Vereinigte deutsche Sicherheit – oder die mehrfach verkürzte Verfassungsdebatte

Der äußere Einigungsprozeß von BRD und DDR zu einer vergrößerten BRD geschah ohne verfassungspolitisches Federlesen. Zuerst wurde qua „Währungsunion“ am 1. Juli 1990 die ökonomische Verfassung im Sinne der Ausdehnung bundesdeutscher Ökonomie festgelegt. Anschließend wurde mit Hilfe einer bürokratischen Musterleistung, dem „Einigungsvertrag“, die Haut des Grundgesetzes (GG) über die vormalige DDR gezogen. Die ad hoc neu geschaffenen Länder auf dem Territorium der DDR konnten so gemäß Artikel 23 GG zum Grundgesetz beitreten und die Legitimation des Einigungsvorgangs repräsentativ perfekt machen. In Art. 5 des „Einigungsvertrages“ wurden mögliche Verfassungsänderungen auf die Zeit nach der Einigung verschoben.

Der im Grundgesetz für Vorgänge wie die Vereinigung der beiden deutschen Staaten vorgesehene Art. 146 GG soll einem möglicherweise modifiziertem Grundgesetz irgendwann in den 90er Jahren die plebiszitäre Ölung geben. Wie schon vor dem Akt der formellen Einigung am 3. Oktober 1990 schlägt seither täglich die Stunde der Bürokratie. Entsprechend lauten die lyrischen Worte verwaltender Autopoesie: Evaluation, Abwicklung, Erstreckung …

Das „System Innerer Sicherheit“ grundrechtskonform auflösen

Das, was seit 1972 bundesdeutsch den Namen „System Innerer Sicherheit“ trägt, wurde durch die Einvernahme der DDR systematisch erweitert. Gerade bei den diversen Einrichtungen dieses „Systems“ wären verfassungskonforme Änderungen geboten gewesen, denn dessen Lebenselexier bestand vor allem darin, die Alt-BRD und ihre BürgerInnen vor der sie unterwandernden und ausspionierenden Alt-DDR zu schützen. Nichts dergleichen. Noch während der Prozeß der Einigung im vollen Gange war, wurden dem „System Innerer Sicherheit“ weitere vorwärts verrechtlichende Ländereien zuerkannt, um sie in den neuen Bundesländern dann entsprechend abrunden zu können. Als wären die herkömmlichen „Dienste“ nicht hinfällig geworden, da die DDR zur BRD wurde und sich Osteuropa qualitativ wandelte, wurden sie als neue Aufgabe die in die neuen Bundesländer hinein“erstreckt“. Es zeigt sich hierbei, wie selbstverständlich, nahezu überparteilich und zum Bestand der wirklichen Verfassung gehörig, das in den Ausnahmezeiten der 70er Jahre gezimmerte „System Innerer Sicherheit“ mit der Zeit geworden ist. Die von uns durchgängig gebrauchten Anführungszeichen vermögen auf diese sicherheitspolitische Hybrideinrichtung nicht einmal mehr ironisch aufmerksam zu machen.

Der Verfassungsschutz, in Spionageabwehr ebenso wie beim sog. administrativen Verfassungsschutz, sprich der informationellen Kontrolle der eigenen „extremistisch“ geneigten BürgerInnen, bis dato nahezu exklusiv „dem Osten“ zugekehrt, wird nicht drastisch „heruntergefahren“. Im Gegenteil, auf der Suche nach neuen Aufgaben wird nun die Ex-DDR als Aufbauraum entdeckt. Kennzeichnend hierfür ist ein Bericht von Carl-Christian Kaiser1 über das „Amt“ und seine Aufgaben anläßlich des Amtsantritts des neuen Verfassungsschutz-Präsidenten. Fast im O-Ton des Verfassungsschutzamtes wird erklärt, „zum Kampf gegen den Terrorismus“ geselle sich als „Hauptaufgabe für die nächsten Jahre“ „der Aufbau eines demokratisch-legitimierten und kontrollierten Verfassungsschutzes auch in der DDR“. Unter anderem dieser Kampf und Aufbau machen es laut Kaiser auch erforderlich, dem Verfassungsschutz Zugang zu den Stasi-Akten zu gewähren. Worin aber sollen die Aufgaben des neuen Verfassungsschutzes als grundrechtsgemäßem Stasi-Ersatz in den neuen Bundesländern bestehen?

