#BlackLivesMatter in den USA: Von rassistischer Unterdrückung zum Black Capitalism?

Interview mit Margit Mayer

Hierzulande gaben #blm und #DefundThePolice zumindest Impulse, Abolitionismus konsequent antirassistisch zu denken und liberale Racial-Profiling-Kritik antikapitalistisch zu reformulieren. In den USA erscheinen große Teile der Bewegung zunehmend parteinah und zielen auf Schwarzes Unternehmertum statt auf gesellschaftliche Transformation. Wir sprachen mit der Bewegungsforscherin Prof. Margit Mayer über Hintergründe und Alternativen. Sie beobachtete das massive Anwachsen von Fördergeldern von Großkonzernen und liberalen Stiftungen, die in den USA eine ethnienübergreifende Klassenpolitik durch Black-Unity-Ansätze verhindern. Statt der Anrufung singulärer Identitäten plädiert sie für intersektionale Herrschaftskritik.

#blm wird von hiesigen Linken sehr gefeiert. Deine Analyse der Situation in den USA fällt nüchterner aus.[1] Du sagst, ähnlich wie frühere Black-Power-Bewegungen droht #blm, letztlich v. a. (der Förderung von) Schwarzen Eliten zu dienen. Dabei entzündete sich die Bewegung doch grade an der Polizeigewalt gegen Schwarze, die über wenig ökonomische Mittel verfügen …

Margit: Mehr noch, #blm entstand vor dem Hintergrund der verstärkten Prekarisierung gerade von People of Color (POC) und Migrant*innen in den USA. Diese wurde durch das Zusammenfallen von Pandemie und Wahlkampf 2020 deutlich sichtbar und auch skandalisierbar. Im Gefolge der 2008er Hypothekenkrise und Rezession bedeutete die Pandemie für Massen von Geringverdiener*innen, und insbesondere für rassifizierte Gruppen, Job- und damit oft Krankenversicherungs- oder gar Wohnungsverlust. Für die meisten im Niedriglohnbereich oder in der Gig-Economy Arbeitenden war eine COVID-Prävention durch „Home Office“ ebenso wenig möglich wie für Obdachlose, die trotz Gesundheitsrisiken an ihren Arbeitsplätzen erscheinen und in überfüllten Bussen und U-Bahnen pendeln mussten – falls sie das „Glück“ hatten, dass ihre Arbeitsplätze nicht der Coronakrise zum Opfer fielen. Dazu kam, dass die neoliberalisierten Kommunen seit Jahr-zehnten bei der Daseinsvorsorge und den sozialen Dienstleistungen gekürzt, aber bei den Polizeibudgets – oft enorm – aufgestockt hatten. In der Krise wurde somit offensichtlicher denn je, dass – wie bereits in der Obama-Ära beobachtet – die USA noch lange nicht post-rassistisch sind, und Polizei und deren Eingreifen, ob bei häuslichen Konflikten, mental-health-Problemen oder bei Obdachlosigkeit oft mehr schaden als nützen. In diesem Kontext – und befördert durch Digitalisierung, in Form z. B. von Smartphones, mit denen Polizeigewalt gefilmt und via Soziale Medien schnell global verbreitet werden konnte – entwickelte sich 2020 nach der Ermordung des Afroamerikaners George Floyd durch einen weißen Polizisten aus zunächst lokalen Aufständen eine der größten sozialen Bewegungen in der Geschichte der USA.

Was war neu an der Bewegung?

