Wendland ohne Demonstrationsrecht – Erfahrungen aus sieben Jahren Castortransporten

von Elke Steven

Seit dem ersten Transport von hochradioaktivem Müll in das Zwischenlager Gorleben im April 1995 wird der Verlust demokratischer Grundrechte der Bevölkerung im Wendland immer neu anschaulich. Wochen vor jedem Transport beginnt ein Ausnahmezustand, der den Alltag einer ganzen Region lahm legt. Grundrechte sind aufgehoben, und die Polizei wird von vielen Bürgerinnen und Bürgern als Besatzungsmacht erlebt.

Fünfmal wurde in den letzten sieben Jahren hochradioaktiver Müll in das Zwischenlager nach Gorleben transportiert. Für AtomkraftgegnerInnen sind diese Transporte Anlass, öffentlich gegen die Produktion von Atomenergie zu protestieren und den Ausstieg aus ihr zu fordern. Dabei ist eine ihrer Protestformen die gewaltfreie Behinderung des Transportes und die Verzögerung seiner Ankunft im Zwischenlager. Diesen besorgten BürgerInnen stehen Politik und Polizei gegenüber. Die Politik hat es völlig versäumt, die Ängste und Anliegen ernst zu nehmen. Stattdessen hat sie mit den Atomkraftbetreibern – ohne die AtomkraftgegnerInnen und ihre kompetenten VertreterInnen einzubeziehen – einen sogenannten Kompromiss ausgehandelt. Der Polizei kämen in diesem Zusammenhang theoretisch zwei unterschiedliche und schwer zu verbindende Aufgaben zu: den Protest der BürgerInnen zu schützen und zugleich den Transport zu ermöglichen. Praktisch stellt sie sich immer stärker auf die Seite der Betreiber und der Transportunternehmen.

Im Laufe dieser Transport-Jahre haben sich die Eingriffsmöglichkeiten der Polizei erweitert und verändert. Immer deutlicher ist das Handeln der Polizei auf die Zerschlagung der Proteststrukturen gerichtet. Auf Seiten der BürgerInnen hat sich eine große Selbstverständlichkeit im Aufruf zu gewaltfreiem zivilen Ungehorsam entwickelt. Gleichzeitig geraten – angesichts der Behinderungen des breiten Protestes – immer stärker kleine (und manchmal geheime) Aktionen in den Vordergrund.

Kriminalisierung und Überwachung des Protestes

Von Beginn an wurde der Protest von Politik, Polizei und Verfassungsschutz kriminalisiert. Der „ehrenwerte Bürger“ sollte von einer Teilnahme am Protest abgeschreckt werden – wie der Justitiar des Landkreises vor dem Verwaltungsgericht Lüneburg eingestand.[1] Immer wieder wurde vor „den Autonomen“, dem „schwarzen Block“ und zugereisten Gewalttätern gewarnt. Hausdurchsuchungen in privaten Räumen und Strafverfahren gegen BürgerInnen, die öffentlich zu Aktionen zivilen Ungehorsams aufriefen, dienten der Abschreckung. Schon früh waren auch die Bauern Opfer dieser Strategie. Ohne letztinstanzliche richterliche Entscheidung wurden einigen 1996 die Führerscheine – und damit die Grundlage ihrer Berufsausübung – entzogen. Anschläge auf Bahnanlagen wurden in der Öffentlichkeit selbst dann AtomkraftgegnerInnen zugerechnet, wenn sie nicht von solchen ausgingen, sondern z.B. von Erpressern. Demonstrationsverbote wurden mit solchen Ereignissen begründet, obwohl Bahnanschläge, auch die Beschädigungen der Oberleitungen, eindeutig nicht aus Demonstrationen heraus geschehen.

Die Umdefinition solcher Beschädigungen von Bahn-Oberleitungen zu terroristischen Akten ermöglichte dem Landeskriminalamt (LKA) auch, gegen einen der Organisatoren des Protests ein Verfahren nach §129a StGB (terroristische Vereinigung) zu eröffnen. Gestützt auf diesen absurden Vorwurf wurden 1997 sämtliche Telefone des Anwesens, auf dem der Beschuldigte wohnt, überwacht – 4.249 Telefongespräche wurden aufgezeichnet und protokolliert. Abgehört wurden dabei vor allem AktivistInnen aus der Bürgerinitiative Umweltschutz, obwohl gegen sie selbst keine Ermittlungen liefen. Zwar sah das LKA schon im Juni 1997 die Verdachtsmomente als nicht bestätigt an, das Verfahren wurde aber erst im August 1999 eingestellt.

