von Hannah Espín Grau und Marie-Theres Piening
Zwar nimmt die öffentliche Debatte über Arbeitsweisen und Aufgaben der Polizei zu, gleichzeitig werden jedoch auch Kompetenzen und Ausstattung der Polizei in Deutschland erweitert. Mit diesen Entwicklungen vermögen die ohnehin schon immer begrenzten Kontrollmechanismen trotz widerwilliger Erweiterungen kaum mitzuhalten. Zivilgesellschaft und Kontrollorgane stehen der Organisation in vielen Fällen ohnmächtig gegenüber. Ein Update und der Versuch einer Einordnung.
Die Beantwortung der Frage, wie die Polizei demokratisiert, kontrolliert und verantwortlich gemacht werden kann, gehört zum Kerngeschäft der CILIP. Seit 1978 erschienen hier zahlreiche Artikel zum Thema, in der allerersten Ausgabe von CILIP etwa Öffentliche Kontrolle der Polizei und Schaffung einer kritischen Öffentlichkeit (CILIP Nr. 0/1978, S. 34-36). Mit den Ausgaben Nr. 15 (2/1983), Nr. 26 (1/1987) sowie zuletzt Nr. 99 (2/2011) entstanden sogar drei Schwerpunkt-Hefte mit dem Titel Kontrolle der Polizei. Dies zeigt zum einen die ungebrochene Relevanz der Thematik, gleichzeitig aber auch die Herausforderungen, die mit einer effektiven Einhegung und Kontrolle von Polizei verbunden sind.
Warum nun also erneut ein Heft zum Themenkomplex? Zum einen wollen wir eine aktuelle Bestandsaufnahme vornehmen. Dabei berücksichtigen wir neben institutionalisierten Formen der Polizeikontrolle auch zivilgesellschaftliche und aktivistische Initiativen, die seit Jahren für eine Kontrolle von außen sorgen. Zudem wollen wir einen Blick auf neue Mechanismen auch außerhalb der Bundesrepublik werfen, die im Ringen um eine besser kontrollierte Polizei vielversprechend erscheinen. Schließlich führen wir die unterschiedlichen Ansätze und Praktiken im Rahmen eines übergreifenden Konzeptes zusammen und systematisieren sie entlang folgender Fragen: Wohin streben die verschiedenen Ansätze und wo sehen sie Hebel der Veränderung? Wie greifen sie ineinander und inwiefern widersprechen sie sich? Wo gehen sie von gleichen Prämissen aus und wo laufen sie aneinander vorbei? Für diese Systematisierung erscheint uns das im Angelsächsischen schon länger diskutierte Konzept der Police Accountability hilfreich, da es als Rahmenkonzept angelegt ist, das verschiedene Ansätze eint.
Im Folgenden umreißen wir daher zunächst, was das Konzept meint und inwiefern es über die Idee einer reinen „Kontrolle der Polizei“ hinausgehen kann, die die Rolle der Polizei in der Gesellschaft nicht hinterfragt. Dass in internationalen Standards zu sogenannter „guter Polizeiarbeit“ der Begriff der Accountability in einer naturgemäß engen, liberalen Lesart verwendet wird, fordert uns dazu heraus, seine weitere Auslegung und seine Potenziale für progressive polizeikritische Debatten in Deutschland in den Blick zu nehmen und ggf. anschlussfähig zu machen.
Vor diesem Hintergrund systematisieren wir die in Deutschland bestehenden Ansätze zu Einhegung und Kontrolle der Polizei, um ihre Lücken und Widersprüchlichkeiten aufzuzeigen. Dabei gehen wir keineswegs davon aus, dass die Widersprüche mit einer vollen Umsetzung eines Police Accountability-Regimes aufzuheben wären. Denn Police Accountability verfolgt lediglich den Anspruch einer besseren Einhegung und Kontrolle der Polizei, nicht deren Abschaffung.[1] Es bietet als Konzept jedoch die Möglichkeit, den Status Quo einer meist liberal und reformorientierten Polizeikritik zu systematisieren sowie weiterreichende Überlegungen zur Sprache und damit ein Stück voranzubringen. Insofern entspricht es den Bestrebungen eines Ansatzes, der ein defunding der Polizei im Sinne einer Machtbeschränkung zum Ziel hat und den liberal-bürgerlichen Anspruch von Rechtsstaatlichkeit ernst nimmt – aber auch nicht mehr.[2] Dem Konzept sind – wie jeder liberalen Polizeikritik[3] – Grenzen und Fallstricke immanent, die wir nicht verschweigen, sondern im letzten Abschnitt als Anknüpfungspunkte für radikalere Polizeikritiken diskutieren wollen.[4]
Was meint Police Accountability?
