von Heiner Busch
Das Versammlungsgesetz, autoritäre Traditionsbestände im Strafrecht und flexible Regelungen des „modernen“ Polizeirechts bewirkten seit Gründung der Bundesrepublik, dass die Versammlungsfreiheit nicht grenzenlos wurde.
Mutig waren sie nicht, die Väter und wenigen Mütter des Grundgesetzes (GG). Sie verankerten zwar in Art. 8 Abs. 1 GG das Recht aller Deutschen, „sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“, sorgten jedoch in Abs. 2 dafür, dass das Grundrecht „für Versammlungen unter freiem Himmel … durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden“ kann. Die Formulierung der Versammlungsfreiheit ist halbgar, diktiert von der Angst vor dem Volk – ein „typisches Kompromissprodukt der deutschen Verfassungsgeschichte“, in der einer Opposition außerhalb der verstaatlichten Formen immer polizeiliche Grenzen gesetzt wurden. „Der Gesetzesvorbehalt in Art. 8 Abs. 2 GG, der seine Schranke erst in der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG findet, war das gesetzestechnische Einfallstor, mit dem an staatsautoritäre Traditionsbestände reibungslos angeknüpft werden konnte.“[1]Wie offen dieses Tor stand, zeigte sich im Versammlungsgesetz (VersG), dessen erste Fassung 1953 verabschiedet wurde.[2] Das Recht, „öffentliche Versammlungen und Aufzüge zu veranstalten“ oder an ihnen teilzunehmen, gilt nach § 1 VersG bis heute weder für Personen, denen die Grundrechte abgesprochen wurden, noch für verbotene Vereinigungen und Parteien und auch nicht für diejenigen, die mit „einer solchen Veranstaltung die Ziele einer … für verfassungswidrig erklärten Partei oder Teil- oder Ersatzorganisation fördern“ wollen.
Von einem Recht, sich „ohne Anmeldung und Erlaubnis“ zu versammeln, konnte (und kann) nach dem Versammlungsgesetz nicht die Rede sein. Versammlungen unter freiem Himmel und Demonstrationen müssen 48 Stunden vorher angemeldet sein. Sie können verboten werden, wenn den Behörden resp. der Polizei die öffentliche Sicherheit oder Ordnung „unmittelbar gefährdet“ erscheint. Sie können aufgelöst werden, wenn sie nicht angemeldet sind, vorboten wurden oder wenn gegen Auflagen verstoßen wurde. Nach § 26 der alten Fassung des Gesetzes konnten Veranstalter oder Leiter, die den Verbots- oder Auflösungsanordnungen nicht gehorchten oder eine unangemeldete Versammlung durchführten, mit bis zu einem halben Jahr Gefängnis bestraft werden. Auch TeilnehmerInnen drohten Haft oder Geldstrafen (§ 29 a.F.).
Der dem Gesetz zu Grunde liegende autoritäre Versammlungs- und Demonstrationsbegriff („Aufzug“) kommt deutlich in der Figur des Leiters zum Ausdruck, der „den Ablauf der Versammlung bestimmt (und) die Versammlung jederzeit unterbrechen oder schließen kann … Er kann ehrenamtliche Ordner bestellen und ist verpflichtet, falls er sich nicht durchsetzen kann, die Demonstration für beendet zu erklären. Für den einzelnen Teilnehmer gilt, dass er aus der Versammlung ausgeschlossen werden kann und sie dann ‚sofort zu verlassen‘ hat …“.[3] Auch den Linken schien eine Demonstration undenkbar, die nicht straff durch die Funktionäre einer Partei oder Gewerkschaft organisiert, sondern in erster Linie durch die eigenen Köpfe der Teilnehmenden bestimmt ist. „Die Grundtendenz dieses Gesetzes, Sauberkeit und Ordnung miteinander für das Versammlungsleben zu paaren,“ sei, so der SPD-Abgeordnete Werner Jacobi 1950 im Bundestag, zu bejahen. Niemandem drohten Gefahren, wenn er „sich in eine saubere politische Praxis einordnet und Versammlungen und Umzüge in einer Form durchführt, wie das unter anständigen politischen Menschen üblich ist.“[4]
Seitdem sich die BRD Ende der 60er Jahre demonstrierend zu bewegen begann, war es mit dem „Anstand“ vorbei. Weder Großdemonstrationen noch die neuen kleineren Aktionsformen – von der Blockade bis zur Haus- und Platzbesetzung – entsprechen dem vom Gesetz vorgegebenen Schema der straff organisierten Kundgebungen oder Aufzüge.
