Vertiefung, Erweiterung, Verfassung … Wo steht die Innen- und Justizpolitik der EU?

von Heiner Busch

An den Zielen der Innen- und Justizpolitik der EU soll sich nichts Grundsätzliches ändern, weder durch die Erweiterung noch durch die Verfassung, die der Konvent ausarbeitet.

Seit dem Gipfeltreffen in Kopenhagen am 13. und 14. Dezember 2002 ist es definitiv: Mitte 2004 wird die Europäische Union um zehn Staaten gewachsen sein und neben Malta und Zypern auch große Teile Osteuropas umfassen. Rumänien und Bulgarien stehen in der Beitrittsschlange, und die Türkei darf sich bald ebenfalls anstellen. Nachdem das Thema Erweiterung geklärt sei, so die Staats- und Regierungschefs, komme es nun auf die Vertiefung an. Auch hier wird das Jahr 2004 Entscheidungen bringen: Die EU muss sich bis dahin festlegen, ob und wie sie die Innen- und Justizpolitik weiter „vergemeinschaftet“. Der Konvent strickt an einer Verfassung für das eigenartige Staatsgebilde EU.

Der Motor für die bisherige Entwicklung der EU lag im wirtschaftlichen Bereich. Sie wurde als Wirtschaftsgemeinschaft gegründet. Ökonomische – im Klartext: neoliberale – Ziele standen auch hinter dem Ausbauprozess von der Gemeinschaft zur Union seit Mitte der 80er Jahre. Stichworte hierfür sind der Binnenmarkt, die Währungsunion und der damit verbundene absurde Stabilitätspakt, der eine rigide Sparpolitik erzwingt und dessen Konsequenzen zehn Jahre nach seiner Verabschiedung in Maastricht nun auch in den reichen Mitgliedstaaten fassbar sind.

Die Innen- und Justizpolitik war zwar nicht die treibende Kraft dieser Entwicklung, sie hat aber davon profitiert. Erst die Perspektive des Binnenmarktes ließ die Schengen-Gruppe entstehen, in der die beteiligten Exekutiven und Polizeien die Linie der Innen- und Justizpolitik für die gesamte EU vorbestimmten – von der restriktiven Migrations- und Asylpolitik über die Kontrollstandards an den Außengrenzen bis hin zu neuen grenzüberschreitenden Ermittlungsmethoden und zum Schengener Informationssystem. Der Ausbau der Gemeinschaft zur politischen Union, die Verankerung der Innen- und Justizpolitik als 3. Säule im Maastrichter Vertrag, ermöglichte zum andern den Aufbau von Europol.

Auch nach Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags 1999 blieben die Vertreter der Exekutive und der Polizeien die Herren der europäischen Lage: Asyl-, Visums- und Einwanderungspolitik sowie Fragen der Außengrenzen wechselten zwar auf dem Papier in die 1. Säule. Das Europäische Parlament wird aber hierzu weiterhin nur konsultiert. Polizei und Strafrecht blieben ohnehin in der 3. Säule, in der allein die Regierungen, die Exekutive also, das Sagen haben. Mit dem Schengen-Protokoll wurden nicht nur die gleichnamigen Übereinkommen, sondern auch sämtliche Beschlüsse, die der Exekutivausschuss dieses Kerneuropas bis dahin getroffen hatte, umstandslos ins EU-Recht überführt.

Innerhalb von anderthalb Jahrzehnten ist die Innen- und Justizpolitik von einem Randgebiet der EU zu einer tragenden Säule geworden. Die Agenda wird ständig erweitert. Der Rat mit seinem undurchsichtigen Geflecht von Arbeitsgruppen hatte bereits zu „normalen“ Zeiten einen Ausstoß von Dokumenten, der selbst für Eingeweihte kaum mehr zu überblicken war. Der nach dem 11. September 2001 aufgestellte Anti-Terror-„Fahrplan“ mit seinen 64 Punkten, die seitdem Stück für Stück abgearbeitet werden, hat das innen- und justizpolitische Tempo in der Union erneut beschleunigt. Die erst vor drei Jahren in Kraft getretene Europol-Konvention wird gerade rundum erneuert. Eurojust als justizieller Wurmfortsatz von Europol ist etabliert. Ein gemeinschaftliches Grenzpolizeikorps befindet sich im Aufbau. Verträge und Protokolle, die eine langwierige Ratifikation in den nationalen Parlamenten erfordern, werden dabei vermieden. Fakten schaffen, lautet die Devise beim Aufbau der repressiven Instrumente des europäischen Staates.

Erweiterung auf vorgegebener Basis

Fakten zu akzeptieren, ist die Pflicht der Beitrittskandidaten. Sie haben den gesamten Besitzstand des EU-Rechts zu schlucken, selbstverständlich auch jenen der Innen- und Justizpolitik. Der Anpassungsprozess, den die EU hier von den Beitrittsstaaten fordert, ist durchaus zwiespältig. Gerade weil es ihr um eine „funktionierende Marktwirtschaft“ geht, besteht sie auf einer berechenbaren Verwaltung, auf der „Bekämpfung“ der Korruption, auf einer funktionierenden Justiz und einer professionellen Polizei. Deren Entmilitarisierung, die Einrichtung von Beschwerdemöglichkeiten gegen Polizeiübergriffe (die es in vielen „westlichen“ Staaten nicht gibt), eine Anti-Diskriminierungspolitik gegenüber Minderheiten – das sind Forderungen, die grundsätzlich zu begrüßen sind.