Unter Police Accountability verstehen wir ein „aufeinander abgestimmtes Ensemble von Mechanismen und Praxen, die dafür sorgen sollen, dass die Organisation Polizei und ihre Angehörigen verantwortlich und gemäß bestehenden Vorgaben handeln. Auf einer konkreten Ebene bedeutet dies, dass Polizist*innen rechtmäßig handeln, sich in der Praxis also an die bestehenden (rechtlichen) Vorgaben halten. So gesehen stellt sich Police Accountability als spezifische Form sozialer Kontrolle dar, nämlich für das Handeln in der Organisation Polizei. Auf einer abstrakteren Ebene lässt sich Police Accountability aber auch als demokratische Einhegung verstehen, da solche Praxen die Polizei durch demokratische Prozesse gegenüber der Gesellschaft in Verantwortung halten.“[5]
Die Polizei zu „kontrollieren“ und die Polizei „verantwortlich zu machen“ sind Zielrichtungen, die einander nicht widersprechen (müssen). Auf den ersten Blick mag Police Accountability sogar deckungsgleich mit klassischen Konzepten zur Kontrolle der Polizei erscheinen,[6] da beide Begriffe aus dem Rechnungswesen stammen. Was ist also der Vorteil der Bezugnahme auf Police Accountability im Rahmen einer Kritik der Polizei?
Die Einsicht, dass eine Polizei im liberalen Rechtsstaat in irgendeiner Form kontrolliert werden muss, ist in der Debatte um die deutsche Polizei anerkannt. Einseitige, direktive und häufig im Schwerpunkt managerial konzipierte Kontrollansätze haben in Form von am New Public Management orientierten Maßnahmen bereits Einzug in die Polizeipraxis gehalten. Der mit ihr einhergehende Druck des schnellen Erfolgs einer Kontrolle der Polizei (in diesem Verständnis anhand von Kennzahlen und Erfolgsmessungen) geht jedoch zu Lasten von ohnehin schon exzessiv polizierten Subjekten und Räumen.[7] Kontrolle geht in diesem Verständnis nicht (zwingend) mit der Stärkung der Beschwerdemacht der Polizierten einher.
Police Accountability kann demgegenüber in einer progressiven Konzeption zur gedanklichen Prämisse machen, dass die Polizei aufgrund ihrer machtvollen Position nur begrenzt steuer- und kontrollierbar ist.[8] Insofern geht sie über eine rein managerial-formelle Kontrolle der Polizei hinaus und adressiert damit ein grundlegendes Polizeiproblem: „Eine kontrolliertere ist noch keine demokratisierte Polizei“, wie Norbert Pütter schon in der CILIP Nr. 99 schrieb. In einem progressiven Verständnis begreift Police Accountability einerseits die Gesellschaft als aufgabenübertragende Akteurin und andererseits die Polizei als rechenschaftspflichtiges Subjekt. Kontrolle und Verantwortung werden insofern relational gedacht, sowohl als gesellschaftliches Verhältnis als auch auf der Ebene der individuellen Beziehung zwischen Polizierenden und Polizierten. Darin liegt das Potenzial und, wie wir zum Abschluss zeigen wollen, auch die Grenze des Konzepts von Police Accountability.