Im Zusammenhang mit den Protesten gegen Atommülltransporte führte die Bundesanwaltschaft Mitte 2001 noch weitere sieben Verfahren, wahrscheinlich ebenfalls nach § 129a StGB.[2] Auch die „Beobachtung“ durch den Verfassungsschutz wurde fortgesetzt. Dies lässt zumindest der niedersächsische Verfassungsschutzbericht für 2001 vermuten, der wie in den Jahren zuvor die Proteste gegen die Castor-Transporte als „linksextremistisch beeinflusst“ und als „Aktionsfeld“ der Autonomen kommentiert.[3]

Im vergangenen Jahr nutzte die Polizei im Wendland auch sogenannte IMSI-Catcher. „Die Tatsache, dass bei den Castor-Transporten im Jahr 2001 immer wieder der Telefonverkehr mit Mobilfunkgeräten für kurze Zeit zusammenbrach, (muss) als ein Indiz dafür angesehen werden, dass die Polizei … die Geräte … einsetzt, mit denen sie die Kennnummern von Handyanschlüssen orten und den Mobiltelefonverkehr stören kann.“[4] Eine gesetzliche Grundlage für die Nutzung des IMSI-Catchers im Strafverfahren verabschiedete der Bundestag erst am 17. Mai dieses Jahres. Selbst nach dem neuen §100i StPO wäre der Einsatz jedoch nicht zu rechtfertigen gewesen.[5]

Die Überwachungen aller Demonstrationen per Videokameras sind bereits alltäglich geworden. Die Sammlung von Daten potentieller KritikerInnen und DemonstrationsteilnehmerInnen geht jedoch erheblich weiter. Bereits Platzverweise und Ingewahrsamnahmen können seit November 2000 zur Aufnahme in die Datei „Gewalttäter Links (LIMO)“ beim Bundeskriminalamt (BKA) führen. Die Betroffenen erfahren davon nichts und haben keine Möglichkeiten, eine gerichtliche Überprüfung der Speicherung einzuleiten. Auch Freisprüche und Einstellungen von Verfahren führen nicht zur Löschung. Allerdings werden auf dieser Grundlage Meldeauflagen erlassen und Ausreiseverbote erteilt.[6] Im April 2002 bestätigte das BKA, zur „vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten“ eine „Anti-Atomkraft- und Anti-Castor-Datei“ zu führen, deren Inhalte meist von den Landespolizeien geliefert würden. In einem konkreten Fall reichte bereits die Anmeldung eines Infostandes für die Speicherung.[7]

Demonstrationsverbote per Allgemeinverfügung

Vor dem ersten „Castor“-Transport 1995 erließ der Landkreis Lüchow-Dannenberg ein zeitlich und räumlich ausgedehntes Demonstrationsverbot per Allgemeinverfügung. Der allgemeine Verdacht gegen alle BürgerInnen, die gegen den Transport zu demonstrieren vorhatten, bestimmte die Allgemeinverfügung – keineswegs konkrete und plausible Hinweise auf Gefahren. Dagegen legte die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg (BI) Klage ein und erhielt ein gutes Jahr später – während des zweiten Transportes – vom Verwaltungsgericht Lüneburg Recht. Das Gericht erachtete das Verbot als zu ausgedehnt und nicht ausreichend begründet. In einer Eilentscheidung lockerte das Verwaltungsgericht das schon erlassene Demonstrationsverbot während des laufenden Transportes. Es kritisierte erneut, die Begründungen seien nicht stichhaltig, die zeitliche Ausdehnung willkürlich und nicht rechtmäßig. Das Oberverwaltungsgericht (OVG) nahm dieses Urteil zwar teilweise zurück, hielt aber fest, dass ein pauschales Demonstrationsverbot nicht rechtmäßig sei und über jede angemeldete Demonstration eigens entschieden werden müsse. Die Verbote gingen trotzdem weiter.

Ab 1997 weigerten sich die zuständigen Landkreise, die Demonstrationen zu untersagen, der Widerstand gegen die Atompolitik hatte hier auch in den politischen Gremien Fuß gefasst. Seitdem zieht die Bezirksregierung die Kompetenzen an sich und erlässt per Allgemeinverfügungen Demonstrationsverbote. Mit etwas differenzierteren Begründungen und durch die Vermeidung pauschaler Verbote schaffte sie es 1997, dass ihre Verfügungen vor Gericht Bestand hatten. Damit begann jedoch eine Entwicklung, die den Ermessensspielraum der polizeilichen Einsatzleitungen ausdehnte. Bei diesem Transport und mehr noch bei denen des Jahres 2001 ging die Rechtssicherheit für die DemonstrationsteilnehmerInnen weitgehend verloren. Die Polizei erhielt eine allgemeine Handlungsermächtigung und handelte nach dem Opportunitätsprinzip.