Die Kehrseite der Medaille besteht in der Übernahme von „westlichen“ Bedrohungsvorstellungen und Polizeikonzepten. Professionalisierung der Polizei heißt hier vor allem Zentralisierung, Computerisierung, (Wieder-)Einführung geheimer Methoden nunmehr gegen „organisierte Kriminalität“ und Schattenwirtschaft. Dass dies auch den Geheimdiensten neue Legitimität zuführt, stört die EU-Partner nicht.

Den unbestrittenen Kernpunkt des Anpassungsprogramms bildet die Übernahme des Schengen-Acquis und damit verbunden die Abschottung der künftigen EU-Außengrenzen gegen MigrantInnen und Flüchtlinge. Seit Anfang der 90er Jahre hatten sich die jetzigen Beitrittskandidaten in die Rolle von Pufferstaaten der EU-Abschottungspolitik drängen lassen. Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn erkauften die Befreiung ihrer StaatsbürgerInnen von der Visumpflicht durch Rückübernahmeabkommen und durch die Zusammenarbeit mit Deutschland bzw. Österreich bei der Kontrolle der EU-Außengrenzen.

Aus den Pufferstaaten werden nun Frontstaaten. Die EU erwartet von ihnen nun die „Sicherung“ ihrer Ostgrenzen, den Aufbau eines fremdenpolizeilichen Überwachungsapparates und die Durchsetzung ihrer Visumpolitik, auch wenn das dazu führt, dass der informelle kleine Grenzverkehr mit den östlichen Nachbarn abgeschnitten und auch die darauf beruhende Grenzökonomie zerschlagen wird. Zur Erreichung dieser Ziele mussten die Beitrittsstaaten Schengen-Aktionspläne aufstellen und erhielten Gelder aus den PHARE-Programmen der EU.

Die Belohnung für den Aufbau des neuen Grenzregimes, die volle Freizügigkeit und den Abbau der Kontrollen an den Westgrenzen, erhalten die Kandidaten erst in ein paar Jahren – wenn sie es geschafft haben, „in den Reihen der Mitgliedstaaten das Vertrauen aufzubauen, dass sie die Kapazität besitzen, das EU-Recht in diesem Bereich umzusetzen.“[1]

Verfassung für schnelle Beschlüsse

Mit der Erweiterung hätte die EU die Chance gehabt, die Ausrichtung ihrer bisherigen Innen- und Justizpolitik zu revidieren oder zumindest zu korrigieren. Sie hat sie nicht genutzt, und sie wird das auch in der Verfassungsdiskussion des Konvents nicht tun. Im Schlussbericht der Gruppe 10 des Konvents „Freiheit, Sicherheit und Recht“ tauchen die Beitrittsstaaten nur einmal auf – und zwar als Hindernis. Mit demnächst 25 Mitgliedstaaten ließe sich die Einstimmigkeitsregel bei der Beschlussfassung im Rat nicht durchhalten. Die Innen- und Justizpolitik sei jetzt schon zu langsam, die „ehrgeizigen“ Ziele des Gipfeltreffens von Tampere seien nicht erreicht worden.[2]

Nicht die demokratische Qualität und d.h. die Revidierbarkeit einmal getroffener politischer Entscheidungen ist das Kriterium, sondern die Schnelligkeit der „Fortschritte“. Sie rechtfertigt es, zum einen bei der Asyl- und Migrationspolitik zur qualifizierten Mehrheit bei der Beschlussfassung im Rat und zur Beteiligung des Europäischen Parlaments (EP), zum sog. Mitentscheidungsverfahren überzugehen und zum andern die Rechtsetzung in Sachen Polizei und Strafrecht jenen Übergangsvorschriften (Konsultation) zu unterwerfen, die heute für die Asyl- und Migrationspolitik gelten. Die Säulenstruktur wird überwunden. Von nationalen Parlamenten zu ratifizierende völkerrechtliche Verträge soll es nicht mehr geben. Die bestehenden Verträge würden in Verordnungen oder Richtlinien umgewandelt, die schneller zu ändern sind. Der Preis für die Beteiligung des EP ist die nochmalige Ausdehnung der innen- und justizpolitischen Agenda. Europol soll exekutiv tätig werden und weitreichende Weisungsbefugnisse gegenüber den nationalen Polizeien erhalten, Eurojust würde ausgebaut zu einer europäischen Staatsanwaltschaft. Mindest- oder Sockelvorschriften im strafrechtlichen und strafprozessualen Bereich seien zu schaffen.

Die „operative“ Tätigkeit – von Europol und Eurojust, des künftigen Grenzpolizeikorps sowie der kooperierenden nationalen Polizeien – verbliebe von der Rechtsetzung getrennt im bisherigen Verfahren der 3. Säule, würde aber der Kontrolle des Gerichtshofs unterworfen.

Die EU ist dabei, ein kompletter Staat zu werden – mit einer zentralistischen Polizei, aufgeblähten Datenbanken, abgeschotteten Grenzen und einem scharfen Strafrecht. Das parlamentarische Beigemüse kann das Fehlen der demokratischen Öffentlichkeit und der Liberalität nicht wettmachen. Der „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ entpuppt sich als Raum der Sicherheit, der Sicherheit und der Sicherheit.

Heiner Busch ist Redakteur von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] Ratsdok. 9757/02 v. 7.6.2002 = Kom (2002) 256 endg., S. 23
[2] Conv 426/02 v. 2.12.2002
Bibliographische Angaben: Busch, Heiner: Vertiefung, Erweiterung, Verfassung … Wo steht die Innen- und Justizpolitik der EU?, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 73 (3/2002), S. 6-9