Amnestie und Liberalisierung 1970
Mit den Demonstrationen der Studentenbewegung erhielten nicht nur die Strafbestimmungen des Versammlungsgesetzes, sondern vor allem die seit 1871 erhalten gebliebenen Bestimmungen des sechsten und siebten Abschnitts des Strafgesetzbuchs (Widerstand gegen die Staatsgewalt – §§ 110 ff., Verbrechen und Vergehen gegen die öffentliche Ordnung – §§ 123 ff.) eine zentrale Bedeutung.
Wer sich nach dreimaliger Aufforderung nicht aus einer Menschenmenge entfernte, konnte wegen Auflaufs (§ 116) zu drei Monaten Gefängnis verurteilt werden. Wer sich in einem solchen Auflauf den Polizeibeamten „mit vereinten Kräften tätlich“ widersetzte, erfüllte den Tatbestand des „aufrührerischen Auflaufs“. Auch auf eine passive Teilnahme an einer „Zusammenrottung“, in der den Beamten mit Gewalt oder Drohung mit Gewalt Widerstand geleistet wurde, stand eine Gefängnisstrafe „nicht unter sechs Monaten“ (Aufruhr, § 115). Mit dieser gestaffelten Folge von Strafbestimmungen besaß die Exekutive ein Instrumentarium, das bei Versammlungen und Aufzügen jede Gehorsamsverweigerung des Bürgers unter Strafe stellte. Der Landfriedensbruch (§ 125) hatte in diesem System eine ergänzende Bedeutung: Auch er bedrohte alle passiv Anwesenden – nach der Aufforderung, sich aus der Menge zu entfernen –, wenn aus ihr heraus Gewalt gegen Sachen oder Personen begangen wurden. Richteten sich die Angriffe gegen Polizeibeamte, so war gleichzeitig der Tatbestand des Widerstandes (§ 113) erfüllt.
Die Amnestie von 1970, von der rund 6.000 Personen betroffen waren, sowie die Liberalisierung des Demonstrationsstrafrechts gehören zu den wenigen großen Leistungen der sozialliberalen Koalition.[5] Der Aufruhrparagraf wurde ganz gestrichen, der Auflauf zu einer Ordnungswidrigkeit der Teilnahme an einer unerlaubten Versammlung herabgestuft (§ 29 Abs. 1 Nrn. 1-3 VersG) und der Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte enger gefasst. Für eine Verurteilung wegen Landfriedensbruch oder dem neuen „schweren Landfriedensbruch“ (§ 125a) musste nun die aktive Ausübung von Gewalt nachgewiesen werden. Die bloße Teilnahme an einer Menschenmenge reichte nicht mehr aus.
Landfriedensbruch und Vermummungsverbot
Bei der rechtlichen Entspannung von 1970 sollte es jedoch nicht bleiben. Der Landfriedensbruch wurde ab den 70er Jahren zum Dreh- und Angelpunkt des Demonstrationsstrafrechts. Da eine Verurteilung nach dem Motto „mitgefangen – mitgehangen“ nicht mehr möglich war, drehte sich die Rechtsprechung zum einen um die Frage, ob einE AngeklagteR tatsächlich Gewalt ausgeübt hatte. Die Aussagen polizeilicher ZeugInnen wurden nunmehr von entscheidender Bedeutung, um so mehr als auch die Strafen bei den – verglichen zu vor 1970 – selteneren Verurteilungen höher ausfielen. Zum anderen erfuhr der Gewaltbegriff in der Folge eine fast inflationäre Ausdehnung.
Auf der politischen Ebene scheiterte die konservative Opposition 1974, 1977 und 1981 mit Versuchen, den Landfriedensbruch in seiner alten Fassung wieder herzustellen. Immerhin erreichte sie 1978, dass das Waffenverbot in § 2 Abs. 3 VersG auf Gegenstände ausgedehnt wurde, „die ihrer Art nach zur Verletzung von Personen oder zur Beschädigung von Sachen geeignet und bestimmt sind.“[6] Schon auf das Mitführen solcher Gegenstände auf dem Weg zur Demonstration steht seitdem eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe.