Auf der Makroebene meint Police Accountability also ein Verhältnis zwischen Polizei und Gesellschaft, das die demokratische Einhegung der Polizei vorsieht. Police Accountability verfolgt damit neben demokratischen Zielen und der Idee einer Organisation, die aus ihren Fehlern lernt und damit ihr Vorgehen verbessert, vor allem das Ziel, Machtkonzentrationen in der Exekutive abzubauen und die Beschwerdemacht von Betroffenen zu stärken. Dieses Verhältnis übersetzt sich auf der Mikro-Ebene in eine konkrete soziale Beziehung zwischen Polizist*in und poliziertem Subjekt. Auf dieser Ebene hat Police Accountability eine effektive Kontrolle und die Bearbeitung von (auch strukturellen und systemischen) Fehlern zum Ziel, indem sie die Polizierten resouveränisiert. Hiermit meinen wir etwa die Aufarbeitung eines unrechtmäßig gewalttätigen Polizeieinsatzes unter Beteiligung der Betroffenen und den am Einsatz beteiligten Polizist*innen. Police Accountability kann so verstanden nicht nur polizeiliches Handeln in Frage, sondern polizeiliche Aufgaben insgesamt und ihr Verhältnis zur polizierten Gesellschaft zur Debatte zu stellen.
Police Accountability: Felder und Akteur*innen
Doch wie sollen die oben umrissenen hehren Ziele des Konzepts nun herbeigeführt werden? Police Accountability lässt sich (ähnlich wie die klassische Polizeikontrolle) in fünf Feldern beschreiben, die jeweils ihre eigenen Akteur*innen haben (in der Public Accountability-Forschung oft „Accountability-Foren“ genannt). Akteur*innen (oder Foren) sind jene, denen gegenüber polizeiliches Handeln erklärt und gerechtfertigt wird. Ihre Aufgabe ist es, die Polizei im Rahmen eines Accountability-Mechanismus gegenüber rechtlichen Vorgaben und letztlich gegenüber der Gesellschaft in Verantwortung zu halten, wobei der Mechanismus auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sein und somit in seiner Reichweite variieren kann.[9]
Eine Kontrolle und darüberhinausgehende Verantwortlichmachung der Polizei kann in fünf Feldern stattfinden: Interne Accountability der Polizei meint soziale Praxen und Mechanismen innerhalb der Polizei selbst, etwa durch die hierarchische Organisation der Polizei oder das interne Berichtswesen. Innerhalb der Polizei soll die soziale Kontrolle durch Kolleg*innen (die in diesem Fall die Accountability-Akteur*innen darstellen) für verantwortliches Handeln der Polizei sorgen. Für Fehlverhalten stehen das Disziplinarrecht sowie Stellen für „interne Ermittlungen“ zur Verfügung. Auf einer berufskulturellen Ebene ist zudem an eine polizeiliche Fehlerkultur zu denken. Exekutive Accountability der Polizei bezeichnet die Mechanismen innerhalb der Hierarchie der öffentlichen Verwaltung. Hier fungieren die Innenministerien mit der Fachaufsicht sowie die Staatsanwaltschaften als Leitung der Ermittlungsverfahren, in denen die Polizei konkrete Tätigkeiten vornimmt, als Accountability-Akteur*innen, die für eine Kontrolle der Polizei sorgen sollen. Ebenso können Polizeibeschwerdestellen der Innenministerien oder Staatskanzleien, wie es sie etwa in Sachsen und Niedersachsen gibt, dieser Form der Accountability zugerechnet werden. Judikative Accountability der Polizei bezeichnet die verschiedenen gerichtlichen Mechanismen, die für eine Kontrolle der Polizei sorgen sollen. Zentrale Akteur*innen sind hier die Verwaltungsgerichte sowie die Strafgerichte, die polizeiliches (Fehl-) Verhalten prüfen und ggf. verwaltungsrechtlich und strafjustiziell aufarbeiten. Legislative Accountability der Polizei stellt das vierte Feld dar und umfasst Accountability-Praxen von staatlichen, dem Parlament verantwortlichen Institutionen. Hierunter sind insbesondere Stellen zu verstehen, die als Hilfsorgane des Parlaments die parlamentarische Kontrollfunktion unterstützen und/oder mit ausführen. Konkrete Beispiele sind Untersuchungsausschüsse, Ombudsstellen, Polizeibeauftragte oder institutionalisierte civilian review boards (die in Deutschland allerdings keine Entsprechung finden) sowie etwa die Polizeibeiräte in Nordrhein-Westfalen (NRW). Gesellschaftliche Accountability der Polizei wiederum umfasst diejenigen Mechanismen und Praxen, die ohne den Staat aus kollektiven politischen Bewegungen, zivilgesellschaftlichen Institutionen oder auch von Individuen angestoßen werden, also z. B. von Nichtregierungsorganisationen, Beratungsstellen, aktivistischen Gruppen und Initiativen sowie Medien.