M: Als Massenbewegung ging sie über die Anfänge des bereits 2013 lancierten Hashtags #BlackLivesMatter hinaus. Damals reagierten drei afroamerikanische Frauen auf den Freispruch für den weißen George Zimmerman, der als Neighbourhood Watch Patrouille den Schwarzen Teenager Trayvon Martin erschossen hatte, mit dem Hashtag, um so in Sozialen Medien die Gefährdung von „Black Lives“ durch das Strafrechtssystem zu skandalisieren. 2014 sorgten die Polizeimorde an Eric Garner in New York und an Michael Brown in Ferguson, Missouri, erneut für Proteste, und lokale Gruppen begannen sich über #blm landesweit zu vernetzen. Doch die im Sommer 2020 ausgebrochenen Proteste waren nicht auf #blm reduzierbar. Sie artikulierten über die Wut über Polizeimorde hinaus auch eine breite Verunsicherung angesichts der pandemiebedingten Not unter zunehmend prekären Schichten. Der Protest war multiethnisch und entlud sich – im Gegensatz zu früheren Riots – auch weniger in marginalisierten Vierteln, sondern griff zentrale Einkaufsviertel an. Diese vielschichtige Mobilisierung wurde von allen möglichen Bewegungsunternehmen, Bürgerrechtsorganisationen, der Demokratischen Partei und diversen linken Gruppen hofiert, die ihre jeweiligen Narrative zu verbreiten und die Bewegung zu beeinflussen suchten. Die Linke nutzte das Feld, um Rassismus, staatliche Polizeigewalt und neoliberalen Kapitalismus zu kritisieren. Schließlich popularisierte die Bewegung eine vorher nur in engen linken Kreisen gehörte Forderung: Defund the police! Dabei sollte es nicht einfach um Polizeikürzungen und laisser faire gehen. Vielmehr wollten die Aktivist*innen bzw. ihre Sprecher*innen die Ursachen der polizeilich verwalteten Armut und Kriminalität angehen, indem statt der Polizei z. B. verstärkt kommunale Daseinsvorsorge, soziale Dienstleistungen, bezahlbare Wohnungen und ein öffentliches Gesundheitssystem finanziert werden.

Das klingt durchaus nach einer ernstzunehmenden gesellschaftlichen Transformation. Dementsprechend begeistert waren hierzulande viele Kritische Kriminolog*innen und Aktivist*innen – auch wir bei der CILIP, die wir das Thema in Heft 125 aufgegriffen haben. Mir scheint, es gab in Deutschland zumindest eine kleine Diskursverschiebung: Der liberale Mediendiskurs, aber auch Aktivist*innen, die nicht spezifisch zu Polizei arbeiteten, hatten zuvor meist nur exzessive Kontrollen von People of Color als Racial Profiling oder illegale Polizeigewalt kritisiert. Es ging meist um rassistisches Denken von individuellen Cops und selten – intersektionaler und grundlegender – um Herrschaftsstabilisierung durch Polizei. Nun fragen zumindest linke Aktivist*innen und Kriminolog*innen verstärkt, welche Phänomene vergeschlechtlichter und rassifizierter Armut, Ausgrenzung und Ausbeutung polizeilich verwaltet werden und was Alternativen wären. Die polizei- und gefängnisabolitionistische Position schien durch #blm nicht nur aufzuleben, sondern wurde zu konsequenterer Rassismuskritik angeregt. Umgekehrt interessierten sich plötzlich mehr Leute dafür, dass Racial Profiling mit Armut und Kapitalismus zu tun hat. Natürlich gibt es auch hierzulande Stimmen, die #DefundThePolice auf mehr sozialarbeiterische statt polizeiliche Verwaltung von Marginalität verkürzen, und materielle Veränderungen hat die hierzulande kleine Bewegung auch noch nicht bewirkt. Aber zumindest wurden solche Themen mal ein klein bisschen mehr diskutiert. Was ist in den USA passiert, dass #blm dort inzwischen offenbar weniger radikal tönt?