Hinzu kommt, dass die Klagemöglichkeiten gegen die behördlichen Verfügungen faktisch eingeschränkt und behindert werden, indem die Polizei eine Demonstration erst kurz vor dem angemeldeten Zeitpunkt verbietet oder unzumutbare Auflagen erlässt. Dieses Vorgehen wurde insbesondere im November 2001 deutlich. Der Instanzenweg kann dann nicht mehr ausgeschöpft werden. Gerichte sehen sich in der kurzen verbleibenden Frist nicht in der Lage, die Gefahrenprognose einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Und den BürgerInnen bleibt keine Zeit zur Richtigstellung der Behauptungen der Versammlungsbehörde. Auf diese Weise lässt sich die Rechtswegegarantie aushebeln – und das Recht auf Versammlungsfreiheit gleich mit.

Zwar wurden nun nicht mehr sämtliche Proteste verboten, die Entscheidungen über die einzelnen Demonstrationen führten aber zur weiteren Abschreckung und Einschüchterung. Immer wieder wurden und werden AnmelderInnen Regelverstöße in der Vergangenheit fast grenzenlos zugerechnet. Wer anmeldet, soll darüber hinaus eine Garantie übernehmen, dass keine Störungen irgendwelcher Art stattfinden.[8]

Novellierung des Polizeirechts und Aufenthaltsverbote

1996, während des zweiten Castortransportes, novellierte der Landtag das Niedersächsische Gefahrenabwehrgesetz. Begründet wurde dies vorrangig mit den Erfahrungen während der „Chaostage“ in Hannover. Die AtomkraftgegnerInnen befürchteten zu Recht, dass durch diese „Novelle rückwärts“ auch ihre Rechte geschmälert würden.

Die Polizei erhielt damit u.a. die Befugnis, Aufenthaltsverbote zu verhängen, die sie fortan ausgiebig genutzt hat. Im November 2001 wurden insgesamt 460 Aufenthaltsverbote ausgesprochen. Praktische Voraussetzung dafür waren Demonstrations- und Campverbote: Schlafsack, Zelt, Campingkocher in Auto oder Rucksack konnten für Aufenthaltsverbote ausreichen. Bei denen, die gegen Aufenthaltsverbote verstoßen – sei es, weil sie an ihrem Recht, sich mit anderen zu versammeln, festhalten, oder weil sie gar nicht wissen, wo sie sich sonst hinbegeben könnten – riskieren, in Gewahrsam genommen zu werden.

Campverbote

Nach dem von Gesamteinsatzleiter Hans Reime Anfang 2001 verkündeten Motto „teile und herrsche“ wurden im Jahr 2001 fast alle Camps auch jenseits der Demonstrationsverbotszone untersagt. Auf privaten Wiesen durften trotz Zustimmung der Besitzer keine Camps errichtet werden. Die akribischen Begründungen der Campverbote verwiesen auf untergeordnete Gesetze, Regelungen der Bauordnung und dergleichen; in Tat und Wahrheit ging es darum, die Proteste zu unterbinden. Denn schließlich kann die Versammlungsfreiheit angesichts der mehrtägigen Proteste in einem dünn besiedelten und weiträumigen Bereich nur wahrgenommen werden, wenn es Möglichkeiten zur Übernachtung und Befriedigung von Grundbedürfnissen gibt.

Auch in diesem Fall wurden Zuständigkeiten zentralisiert. Da die zuständigen Landkreise zumindest außerhalb der Demonstrationsverbotszone Camps zugelassen hätten, zog die Bezirksregierung Lüneburg die Befugnis zu Einzelfallentscheidungen an sich und „entmachtete“ den zuständigen Landrat. Klare Regelungen wurden nicht erlassen, gehandelt wurde nach dem Opportunitätsprinzip. Zwar konnten in einigen Fällen Dauermahnwachen oder Dauerkundgebungen mit Versorgungsstruktur ausgehandelt werden. Wenn es der Polizei opportun erschien, wurden als Dauermahnwachen titulierte Camps aber doch geräumt.

Ingewahrsamnahmen

„Ingewahrsamnahmen“ bieten der Polizei die Möglichkeit, BürgerInnen in großer Zahl während der „heißen“ Transportphase festzusetzen. Im März 2001 landeten rund 1.400 Personen in polizeilichem Gewahrsam,[9] während der Proteste im November 2001 waren es 780. In vielen Fällen dauerte die Freiheitsentziehung länger als acht Stunden.