Die verschiedenen Akteur*innen und Felder fokussieren dabei unterschiedliche Ziele, die sich überlappen und teilweise auch ausschließen können. So kommen etwa Mechanismen judikativer Accountability im Bereich des Strafrechts eher dann zum Tragen, wenn zugleich im Rahmen gesellschaftlicher Accountability die Beschwerdemacht von Betroffenen gestärkt wird und diese sich dazu entscheiden, Anzeige zu erstatten.[10] Gleichzeitig ist etwa das Ziel der Organisation Polizei, durch das Lernen aus Fehlern polizeiliche Legitimität und Effektivität zu erhöhen, nicht mit dem Ziel aktivistischer Gruppen kompatibel, die Polizei zu entmachten oder ganz abzuschaffen, um zum Schutz von Betroffenen vor Tod, Diskriminierung und Demütigung, polizeiliche Fehler komplett zu verhindern.
Internationale Standards zu guter Polizei
Police Accountability ist kein rein analytisches Konzept, das nur Polizeiforscher*innen im stillen Kämmerlein beschäftigt, sondern ein normatives Leitbild, welches aber gleichzeitig die Möglichkeit bietet, über reine Kontrolle hinausweisende Mechanismen sowie verschiedene Stränge einer Polizeikritik zusammenzubinden. Der normative Charakter des Konzeptes wird auch darin deutlich, dass internationale Standards der Vereinten Nationen (VN) zu „guter polizeilicher Praxis“ Police Accountability als Leitprinzip vorgeben. Sie fordern dabei – parallel zu zivilgesellschaftlichen Forderungen – eine externe Kontrolle und Beschwerdebearbeitung in Bezug auf Polizei, eine stärkere Betonung der Rolle der Zivilgesellschaft und ziviler Kontrolle sowie die Einbeziehung der Betroffenen-Perspektive. Bereits seit 1996 mahnen verschiedene VN-Gremien sowie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Einrichtung unabhängiger Stellen zur Untersuchung von Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei an.[11] Auch das Europäische Parlament betont diese Forderung in seiner „Entschließung … zu den Protestkundgebungen gegen Rassismus nach dem Tod von George Floyd“ und unterstreicht ferner, dass „demokratische Polizeiarbeit voraussetzt, dass die Polizei vor dem Gesetz, den Behörden und der gesamten Öffentlichkeit, der sie dient, Rechenschaft über ihr Handeln ablegen muss“.[12] In einer Expertise über demokratische Kontrolle der Polizei für das Europäische Parlament wird weiterhin als zentrales Element von Police Accountability ausgemacht, dass diese nicht nur sicherstellen und dafür sorgen solle, dass Polizei ihre Aufgabe gemäß der Vorgaben erfüllt, sondern dass sie dabei auch „hohe Standards“ einhält. Damit ist insbesondere gemeint, dass die Polizei „dafür zur Verantwortung gezogen wird, wenn sie dies nicht schafft.“[13] Dies entspricht also dem Anspruch eines bürgerlichen Rechtsstaates an eine professionalisierte und professionell handelnde „Bürger*innen-Polizei“.[14] Eine weitere klassische Forderung der liberalen Polizeikritik, die intensivere Berücksichtigung der Betroffenen-Perspektive, welche sich ohnehin aus der ständigen Rechtsprechung des EGMR ableitet, wurde so schon 2009 vom damaligen Europäischen Kommissar für Menschenrechte verstärkt eingefordert.[15]
Gleichzeitig ist dieser liberalen Lesart des Konzepts aber auch das Ziel der Steigerung polizeilicher Effektivität und Transparenz und damit verbunden polizeilicher Legitimität inhärent bzw. wird in dieser explizit als Ziel benannt. In einer wenig progressiv gewendeten Form kann Police Accountability also auch mit der Erhaltung effektiver Systeme des Polizierens einhergehen. „Police governance and police accountability are interconnected terms“, so drückt es die oben bereits zitierte Expertise des Europäischen Parlaments zu demokratischer Kontrolle der Polizei unmissverständlich aus. Trotzdem geht diese Lesart über den Status quo der Einhegung der Polizei in Deutschland hinaus.
