Den 1. Mai in Berlin neu denken – Ein erfolgreiches Scheitern und ein Lernprozess

von Peter Grottian

Die Fixierung auf die Gewaltfrage zum 1. Mai in Berlin-Kreuzberg ist inzwischen zur Gewohnheit geworden. Einen Ausweg aus dieser Falle zu suchen, einen politischen und polizeifreien 1. Mai zu gestalten, das war das Ziel, das sich ein Personenbündnis in diesem Jahr gesetzt hatte.

Noch Ende der 80er Jahre interpretierte man die Auseinandersetzungen zwischen der Staatsmacht und zumeist Vertretern der autonomen Szene als Ausdruck stadtpolitischer und sozialer Proteste, sogar als Angriff auf die Strukturen des kapitalistischen Systems. In den 90er Jahren standen selbst diejenigen ratlos da, die noch am ehesten für regelverletzende, kapitalismuskritische Interventionen als Jugend- und Systemprotest Sympathien hegten, aber mit dem ritualisierten, inhaltsleeren, inhaltsversteckenden Protest nichts mehr anzufangen wussten. Das ermutigte den CDU-Innensenator Eckart Werthebach in den Jahren 2000 und 2001 einen systematischen Aufheizungsprozess weit vor dem 1. Mai zu inszenieren und das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit erheblich einzuschränken. Eine polizeiliche Einkesselungs- und Zerstörungsstrategie des Mariannenplatz-Festes führte zu den sattsam bekannten Schuldzuweisungen von beiden Seiten, wobei das demonstrationsbeobachtende Komitee für Grundrechte und Demokratie die Dynamik der Eskalation sehr eindeutig der Politik und der Polizei anlastete.

Der übermächtigen Angst vor einem anderen 1. Mai, die besonders auf Seiten der Polizei und der linksradikalen und autonomen Szene zu spüren war, versuchte das sogenannte „Denk-Mai-Neu-Personenbünd­nis“ entgegenzutreten. Es wurde von Vertretern des Komitees für Grundrechte im September 2001 initiiert und umfasste bei seiner Gründung Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen, Gewerbetreibende, Gewerk­schaftler, Kiez-Gruppen, Migrantenprojekte, Jugendorganisationen, autonome Gruppen, Vertreter von PDS und Bündnis 90/Die Grünen u.a. Auf vier Ziele einigten sie sich im Dezember 2001: Politisierung des 1. Mai und Selbstverständigung über brisante gesellschaftspolitische Themen (Krieg, Armut, Arbeitslosigkeit, Stadtpolitik); Mobilisierung von 40.000–60.000 BerlinerInnen für politische und kulturelle Veranstaltungen; „freundliche Besetzung“ des Kreuzberger „Kampfareals“, um politisch-kulturelle Räume zu öffnen und Menschen zusammenzuführen; polizeifreies Berlin-Kreuzberg und Minimierung von Gewalt.

Der Polizei ein „polizeifreies Kreuzberg“ zuzumuten, schien ebenso unrealistisch und wenig erfolgversprechend wie eine offene Politisierung brisantester gesellschaftlicher Themen. Auch war fraglich, ob sich die oft gewaltgierigen Medien auf die friedlichen Konzepte einlassen oder lieber auf brennende Autos als Aufmacher von Boulevardzeitungen hoffen würden. Ebenso stellte das Projekt eine Provokation für den rot-roten Senat dar. Das galt sowohl für SPD-Innensenator Ehrhart Körting, der die Linie seines CDU-Vorgängers Werthebach auf keinen Fall fortsetzen wollte, einem neuen Konzept jedoch unsicher gegenüber stand, als auch für die PDS, die zwar von einer anderen politischen Kultur redete, aber zivilgesellschaftlichen Lösungen misstraute. Schließlich war ungewiss, wie die Öffentlichkeit auf das Projekt reagieren würde. Trotz der erwartbaren Schwierigkeiten bestand jedoch die Hoffnung, dass es gelänge, den 1. Mai zu repolitisieren, ihn zu einem geradezu modellhaften Protesttyp werden zu lassen.

Inzwischen ist das Projekt für einen politischen und polizeifreien 1. Mai 2002 gewissermaßen „erfolgreich“ gescheitert. Gemeint ist damit, dass die angestrebten Ziele zwar nicht erreicht werden konnten, aber festgefahrene Denk- und Handlungsmuster in Bewegung geraten sind.