Mit dem Ende der sozialliberalen Koalition 1982 begann auch bei der FDP der Damm, der bis dahin größere Veränderungen des Demonstrationsrechts verhindert hatte, zu bröckeln. 1985 verabschiedete der Bundestag das Verbot der „Vermummung“ und „Schutzbewaffnung“ im VersG. Bis zu diesem Zeitpunkt waren „Vermummungsverbote“ regelmäßig als administrative Auflagen für Demonstrationen erteilt worden, nun wurden Helme und Schals zu Ordnungswidrigkeiten (§§ 17a, 29 Abs. 1 Nrn. 1a und b). Nach dem mit demselben Paket geänderten Landfriedensbruch-Paragrafen (§ 125 Abs. 2 StGB) wurde die „Vermummung“ dagegen eine Straftat sein, sofern sich die Betreffenden in einer „gewalttätigen Menschenmenge“ aufhalten und die Polizei zum Auseinandergehen aufgefordert hatte.[7]
1989 erfolgte in einem Artikelgesetz, das u.a. auch die Kronzeugenregelung enthielt, die nächste Verschärfung des Demonstrationsrechts: „Vermummung“ und „Schutzbewaffnung“ wurden nun generell zu Straftaten hochgestuft (§§ 17a, 27 Abs. 2 VersG). Das Verbot galt nun nicht nur bei Demonstrationen selbst, sondern auch auf Anfahrtswegen. Auch der fast vergessen geglaubte Begriff der „Zusammenrottung“ – „im Anschluss oder sonst im Zusammenhang mit derartigen Veranstaltungen“ – stand wieder von den Toten auf.[8]
Wieder eingeführt wurde zusätzlich der 1970 abgeschaffte Straftatbestand der öffentlichen Aufforderung zur Teilnahme an einer verbotenen oder aufgelösten Versammlung (§ 23 VersG) sowie die Befugnis zu Bild- und Tonaufzeichnungen bei öffentlichen Versammlungen, „wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass von ihnen erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen“ (§ 12a VersG). Der schwere Landfriedensbruch fand Aufnahme in die Liste der Delikte, die nach § 112 der Strafprozessordnung die Verhängung von U-Haft wegen Wiederholungsgefahr ermöglichen.
Flexibles Polizeirecht
Das strafbewehrte Vermummungsverbot kritisierte die SPD 1989 u.a. mit dem Argument, es sei nicht praktikabel. Das Legalitätsprinzip zwinge die Polizei zur Verfolgung aller Straftaten und damit auch zur Auflösung oder zum gewaltsamen Einschreiten gegen alle Vermummten in einer Demonstration. Das Argument war falsch, denn das polizeirechtliche Opportunitätsprinzip erlaubt es der Polizei durchaus, auf eine solche Provokation zu verzichten. Die Novellierung engte deshalb keineswegs die polizeiliche „Handlungsfreiheit“ bei Demonstrationen ein, sondern verschärfte lediglich die Strafandrohung und erhöhte damit die einschüchternde Wirkung auf die Demonstrierenden. Im Vergleich zu den Strafbestimmungen aus der Zeit vor 1970 ist das neue Instrumentarium keineswegs weniger autoritär, aber es ist flexibler. Es entspricht damit den seit den 70er Jahren flexibilisierten polizeilichen Einsatzkonzepten gegen politischen und sozialen Protest.
So war die Befugnis zu „Bild- und Tonaufzeichnungen bei öffentlichen Versammlungen“ in einigen Bundesländern bereits Gegenstand von Polizeigesetzänderungen, bevor sie im Versammlungsgesetz festgeschrieben wurde. Die Ausdehnung des Vermummungsverbots auf Anfahrtswegen stellt eine zusätzliche Legitimation für Identitätskontrollen und Durchsuchungen weit im Vorfeld von Demonstrationen dar. Ergänzt wird dieses Neben-Polizeirecht durch Befugnisse in den Polizeigesetzen selbst, die zum Teil eigens für den Umgang mit Demonstrationen geschaffen wurden. Zu nennen sind hier nicht nur die Kontrollstellenparagrafen, die seit der ersten Fassung des „Musterentwurfs eines einheitlichen Polizeigesetzes“ von 1975 Eingang in die Landespolizeigesetze fanden, sondern auch die Bestimmungen über den „Unterbindungsgewahrsam“ bzw. die „vorbeugende Festnahme“, Aufenthaltsverbote oder die finanzielle Keule, mit denen Kosten des Polizeieinsatzes auf DemonstrantInnen abgewälzt werden sollen („Heranziehungsbescheide“).
Es bleibt abzuwarten, ob die CDU/CSU im Falle eines Wahlsieges im September die Vorstöße zur erneuten Verschärfung des Versammlungsgesetzes durchsetzt, die sie in der zu Ende gehenden Legislaturperiode eingebracht hat.[9] Erweiterte Möglichkeiten des Demonstrationsverbots – zum Schutz der „Würde von Orten“ oder im Interesse (außenpolitischer) Belange der Bundesrepublik Deutschland – mögen zwar mit der „Bekämpfung“ neonazistischer Aufmärsche gerechtfertigt werden; sicher ist jedoch, dass sie die Versammlungsfreiheit generell noch weiter ins Belieben von Polizei und Exekutive rücken, als das ohnehin schon der Fall ist.