Die internationalen Standards begreifen Police Accountability sowohl als ex ante als auch als ex post angelegte Accountability. Police Accountability wird entworfen als (demokratische) Anleitung der Polizei bezüglich dessen, was zu tun und wie es durchzuführen ist (vor dem Einsatz), als Aufsicht über die Polizei und Bewusstsein über die Notwendigkeit von Accountability (während des Einsatzes), als Behebung und zukünftige Unterlassung unangemessenen polizeilichen Verhaltens (nach dem Einsatz) sowie als Analyse, Nachbesprechung und Feedback (ebenfalls nach dem Einsatz).[16] Police Accountability bezieht sich also nicht nur auf die Aufarbeitung von Polizeieinsätzen im Nachhinein, sondern auch auf Fragen der Kompetenzbestimmung, der Einsatzplanung und der Ausführung polizeilicher Aufgaben. Unter einem effektiven Police Accountability-Regime wird in dieser Lesart ein System verstanden
- in dem die Polizei, der Staat, die Öffentlichkeit und unabhängige Stellen beteiligt sind,
- welches vor, während und nach dem Einsatz tätig ist,
- welches Korrekturen und Veränderungen zulässt und
- welches individuelle Polizeibeamt*innen genauso in den Blick nimmt wie deren Vorgesetzte und die Organisation Polizei in ihrer Gesamtheit.[17]
Hervorgehoben wird also die Notwendigkeit einer externen und demokratischen Kontrolle von individuellem Verhalten und der Organisation als Ganzes, die bereits bei der Aufgabensetzung beginnt und mit der nachträglichen (kritischen) Evaluation des Einsatzes endet. Damit geht selbst die enge Lesart von Police Accountability in den internationalen Standards also schon über die deutsche Debatte zu polizeilicher Fehlerkultur und nachträglicher Aufarbeitung von polizeilichen Fehlern hinaus. Sie wagt sich an die Frage heran, welche Aufgaben die Polizei überhaupt haben soll. Der deutsche Flickenteppich verschiedener Kontroll-Ansätze mit seinem Schwerpunkt auf einer nachträglichen internen sowie exekutiven Kontrolle entspricht einerseits nicht dem in den internationalen Standards geforderten systematischen Accountability-Regime. Andererseits verdeckt er aufgrund seiner einzelfallbezogenen Genese die Relevanz der Frage, welche Form von Polizei eigentlich gebraucht wird.