Verhandlungen mit Senat und Polizei

Die Verhandlungen mit dem Innensenator verliefen zunächst vielversprechend. Er bewegte sich überraschend auf das vom Personenbündnis unterbreitete Konzept zu und signalisierte mehrfach öffentlich, nicht auf die Aufheizpolitik seines Vorgängers im Vorfeld des 1. Mai zu setzen. Körting und sein Staatssekretär Lutz Diwell konnten die Polizei dazu bewegen, das alternative 1. Mai-Konzept, das sie anfangs eindeutig ablehnte, ernsthaft zu prüfen. Die Verhandlungen mit der Polizei verliefen zunächst ausgesprochen schwierig. Vor allem die Forderung nach einem „polizeifreien Kreuzberg“ wurde als Provokation eingestuft. Der politische Druck auf die Polizei als auch ein rasch einsetzender Lernprozess, das Unmögliche doch denken zu wollen, führte zur Konkretisierung dessen, was „polizeifreie Zone“ bedeuten könnte. Danach sollte sich die Präsenz der Polizei nur auf Normalsituationen beschränken: die betreffenden Polizeifahrzeuge wären mit zwei Beamten in normaler Dienstkleidung besetzt gewesen. Kurz: Komplette Abwesenheit der Polizei außer in vielleicht zwölf bis fünfzehn Notfällen.

Trotz dieser überraschenden Einigung konnte oder wollte sich Senator Körting nicht auf die kleine Revolution einlassen. Er überließ in einem Offenen Brief die Deutungs- und Einsatzmacht allein der Polizei. Dies bedeutete einen erheblichen Rückfall hinter die erreichten Verhandlungspositionen. Bei den Motiven des Senators sind wir auf plausible Vermutungen angewiesen. Vieles spricht dafür, dass ihn seine anfänglich beeindruckende Courage verlassen hat – zum Teil und aus seiner Sicht aus nachvollziehbaren Gründen. Die Polizeiführung stand nicht geschlossen hinter dem Konzept, das mit dem Personenbündnis ausgehandelt war, und ließ durchblicken, dass sie nicht gewillt sei, in der Öffentlichkeit erneut den „schwarzen Peter“ zugespielt zu bekommen. Hinzu kam politischer Druck aus der SPD (vor allem der SPD-Kreuzberg), die das Risiko des neuen Konzepts hoch veranschlagte. Schließlich war dem Senator nicht verborgen geblieben, dass das Personenbündnis mit seiner politischen Mobilisierung in erhebliche Auseinandersetzungen mit der autonomen Szene geraten war. Der Senator fürchtete, das Bündnis könnte seine selbst gesetzte Aufgabe nicht erfüllen. Die PDS wollte vor allem keine „vorgeführte“ rot-rote Koalition am 1. Mai und riet dem Personenbündnis, sich eher auf das Konzept von Körting einzulassen. Die Partei wollte keinen beschädigten Innensenator und hatte in das zivilgesellschaftliche Konzept des Personenbündnisses nur mäßiges Vertrauen. Kurz: Das konnte das Personenbündnis nicht akzeptieren und erklärte das Konzept an diesem Punkt für gescheitert.

Aber es gab auch andere Gründe dafür, warum man das Projekt als „erfolgreich“ gescheitert bezeichnen kann. Erfreulich ist zunächst, dass Öffentlichkeit und Medien das Anliegen des Personenbündnisses ausführlich und ernsthaft diskutierten. Schon Ende Januar/Anfang Februar 2002 setzte eine Pro- und Contra-Debatte auf beachtlichem Niveau ein. Die bekannte Polarisierung – hier die linken und linksliberalen Medien (Frankfurter Rundschau, taz, Junge Welt, ND, Freitag) und dort die Springer-Presse (Morgenpost, B.Z., BILD) und mittendrin Berliner Zeitung, Tagesspiegel, SZ, FAZ – wurde ohne jede sterile Aufgeregtheit vermieden. Nur ein einziger BILD-Artikel erschien, der die Klischees des Steine werfenden Chaoten bediente. Das alles war nur möglich, weil das Personenbündnis weit vor dem 1. Mai eine alternative Themenagenda gesetzt hatte und alle sich auf dieses Konzept beziehen mussten. Erst kurz vor dem 1. Mai und nach dem Ausstieg des Personenbündnisses wurden erneut – allerdings weniger aufgeregt als in den Vorjahren – die traditionellen 1. Mai-Reflexe bedient.