Vor der Novellierung des Gefahrenabwehrgesetzes mussten alle Gewahrsamnahmen, die diese Dauer überschritten, zwingend richterlich überprüft werden. Seit der Änderung des Gesetzes geschieht dies nur noch selten. Im November 2001 entschieden RichterInnen in gerade 100 Fällen; bis auf vier Personen mussten alle sofort freigelassen werden. Nachträgliche Klagen gegen solche Ingewahrsamnahmen sind zwar vom Gesetz vorgesehen, finden aber nur in seltenen Fällen richterliches Gehör. Viele Klagen verliefen im Sande, weil Gerichte die Zuständigkeiten oder besser Unzuständigkeiten zwischen sich hin und her schoben. Der Beschwerde eines Sprechers einer gewaltfreien Aktion gegen seine langfristige Ingewahrsamnahme im März 2001 wurde jedoch stattgegeben. Im November 2001 wurde er erneut in Gewahrsam genommen, diesmal allerdings „nur“ wenige Stunden. Nach dem Castor-Transport in das nordrhein-westfälische Ahaus (1998) ist gleich in mehreren Fällen die Rechtswidrigkeit dieser Maßnahmen gerichtlich festgestellt worden.

Diese massenweisen Festnahmen führen zu einer großen Zahl von Ermittlungsverfahren (und Datenspeicherungen), jedoch nur selten zu Verurteilungen. Häufig werden nur Bußgelder wegen Ordnungswidrigkeiten – etwa in Höhe von 20,– DM – festgesetzt. „1995 kam es nach 113 Festnahmen zu insgesamt acht Strafverfahren. Dieselben endeten mit drei Freisprüchen, drei Einstellungen und einer Verurteilung wegen Beleidigung eines Polizeibeamten durch die Frage ‚Sind Sie verrückt?‘“.[10] Auch die Aktivisten von Robin Wood, die im März 2001 durch ihr Anketten am Gleis den Castortransport zum Rückzug zwangen, wurden in erster Instanz nicht, wie von der Staatsanwaltschaft beantragt, wegen Nötigung verurteilt, sondern „nur“ wegen „Störung öffentlicher Betriebe“, allerdings zu 525,– EUR.[11]

Manchmal kommt es auch zu Verfahren gegen Polizeibeamte – wegen Falschaussagen (in den Verfahren von 1995[12]), Absprache von Falschaussagen und Meineid (anlässlich der Transporte im März 2001 in zwei Fällen), aber auch wegen Körperverletzung (1995). Allerdings verlaufen die meisten Klagen gegen Polizeibeamte im Sande, weil der Täter nicht ermittelt werden kann – Polizeibeamte nennen fast nie ihre Namen oder ihre Dienstnummern auf Nachfrage –, oder weil es schon der Staatsanwaltschaft an aussagekräftigen Beweisen mangelt.

Elke Steven ist Sekretärin des Komitees für Grundrechte und Demokratie in Köln.
[1] vgl. Komitee für Grundrechte und Demokratie: Zweiter Castor-Transport nach Gorleben – Der Atomstaat zeigt seine Gewalt, Köln 1996
[2] vgl. Harms, R.: Selbst die Kinder wurden abgehört – Aushorchung der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg auf krummen Wegen, in: Müller-Heidelberg, T. u.a. (Hg.): Grundrechte-Report 2002, Reinbek 2002, S. 155-158 (158)
[3] Niedersächsisches Innenministerium: Verfassungsschutzbericht 2001, Hannover 2002, S. 93-98
[4] Harms a.a.O. (Fn. 2), S. 158
[5] siehe auf S. 83 f. dieses Heftes
[6] vgl. Steven, E.: Deutschland ist kein Ausreiseland, in: Forum Wissenschaft 2001, H. 4, S. 68 f.; vgl. auch: Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hg.): Castor-Transport im März 2001 – Die Kontinuität undemokratischer Politik und systematischen Missbrauchs der Polizei, Köln 2001
[7] vgl. taz v. 23.4.2002
[8] vgl. Komitee für Grundrechte und Demokratie: Petition an den niedersächsischen Landtag: „Für den uneingeschränkten Erhalt des Demonstrationsrechts (Art. 8 Grundgesetz)“, Köln 2002
[9] vgl.: Donat, U.: Sonderrechtszone Gorleben: Schlafen verboten, in: Müller-Heidelberg u.a. a.a.O. (Fn. 2), S. 123-129
[10] Komitee für Grundrechte und Demokratie: Der starke Staat zeigt seine politisch-demokratische Schwäche. Dritter Castor-Transport nach Gorleben, Köln 1997, S. 28
[11] vgl. taz v. 23.5.2002
[12] Komitee für Grundrechte und Demokratie a.a.O. (Fn. 10), S. 28