Der deutsche Flickenteppich
Polizeiliches Handeln greift regelmäßig in Grundrechte ein und bedarf daher stets einer gesetzlichen Grundlage. Rechtliche Regelungen bewirken damit zwar eine gewisse Bindung der Organisation, werden in der Praxis aber durchaus flexibel gehandhabt, wie die Polizeiforschung bereits vielfach zeigen konnte.[18] Überhaupt sind die Probleme der Kontrolle der Polizei vielfach identifiziert und beschrieben worden.[19]
Klassische Instrumente zur Bindung von Polizei an gesetzliche Vorgaben sowie zur Kontrolle ihrer Praxis sind in Deutschland zunächst die Hierarchie innerhalb der Organisation Polizei sowie ihre Unterstellung unter die jeweiligen Innenministerien, welche die Aufsicht über die Polizei ausüben. Indem Hierarchien Abhängigkeiten schaffen, sind sie jedoch für sich genommen kein geeignetes Instrument für eine effektive Selbst-Kontrolle. Für den Umgang mit polizeilichem Fehlverhalten wiederum stehen in Deutschland insbesondere das Disziplinar- und Strafrecht zur Verfügung. Doch auch diese Instrumente erweisen sich in ihrer Wirkung in der Praxis als defizitär: Die meisten Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung im Amt werden von den Staatsanwaltschaften eingestellt: In nur 2 % aller eingeleiteten Verfahren gegen Polizeibeamt*innen wurde im Jahr 2018 Anklage erhoben oder ein Strafbefehl beantragt.[20] Diese Erledigungsstruktur hat sich in den letzten Jahren kaum verändert und ist mit keinem anderen Deliktsfeld vergleichbar.
Neben diesen klassischen Instrumenten, die aufgrund ihres rechtlichen Fokus individualisierend angelegt sind, gibt es mit parlamentarischen Untersuchungsausschüssen einen Mechanismus, der sich auch nach der Beendigung von Strafverfahren mit polizeilichem Fehlverhalten auseinandersetzen kann und dabei die Chance bietet, Fehlentwicklungen der Polizei als Organisation in den Blick zu nehmen. Für eine effektive parlamentarische Aufarbeitung ist jedoch eine kooperative Grundhaltung der Polizei und Innenministerien erforderlich. Die Möglichkeiten und Grenzen dieses Mechanismus zeigt Maximilian Pichl in seinem Beitrag in dieser Ausgabe auf.
Seit den 1980er Jahren werden auch in der deutschen Debatte alternative Mechanismen diskutiert und teils erprobt, die versuchen die ineffektive exekutive Kontrolle von Polizei und justizieller Aufarbeitung von polizeilichem Fehlverhalten um weitere Mechanismen zu ergänzen. Mit der Etablierung der „Hamburger Polizeikommission“ im Jahr 1998 wurde ein erster Schritt in Richtung externer Aufarbeitung polizeilichen Fehlverhaltens gegangen, der allerdings 2001 von der rechtskonservativen Regierung unter Beteiligung der populistischen Schill-Partei ersatzlos gestrichen wurde. Seit 2014 wurden auf Länderebene zahlreiche Polizeibeauftragte oder Polizeibeschwerdestellen implementiert, die teils unter der Exekutive, teils unter der Legislative angesiedelt und flankierend zu Disziplinar- und Strafrecht gedacht sind. Piening/Kühne/Töpfer widmen sich in dieser Ausgabe einer aktuellen Bestandsaufnahme dieses Accountability-Mechanismus. Die Stellen in Deutschland unterscheiden sich jedoch hinsichtlich ihres Zuschnitts und ihrer Kompetenzen. Weitreichendere Befugnisse haben Polizeibeschwerdebehörden in Großbritannien, die zwar in der Exekutive angesiedelt, als Ermittlungsstellen jedoch mit weitreichenden, tatsächlichen Ermittlungsbefugnissen ausgestattet sind. Zudem stehen dort die Instrumente der strategic review und super-complaint zur Verfügung: Strategische oder thematische Überprüfungen von polizeilichem Handeln (strategic reviews) oder Untersuchungen zu Superbeschwerden (super-complaints), die auf Antrag bestimmter dazu befugter Organisationen durchgeführt werden, sind