M.: Wie gesagt, die Bewegung war sehr breit und sehr heterogen. Neben einer riesigen Vielfalt lokaler antirassistischer, abolitionistischer Gruppen und Organisationen aus diversen POC-Communities kam nach dem Ausscheiden des Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders aus den Vorwahlen der Demokratischen Partei ein Großsteil seiner Anhänger*innen dazu, mithin linke Kräfte, die eher auf eine Parteistrategie als auf eine Strategie der Straße setzten. Neben parteinahen Organisationen der Demokrat*innen wirkten in ihr auch vielfältige civil-rights-Organisationen und auch Kirchengemeinden. Die Bewegung zog zudem unterstützende Reaktionen und Initiativen von Politik und Stiftungen auf sich und selbst international agierende Unternehmen wie Warner, Sony Music und Walmart traten als Unterstützer*innen von POC, vor allem von Schwarzen Organisationen und Einrichtungen, auf – zumindest machten sie große Summen locker zur Förderung von Schwarzem Unternehmertum. Google versprach, mit 175 Millionen US-Dollar Unternehmensgründungen von Afroamerikaner*innen zu fördern, Youtube mit 100 Millionen „Schwarze Medienstimmen“. Die Ford Foundation stockte ihren bereits 2016 etablierten Black-led Movement Fund nochmals auf, mit dem sie „intersektionales, von Schwarzen geführtes Organizing“ finanziert.

Es ging dabei nicht mehr um Prekarisierte?

M: Das ist wohl eine Definitionsfrage. In der Logik liberaler Stiftungen wird Prekarisierung dadurch bekämpft, dass man Unternehmertum und die Beteiligung von POC an florierenden Branchen, z. B. Medien, Kultur, Musik o. ä. fördert. In dem Maß, wie dafür Gelder bereitgestellt werden, lassen sich amorphe Bewegungen durchaus steuern. Schon gar, wenn bewegungsintern Positionen existieren, denen es primär um „Blackness“, also die Erfahrung spezifisch anti-schwarzer rassistischer Diskriminierung geht, und diese nicht im Kontext von racial capitalism gesehen wird. Das war z. T. schon in der Black-Power-Bewegung der 60er Jahre der Fall und gilt auch für die Gründerinnen von #blm, Patrice Cullors, Alicia Garza und Opal Tometi. Nach deren Vorstellung sollte die neue Bewegung inklusiver für Frauen, lesbische, trans und queere Aktivist*innen sein als die männlich geprägte Black-Power-Bewegung der 1960er Jahre, aber genau wie letztere produziert sie eher schwarze Eliten als dass sie an den Strukturen des racial capitalism rütteln will.

Dazu kommt die politische – also über die Demokratische Partei laufende – Einbindung. Auch die kommt einerseits von Aktivist*innen selber, die in den USA allgemein, nicht nur bei #blm, häufig darauf setz(t)en, eigene Kandidat*innen in politische Ämter zu wählen und den linken Flügel der Demokratischen Partei zu stärken. Ein Problem dieser parteipolitischen Strategie – das die Demokratisch-Sozialistischen Aktivist*innen, also die Sanders-Anhänger*innen, selbst thematisieren – ist: Diese Kandidat*innen repräsentieren v. a. urbane Mittelklassen. Wie insgesamt die Demokratische Partei tun sie sich deshalb schwer, jene suburban-ländlich-kleinstädtischen Milieus zu mobilisieren, die auf ökonomische Entrechtung, aber nicht –jedenfalls ohne aktivistische Vorarbeit – im selben Maße für sexistische Ausgrenzung oder für Umweltprobleme ansprechbar wären. Auch hier existieren also Spaltungen. Zentrale Forderungen linker Kräfte in der Demokratischen Partei wie Universelle Krankenversicherung (Medicare for All), soziale Wohnungspolitik und bessere Löhne würden ja vor allem die Lebensbedingungen von Armen und von rassistisch Unterdrückten verbessern! Gleichzeitig ist es so, dass viele Bewohner*innen vernach-lässigter Schwarzer Viertel keineswegs auf die Dienstleistungen und die Kriminalitätsprävention der Polizei verzichten wollen. Sie finden #DefundthePolice nicht die richtige Forderung, sondern sie wünschen sich eine kompetente Polizei, die ihre Rechte respektiert und dabei hilft, ihre Sorgen zu adressieren.

Solidarische Bündnisse über die sich auch räumlich manifestierenden gesellschaftlichen Spaltungen in Klassen und vermeintlich natürliche Ethnien hinweg gelingen also nur schwer?

