwünschter Personen verwandelt. Der österreichische Innenminister Karl Nehammer wurde dazu jüngst deutlich: „Wir müssen mit Rückführungen bereits vor den Toren der EU beginnen“.[19]

Seit 2016 hat sich die Praxis der Abschiebung aus europäischen Ländern in Balkanländer[20] vervielfacht, ohne dass dabei die Grundrechte der Menschen, die in der EU Schutz suchen, auch nur ansatzweise beachtet werden. Diese Praktiken, die immer gewalttätiger und systematischer werden und von dubiosen „Rückführungsabkommen“ über illegale „Kettenpushbacks“ reichen, werden unter den Augen der EU-Kommission stetig ausgeweitet, während Brüssel bemüht ist, eine direkte EU-Beteiligung zu verschleiern.

So werden nationale Institutionen (wie bspw. die kroatische Polizei) oder internationale Organisationen (wie die IOM) mit dem impliziten Auftrag und insbesondere finanziellen Mitteln ausgestattet, um eine Migrations- und Grenzpolitik im Sinne der EU umzusetzen.[21] Gerade angesichts dieser Verschleierungsversuche ist es ist wichtig, grobe Rechtsverletzungen und die schrittweise aber immer umfassendere Auslagerung der EU-Migrationspolitik zum Thema zu machen. Denn den höchsten Preis für diese Politik bezahlen Migrant*innen. Sie sollen mit einer Kombination aus Schlagstockgewalt, groß angelegten biometrischen Datenbanken und somit einem System von Kontrolle, Überwachung und Rückführung von den europäischen Grenzen ferngehalten werden.

[1]   Ursula von der Leyen: Rede zur Lage der Nation v. 16.9.2020, https://ec.europa.eu/ info/sites/default/files/soteu_2020_de.pdf
[2]   Vorschlag für eine Verordnung zur Bewältigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl, COM(2020) 613 final v. 23.9.2020
[3]   Frontex; July: Increase in the Central Med and Western Balkans v. 12.8.2021, https://frontex.europa.eu/media-centre/news/news-release/july-increase-in-the-central-med-and-western-balkans-IOsJpO
[4]   EU-Kommission: Europäische Migrationsagenda: Fortschritt muss konsolidiert werden v. 16.10.2019, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/api/files/document/print/ de/ip_19_6075/IP_19_6075_DE.pdf
[5]   Combating migrant smuggling: current operational needs and enhancing cooperation with the Western Balkans, Ratsdok. 8622/20 v. 14.2.2020, www.statewatch.org/media/ 2451/annexe-2-clean.pdf
[6]   Instrument for Pre-Accession Assistance (IPA II) 2014-2020, Regional support to protection-sensitive migration management in the Western Balkans and Turkey Phase II, https://op.europa.eu/de/publication-detail/-/publication/a1a29056-8b2f-11e9-9369-01aa75ed71a1
[7]   Support to efficient migration and border management in Bosnia and Herzegovina, Schweizerische Eidgenossenschaft, www.statewatch.org/media/2455/annexe-6-clean.pdf
[8]   On the situation of refugees in Serbia – Legal analysis and field report, Klikaktiv, https://ffm-online.org/wp-content/uploads/2020/04/Klikaktiv-OnthesituationofrefugeesinSerbia3730471276557711977.pdf
[9]   Non-paper on the state of play regarding chapters 23 and 24 for Serbia, Serbisches Ministerium für Europäische Integration, www.mei.gov.rs/upload/documents/ eu_dokumenta/ Non_paper_Ch_23_24_June_2020.pdf
[10] Busch, H.: Hart an der Grenze – Technische Aufrüstung für die Abschottungspolitik, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 60 (2/1998), S. 20-27 (26)
[11] Serbien: Frontex plant dritte Mission außerhalb der EU, www.cilip.de/2020/08/10/serbien-frontex-plant-dritte-mission-ausserhalb-der-eu v. 10.8.2020
[12] Frontex: Frontex expands presence in Western Balkans with operation in Serbia v. 16.6.2021, https://frontex.europa.eu/media-centre/news/news-release/frontex-expands-presence-in-western-balkans-with-operation-in-serbia-9WRMiW
[13] Briefing: External action: Frontex operations outside the EU, Statewatch v. 11.3.2021. Die mit Serbien und Bosnien-Herzegowina unterzeichneten Abkommen sind restriktiver und erlauben die Weitergabe bestimmter Daten nur unter bestimmten Bedingungen.
[14] Verordnung (EU) 2019/818 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2019 zur Errichtung eines Rahmens für die Interoperabilität zwischen EU-Informationssystemen (polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit, Asyl und Migration) und zur Änderung der Verordnungen (EU) 2018/1726, (EU) 2018/1862 und (EU) 2019/816
[15] Second cycle First session of Working group 4 (Chapter 24) – Waiting on FRONTEX, Regierung Mazedonien, https://nkeu.mk/2019/12/21/second-cycle-first-session-of-working-group-4-chapter-24-waiting-on-frontex-the-border-security-through-the-prism-of-the-mixed-migration-flows
[16] Is Frontex involved in illegal ‚pushbacks‘ in the Balkans?, Deutsche Welle v. 8.1.2021
[17] Interviews mit einem Vertreter der albanischen Grenzpolizei in Tirana am 18.3.2021 und mit einem Frontex-Beamten, der an der griechischen Grenze eingesetzt war, am 29.3.2021
[18] Im Jahr 2020 unterzeichnete Bosnien und Herzegowina auf Druck der Europäischen Union ein Rückübernahmeabkommen mit Pakistan.
[19] Innenminister Nehammer baut Zusammenarbeit mit Staaten des Westbalkans aus, BMI Österreich v. 29.9.2021, www.bmi.gv.at/news.aspx?id=6876455575482F622F31343D
[20] Vgl. die Abschiebungspraktiken, über die das Border Violence Monitoring Network im Schwarzbuch der Pushbacks (2020) unter www.borderviolence.eu/launch-event-the-black-book-of-pushbacks berichtet.
[21] Ist die EU ein Komplize der kroatischen Polizeibrutalität?, Deutsche Welle v. 25.11.2020

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