schwerpunktmäßige Untersuchungen, die polizeiliches Fehlverhalten zum Anlass nehmen, um sich mit als grundlegend identifizierten strukturellen und kulturellen Problemen in der Organisation auseinanderzusetzen. Genevieve Lennon gibt in ihrem Beitrag einen Überblick über diese auch in Großbritannien relativ neuen Instrumente und ihre Auswirkungen. Zwar bieten diese Mechanismen eine zivilgesellschaftliche und öffentlichkeitswirksame Möglichkeit auf Polizei einzuwirken, sie könnten jedoch langfristig Wirkungen zeigen, die einem progressiven Verständnis von Police Accountability gerade entgegenwirken: Das Instrument der Superbeschwerde kann nur von bestimmten Organisationen zur Verbesserung der Polizei aus ihrer jeweiligen Perspektive genutzt werden. Dabei geht es unter Umständen gerade nicht um eine Beschränkung polizeilicher Machtbefugnisse und eine Einschränkung ihrer Aufgaben, sondern wird im Gegenteil sogar eine Ausweitung polizeilicher Tätigkeiten im Interessensbereich der jeweiligen Organisation gefordert. Gleichzeitig verweist bereits der Name der in Großbritannien zum Einsatz kommenden strategischen Reviews auf ein Defizit der Versuche, die deutsche Polizei einzuhegen: Es fehlt neben weiterreichenden Befugnissen und Mechanismen zusätzlich an einer Strategie, die die verschiedenen Ansätze staatlicher Kontrolle von Polizei zusammenführt und einordnet.[21]
Neben den beschriebenen institutionalisierten Formen zur Einhegung und Kontrolle von Polizei im Feld der exekutiven und legislativen Accountability spielen seit jeher vor allem kritische Öffentlichkeit und Medien eine wichtige Rolle. Seien es ältere Zusammenschlüsse wie Bürger*innen beobachten die Polizei, die Initiative für ein Dokumentations- und Beschwerdebüro zu Polizei in Köln oder jüngere Bündnisse und Initiativen wie Copwatch, die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh, Death in Custody und go film the police, die Berichterstattung kritischer Journalist*innen oder Chroniken wie Copservation und nicht zuletzt CILIP selbst.[22] Sie alle verstehen sich (auch) als kritische Beobachter*innen der Polizei; sie zentrieren und empowern die Perspektive von Betroffenen, sie thematisieren nicht nur individuelles Fehlverhalten, sondern auch strukturelle Problemlagen und arbeiten an der Konzipierung von Alternativen. Dem Filmen von Polizei kommt in diesem Zuge eine immer wichtigere Bedeutung zu. Dies hat nicht zuletzt das Videomaterial des nicht nur rassistischen, sondern auch strukturell armutsbestrafenden Übergriffs Berliner Polizeibeamter auf eine syrische Familie in der eigenen Wohnung aktuell wieder eindrücklich gezeigt.[23] Zur Thematik des Filmens von Polizei befragt Matthias Monroy in dieser Ausgabe Maren Burkhardt, die die Kampagne „go film the police“ unterstützt und vor Gericht als Anwältin vertreten hat.
Auch das Bündnis „Wo ist unser Denkmal?“ ist als soziale Bewegung Teil einer die Polizei einhegenden kritischen Öffentlichkeit und weist durch seine Arbeit nicht nur auf strukturelle Probleme in der Polizei hin, sondern thematisiert und konzipiert auch eine andere Form von öffentlicher Sicherheit. Sonja John beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit dem „Denkmal gegen Rassismus und Polizeigewalt“ und einer Gegenüberstellung dieser Form von Polizeikontrolle und der neu geschaffenene Polizeibeauftragtenstelle in Berlin.
Zum weiteren Repertoire öffentlich-zivilgesellschaftlicher Polizeikontrolle (oder eben auch gesellschaftlicher Police Accountability) gehören öffentliche Debatten über Kennzeichnungspflicht und Body-Cams; die polizeiliche Debatte über Fehlerkultur sowie wissenschaftliche Untersuchungen der Polizei sind Mechanismen, die zu Kontrolle von Polizei beitragen können.