M.: Das hat noch einen weiteren Grund. Nicht nur die genannte Förderung und inhaltliche Vereinnahmung durch die Wirtschaft ist strikt an Vorgaben geknüpft, sondern auch die Fördergelder von Stiftungen, wie z. B. der Ford Foundation, die bereits seit 2016 das Netzwerk ‚Movement for Black Lives‘ (M4BL) über sechs Jahre mit 100 Millionen US-Dollar finanziert. Das amerikanische Stiftungswesen hat einen regelrechten „nonprofit-industrial complex“ hervorgebracht, durch den alle möglichen progressiven Organisationen in ihren Arbeitsschwer-punkten und politischen Ausrichtungen gesteuert werden. Die Arbeit antirassistischer und abolitionistischer Organisationen wird, genauso wie die von Stadtteil- oder poor people’s-Organisationen, in der Regel an mehr oder weniger explizite Bedingungen geknüpft: ihre politischen Ziele sollen in Mittelklasse-Sprache, also der Sprache der Stiftungen und Parteien formuliert sein; die Führungen der Organisationen sollen akademisch ausgebildet, also „professionals“ sein, die wiederum nicht etwa ihren Mitgliedern oder ihrer Basis gegenüber verantwortlich sind, sondern den Geldgebenden; und Aufrufe zu Klassensolidarität über

racial lines hinweg haben zu unterbleiben, solche zu ethnischer Einheit dagegen sind erwünscht. Das trifft sich mit den Vorstellungen der Führungsriege von #blm, die alle Schwarzen Leben als systematisch und absichtlich bedroht sieht und daraus die Strategie der Black Unity Politics ableitet.

„Black Unity“ – kannst du die Idee und ihre Tradition in den USA für unsere Leser*innen erläutern und beschreiben, was für – intersektionalere – Alternativen du siehst?

M.: Entsprechend der Unterdrückungsform ‚Rassismus‘ konzipiert man die davon Betroffenen, also in diesem Fall die Afroamerikaner*innen, als einheitliches Schwarzes Subjekt. Die Black Power-Bewegung ging, wie gesagt, genauso vor und generierte durchaus Erfolge – allerdings hauptsächlich für die privilegierten Schichten dieser Bevölkerungsgruppe. An den Bedingungen, die die immer noch virulente rassistische Polizeigewalt produzieren, haben sie nichts geändert. Weshalb schließlich in 2020 erneut eine, diesmal weitaus breitere Bewegung entflammt ist.

Die Bewegung ist auch nach wie vor viel breiter und in ihren Forderungen weitaus radikaler als die BLM-Führungsriege, welche eine sehr professionelle, landesweite Organisation aufgebaut, ein unternehmerisches Branding entwickelt, bis Ende 2020 mehr als 13 Millionen Dollar eingeworben und ein Political Action Committee für die Demokratische Partei aufgebaut hat. Weil all das ohne Mitsprache und z. T. ganz entgegen den politischen Forderungen von lokalen Chapters geschehen ist, sind mehrere lokale Chapters unter Protest ausgetreten. Solche – allerdings ressourcenmässig geschwächten und organisatorisch fragmentierten Gruppen und Organisationen – konstituieren nach wie vor „die“ Bewegung und arbeiten nach wie vor an klassensolidarischen Bündnissen. 

Dank dir für die kritische Einordnung. Noch eine letzte Frage zum hiesigen Kontext. Ich nehme aus deinen Ausführungen über #blm mit, dass Polizeigewalt politisierend wirkt. Müssen wir dann fast froh sein, wenn Polizist*innen gegenüber Querdenker*innen Herzchen-Hände zeigen, statt sie zu verprügeln?

M.: Über rechte Netzwerke in die Polizei hinein freue ich mich natürlich nicht. Wir sollten uns aber auch Sorgen machen, wenn Polizist*innen sogenannte Querdenker mit exzessiver Gewalt verprügeln – wie bspw. am 1. August in Berlin. Und noch mehr Sorgen angesichts der Linken, die die Bullen beklatschten und anfeuerten: Feste druff!

(Das Interview führte Jenny Künkel.)
[1]   Das Interview schließt an den Artikel „Die US-Linke unter Biden“, Prokla Nr. 203 (H. 2/2021), S. 221-243, an.

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