Offenbar in der Westgefährdung des deutschen Ostens. Genau seitenverkehrt wie vordem: „Spezifische Aufgaben in den neuen Bundesländern zeichnen sich ab: Mögen Rechtsextremismus und orthodoxer Kommunismus hier nach der deutsch-deutschen Vereinigung zunächst noch schwach gewesen sein, so versucht doch die rechte wie die linke ‚Szene‘ aus der alten Bundesrepublik inzwischen nach Kräften, drüben Fuß zu fassen – von Schönhuber über Nazi-Konventikel bis zur buntscheckigen ‚Neuen Linken‘ und den ‚Autonomen‘. Nach den Kölner Beobachtungen gibt es dort, jedenfalls bei militanten Rechtsextremisten, eine gefährlich Bereitschaft zur Gewalt, als handele es sich um einen Pendelschlag in die andere Richtung nach der früheren Repression von links. Im übrigen aber: die PDS ist bei alledem nicht im Visier. Ihr Reformabsichten von vornherein abzuerkennen, ist Werthebachs Sache nicht.“2 Zu diesen Aufgaben verfassungsschützerischer Kolonisierung kommt schließlich noch die „Hilfe beim Aufbau eines demokratischen Verfassungsschutzes“ in osteuropäischen Ländern. Der Rat, eine liberale Demokratie bedürfe über Meinungsfreiheit und angemessene Artikulations- und Konfliktlösungsmuster hinaus zu ihrem Schutze keines bürgerausspähenden geheimdienstlichen Amtes, soll offenkundig nicht erteilt werden.

Weiterhin sollte man annehmen, daß über den Verfassungsschutz hinaus u.a. auch beim Bundeskriminalamt und der Bundesanwaltschaft drastische Einsparungen möglich würden, seit sich herausgestellt hat, daß der Vereinigungsakt den größten Fahndungserfolg in Sachen Terrorismus bescherte. Doch erneut: nichts von Stellenabbau, von Änderung der öffentlich verborgenen Fahndungskonzepte und Fahndungen; kein Wort wird vernommen, die sog. Anti-Terrorismus-Gesetze und ihr Ausbau würden nun so aufgehoben bzw. modifiziert, daß sie grundrechtlich demokratischer Sicherung angemessen wären oder gänzlich aufgehoben.

Die Chance einer Liberalisierung und Demokratisierung von Polizei und Geheimdiensten, des staatlichen Gewaltmonopols im Innern wird nicht ergriffen.3 Die Vereinigung böte eine solche Chance gleich in doppelter Weise. Zum einen fallen eine Fülle Aufgaben weg, die sich aus dem institutionalisierten Antikommunismus ergeben hatten. Zum anderen müssen in der Tat neue polizeiliche Einrichtungen in der ehemaligen DDR geschaffen werden. So hätte die neue Bundesrepublik als selbstbewußter gewordene liberale Demokratie (befreit vom Schlagschatten vermeintlicher und tatsächlicher kommunistischer Bedrohung) die Möglichkeit, eine demokratieförmigere Polizei in den neuen Ländern aufzubauen und dabei lernend nach und nach Elemente auch im Westen zu übernehmen. Statt dessen pure administrative Einfallslosigkeit.

Den Gewaltkern auslassende Verfassungsdiskussion

Trotz der bürofixen Einigung und trotz Wegschiebens aller Verfassungsfragen ist eine Verfassungsdiskussion in Gang gekommen. Teilweise wurde sie unvermeidlich, weil die fünf neuen Bundesländer eben einer neuen Verfassung bedürfen, und weil auch das Grundgesetz einige Modifikationen erfordert; teils wurde sie von Bürgerrechtsorganisationen in Ost- und Westdeutschland vom linksliberalen Rand der SPD bis hin zu Personen und Gruppen in Gang gebracht. Symptomatisch hierfür ist das im Juli 1990 gegründete „Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder“.4

Betrachtet man die schon verändert vorliegenden Verfassungstexte und die gegenwärtig von Niedersachsen bis Thüringen diskutierten Entwürfe bzw. die Vorlagen für eine neue Bundesverfassung, wie sie u.a. von besagtem Kuratorium erörtert werden, dann fallen überraschend ähnliche Vorzüge, aber auch ähnliche Verkürzungen auf:

– der Grundrechtskatalog wird modernisiert (das „informationelle Selbstbestimmungsrecht“ und der Datenschutz spielen nun eine erhabene Rolle); das Gleichheitsgebot wird vor allem in Richtung Gleichberechtigung der Geschlechter explizierter und präziser gefaßt; die eher verkümmerten sozialen Rechte des Grundgesetzes werden kräftig ergänzt;
– eine (naive) Lust neuer Staatszielbestimmungen greift um sich. Überall wird selbstverständlich die Sorge für eine gesunde Umwelt zum Staatsziel erhoben. Am meisten expansiv verhalten sich in Sachen Staatsziele der Runde-Tisch-Entwurf vom März 1990 5 und der des Kuratoriums;
– demokratisierende Ergänzungen werden für erforderlich gehalten, insbesondere Volksbegehren und Volksentscheide.

Daneben überrascht ein fast durchgehender doppelter Mangel. Zum einen wird an den Organisationsteilen der Verfassungen viel weniger korrigiert und ergänzt als an den normativen, Staatsziele bestimmenden Artikeln. Dadurch entsteht eine starke Inkongruenz und erwächst die Gefahr, daß die neu-alten Normen/Staatsziele entweder dem symbolischen Gebrauch bzw. Mißbrauch von Grundrechten/Staatszielen dienen und/oder, daß die Grundrechte, vor allem die Staatsziele noch mehr als bisher zu staatlichen Eingriffs- und Einstiegsrechten umfunktioniert werden.6 Damit aber verstärkt sich der zweite Mangel. Im Umkreis der Demokratisierungsdiskussion nämlich wurde und wird das staatliche Gewaltmonopol im Innern nahezu vollkommen ausgespart. Die äußere Monopolseite, die prinzipiell nur in der Bundesverfassung behandelt wird, das Militär und seine Institutionen/Funktionen also, werden in der Runden-Tisch-Verfassung negativ behandelt in dem Sinne, daß sie nicht mehr vorgesehen sind.7 Im gegenwärtig vorliegenden Entwurf des Kuratoriums wird eine Alternative präsentiert: Die eine Variante sieht die Bundeswehr strikt eingebunden in ein System kollektiver Sicherheit und verbindet damit eine Reihe restriktiver Bestimmungen; die andere Variante formuliert das Konzept einer Bundesrepublik ohne Bundeswehr. Mit der nach innen gerichteten Monopolseite des Staates wird in den Entwürfen für eine neue Bundesverfassung ebenso wie in den Landesverfassungsentwürfen oder schon verabschiedeten runderneuerten Landesverfassungen durchgehend konventionell verfahren. Dies geht soweit, daß nicht einmal die restriktiven Bestimmungen der Notstandsgesetze von 1968 beseitigt werden. Ansonsten wird das Gewaltmonopol im Innern, soweit es in den Texten überhaupt zum Vorschein kommt, als Nicht-Entscheidung behandelt, als etwas, das immer schon feststeht. Eine einzige bedeutsame, leider unzureichende Ausnahme ist zu vermerken: das Akteneinsichtsrecht. Eine Art deutschen Freedom of Information Act (FoIA), wie es in der neuen schleswig-holsteinischen Verfassung, dem Entwurf des Runden Tisches und am deutlichsten im Entwurf des Kuratoriums enthalten ist. Doch auch hier gilt: die nötigen Konsequenzen in Richtung einer Demokratisierung von Bürokratie insgesamt, einer veränderten Amtshilfe u.ä.m. werden nicht gezogen.

Zu kurz fassen die Demokratisierungsvorschläge auch deshalb, weil der staatlich-bürokratische Kontext, in den das Gewaltmonopol im Innern eingebettet ist, nicht grundlegend neu geregelt wird in Richtung einer Demokratisierung von unten nach oben, von der Kommune über die Kreise und Länder hin zum Bund nach Art eines demokratischen Subsidiaritätsprinzips. Erst durch eine solche Neuorganisation, die auch die übernationale Kompetenzabgabe strikt an demokratisch-grundrechtliche Auflagenbände, wäre eine Umkehrung zentralisierter Polizeiorganisation möglich.