In den USA gibt es schließlich auch staatlicherseits den Versuch, eine zivilgesellschaftliche Kontrolle der Polizei über sogenannte civilian review boards zu etablieren. Aufgabe dieser Boards ist es, unter Einbezug von Vertreter*innen bestimmten Communities und individuell Betroffenen einerseits konkrete Fälle aufzuarbeiten und Empfehlungen zu einem Umgang damit abzugeben, andererseits aber auch ex ante an Konzepten für eine „gute Polizeiarbeit“ mitzuwirken. Die Effektivität dieser Boards hängt unter anderem von ihrem lokalen politischen Rückhalt ab, wie etwa am Beispiel der Hindernisse deutlich wird, mit denen das civilian review board in Albuquerque (New Mexico) zu kämpfen hatte.[24] Ihre Einrichtung zeugt jedoch von dem Willen, die Perspektive von stark polizierten Communities ernst zu nehmen, ihnen eine Stimme zu verleihe und sie in die strategische Ausrichtung von Polizei einzubeziehen. Ein Äquivalent dazu fehlt bislang in Deutschland – Polizeibeiräte, wie etwa die in NRW, bestehen aus Mitgliedern von Kommunalparlamenten und werden eher bei planerischen oder personellen Fragen zur Polizei, aber nicht bei der Aufarbeitung struktureller Missstände konsultiert.[25]
Den beschriebenen Mechanismen stehen in Deutschland – sofern sie überhaupt etabliert sind – unverbunden nebeneinander, ein über- und ineinander greifendes Konzept fehlt. Ihr Ziel ist es nicht, polizeiliche Arbeit zu begrenzen. Selbst kleinere Reformen, wie etwa die Einführung des Bürger- und Polizeibeauftragten des Landes Berlin, werden nur zögerlich und gegen erhebliche Widerstände umgesetzt.
Police Accountability: Chancen und Grenzen
Aus unserer Perspektive birgt das Konzept der Police Accountability die Chance, das Nachdenken über eine effektive Einhegung der Polizei voranzubringen, indem es verschiedene Ebenen der Polizeikritik verbindet. Einzelne liberale Reformvorschläge werden „für sich allein genommen an der Oberfläche der benannten Probleme … verharren“;[26] radikalere Kritiken ohne eine die realen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse ernstnehmende Vorstellung davon, wie die Macht der Polizei konkret begrenzt werden kann, werden für sich genommen die (für viele Communities sehr aktuelle und damit sehr relevante) Oberfläche nicht verändern. Das Konzept von Police Accountability stellt nicht per se staatliche Gewalt in Frage. Angesichts des hiesigen Diskussionsstandes über die Rolle der Polizei in der Gesellschaft und angesichts der aktuellen politischen Kräfteverhältnisse bietet es aber eine Möglichkeit, die Notwendigkeit externer Kontrolle zu betonen und die Relevanz der Perspektive der Polizierten in den Vordergrund zu stellen. Ein progressives polizeiliches Accountability-Verständnis betont die Stärkung der Beschwerdemacht derjenigen, die von polizeilichem Handeln betroffen sind, ebenso wie das Suchen nach und Setzen auf kollektive Antworten auf die (und Alternativen zur) Polizei.
Das Streben nach Kontrolle und demokratischer Einhegung von Polizei wird durch die Entgrenzung ihrer Kompetenzen und Ermessensspielräume, durch ihre Verselbstständigung und die partielle Aufhebung der Gewaltenteilung strukturell herausgefordert.[27] Umso bedeutsamer scheint uns die Relationalität des Konzeptes zu sein, die ein Verhandeln über polizeiliche Aufgaben und die Art und Weise ihrer Ausübung denkbar macht. Polizei und ihre Aufgaben sind nicht zuletzt „Ergebnisse räumlicher und zeitlich heterogener sozialer Kämpfe. … Umgekehrt wirken Polizeien auf gesellschaftliche Aushandlungsprozesse zurück – oft im Sinne einer Stabilisierung hegemonialer Gesellschaftsformationen.“[28] Wir begreifen die Polizei und ihren Status quo also als Resultat vermachteter gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Das bedeutet auch, die stabilisierende Funktion der Polizei für hegemoniale Herrschaftsverhältnisse ernst zu nehmen sowie die Grenzen von Police Accountability deutlich zu benennen und anzuerkennen, insbesondere die strukturstützende Funktion einer liberalen Auslegung des Accountability-Begriffs, welche die Verhältnisse zementiert, statt sie zu verändern. Wer über Police Accountability reden will, darf daher von der Gesellschaft nicht schweigen.