Schwierigkeiten mit der Szene

Der Versuch, den 1. Mai neu zu denken, scheiterte aber auch an den Konflikten zwischen dem Personenbündnis und der autonomen Szene. Verschiedene autonome, kommunistische und linksradikale Gruppen denunzierten das Projekt als plumpe Befriedungsstrategie. Hier rächte sich, dass die Vordiskussionen zunächst nur schleppend vorangekommen waren. Die dem Personenbündnis zugehörige Antifaschistische Aktion (AAB), die den größten Demonstrationszulauf in den letzten Jahren zu verzeichnen hatte, konnte andere wichtige autonome und kiezbezogene Gruppierungen nicht vom Konzept des neuen 1. Mai überzeugen. Die Diskussion fand im Prinzip nicht statt – schnell regierte die Angst, man bekomme ein Konzept übergestülpt. Höhepunkt der Auseinandersetzungen war eine Veranstaltung in der Emmaus-Kirche am 20. März 2002, auf der die Gegner des Projekts eine inhaltliche Auseinandersetzung nicht zuließen – nachdem sie wenige Tage vorher meinen PKW abgefackelt hatten.

Die Botschaft war eindeutig: Die Kritiker wollten keinen neuen 1. Mai. Der Streit um die Demonstrationsrouten zeigte die heillose Zerstrittenheit und Politikunfähigkeit. Dabei traten ebenso die eigenen Schwächen des Personenbündnisses zu Tage. Es fehlte eine innere Überzeugungsdynamik, die notwendig gewesen wäre, um diese Kontroversen erfolgreich zu bewältigen. Das Personenbündnis konnte eine Massenmobilisierung nicht erreichen. Trotzdem, noch nie wurde vor dem 1. Mai eine politische Debatte derartig vehement, konzeptbezogen und inhaltlich geführt. Noch nie stand das für die Linke wichtige Ziel einer polizeifreien Zone so knapp vor der Durchsetzung. Und noch nie zuvor wurden öffentlich und ernsthaft Alternativen zum herkömmlichen 1. Mai diskutiert. So wurden Bedingungen für den 1. Mai geschaffen, die nicht folgenlos blieben.

So gesehen ist der 1. Mai 2002 in Berlin-Kreuzberg auch zivilgesellschaftlich erfolgreicher als in den letzten Jahren geworden. Das Demonstrationsrecht konnte entgegen der letzten Jahre ausgeübt werden, wenn auch die Demonstrationsrouten – keine Demonstration in der Nähe des Auswärtigen Amts etc. – problematisch sind. Abgesehen vom Ende der sog. 18-Uhr-Demonstration, deren Route die Polizei umlegte, verliefen alle Demonstrationen friedlich.

Rückläufig – gegenüber den früheren Jahren – war zum einen die von der Polizei gemeldete Zahl von 27 schwer verletzten Beamten. Andererseits berichtete auch der szene-nahe Ermittlungsausschuss von nur wenigen Polizeiübergriffen. Die Gewaltdynamik war erstmals eindeutig: Den wenigen Übergriffen der Polizei waren politisch-inhaltlich völlig diffuse gewaltsame Aktionen junger Protestler vorausgegangen. Diese Eindeutigkeit war indessen nur erreichbar, weil die Polizei erkennbar nicht auf Eskalation setzte, im Gegenteil eine Defensivität vorführte, die ihr auch von Seiten der Bürgerrechtsorganisationen Beifall einbrachte, die sonst zu den schärfsten Kritikern der Polizei gehörten.

Die einzige Partei, die den 1.-Mai-Verlauf scharf kritisierte, war die CDU. Die Medienberichterstattung war insgesamt sachlich, nur die Springer-Zeitungen (B.Z., BILD, Morgenpost) malten zumindest zunächst die schlimmsten Kreuzberg-Exzesse an die Wand. Diese Berichterstattung relativierte sich wenige Tage später.

Es steht in den Sternen, ob der Mai 2003 erneut zu einem zivilgesellschaftlich-politischen Projekt werden kann – mit besseren Durchsetzungschancen. Es ist als Vorphase dafür wichtig, ob die Linke in Berlin ein konsensfähiges Projekt hat, das sie inhaltlich bindet und mehr integriert. Die „Initiative Berliner Bankenskandal“ scheint ein sehr geeigneter politischer Ansatzpunkt für ein solches Projekt. Hier wird ein typisches kapitalistisch-staatliches Grundproblem mit den sozialen Auswirkungen gekoppelt. Kommt dieses politische Projekt in Gang, wird der 1. Mai 2003 ein anderes Gesicht haben.

Peter Grottian ist Professor für Politische Wissenschaft an der FU Berlin und Vorstandsmitglied des Komitees für Grundrechte und Demokratie.

Foto: Michael Hughes