So lassen selbst die konsequent liberal-demokratischen Reformvorschläge das nach innen schlagende Herz des Staates ohne neue Fassung, ja versäumen sogar, neu zu überlegen, wie wenigstens die parlamentarische Kontrolle verbessert werden könnte. (Auch die Judikative und ihre Organisation werden demokratisierend weitgehend außer Acht gelassen.) Zumindest in der Konzeption waren da die Frühliberalen weiter.

Eine solche Polizeireform müßte sowohl grundrechtlich rückwirken als auch vorgearbeitet werden. Eine Vorbedingung etwa bestünde in besser geschützten „Grundrechten“ auf Asyl und Demonstrationsfreiheit. Ebenso bedürfte es gründlich veränderter Staatsbürger- und Aufenthaltsrechte. Diese würden die Polizei entlasten und sie befreien für wichtigere d.h. grundrechtlich-demokratisch gemäßere Aufgaben.

Verfassungsreform als dauernder Kampf um Verfassungs-positionen

Dennoch, eine geschriebene Verfassung soll man nicht überschätzen. Es wäre verkehrt anzunehmen, man könne mit einem veränderten Verfassungstext eine widerborstige Wirklichkeit ummodeln. Die Vereinigung von BRD und DDR eröffnet nicht die Chance einer nachzuholenden demokratischen Revolution.

Recht verstanden geht es nicht allein um eine geschriebene Verfassung. Vielmehr oszilliert der nicht zu beendende Streit um die Interpretation der politisch-normativen Gesamtverfassung der neualten Bundesrepublik. Hierbei ist es auch um den Verfassungstext im engeren Sinne zu tun. Aber ebenso wichtig ist es, eine demokratisch-grundrechtlich korrekte Interpretation der schon bestehenden Verfassung einzufordern und für die erforderlichen „Adäquanzverhältnisse“ (Max Weber) einzutreten. Gerade im Bereich der „Inneren Sicherheit“ lassen solche dem Grundgesetz und seinen Postulaten, also den unmittelbar geltenden Menschen- und Bürgerrechten angemessenen Folgeverhältnisse zu wünschen übrig.

Darum aber muß es im dauernden „Kampf um Verfassungspositionen“ gehen. Zugleich ist darauf zu achten, daß einmal errungene Positionen nicht wieder verloren gehen. Die in diesen Jahren sich vollziehende Veränderung der Weltpolitik und die deutsch-deutsche Einigung bieten in Sachen Gewaltmonopol im Innern sowohl Chancen als auch Gefahren. Chancen in Richtung der Öffnung neuer Gestaltungsräume; Gefahren in dem Sinne, daß die neuen Räume rasch auf altherrschaftliche Weise besetzt wurden.

Gerade die Unsicherheiten, die angesichts deutsch-deutscher und internationaler Veränderungen auftreten, könnten allzu rasch repressive Konsequenzen zeitigen. Darum ist die Diskussion einer Verfassungsreform, die zugleich die Innere Sicherheit auf demokratische, grundrechtliche Stiefel stellte, so notwendig. Herr Bürger und Frau Bürgerin sollten wenigstens begreifen können, was warum in welcher Weise geschieht, ohne vorweg schon sicherheitspolitisch ins populistische Angstloch getrieben zu werden.

Wolf-Dieter Narr, Freie Universität Berlin seit 1971, Mitherausgeber von Bürgerrechte & Polizei/CILIP
1 in: „Die Zeit“ Nr. 13 vom 22. März 1991, „Ein Machtwechsel in aller Stille“
2 siehe Fußnote 1
3 vgl. Busch, Funk, Narr, Werkentin: „Nicht dem Staate, sondern den Bürgern dienen“. Gutachten zur demokratischen Neubestimmung polizeilicher Auflagen, Strukturen und Befugnisse
4 vgl. auch den jüngsten Bericht von Robert Leicht „Vom Grundgesetz zur Verfassung“, in: Die Zeit Nr. 12 vom 15.03.1991
5 „Entwurf Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik“, April 1990
6 vgl. zum Prinzipiellen Ulrich K. Preuß: Der introvertierte Rechtsstaat, Frankfurt/M. 1982; außerdem Albrecht Funk u.a.: Verrechtlichung und Verdrängung, Wiesbaden 1985
7 vgl. Art. 41-45, Entwurf

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