Das neue Grenzregime am Bug – Der polnische Osten und die PHARE-Programme

von Helmut Dietrich

Wachtürme und Hubschrauber, optische und elektronische Hochtechnologie – die EU finanziert und definiert zu großen Teilen die Ausgestaltung ihrer künftigen östlichen Außengrenze.

Noch bis 1997 gab es einen recht einfachen Weg der Recherche über die polnische Migrations- und Flüchtlingspolitik: man brauchte nur den Geldern und Vorgaben der deutschen Bundesregierung nachzugehen, die hauptsächlich in die Infrastruktur des westpolnischen Grenzschutzes investierte – in handfeste polizeiliche Ausrüstung und Abschiebeknäste.

Im Juli 1997 begann Polen, den EU- und Schengen-Acquis zu übernehmen, im Juli 2002 wurden die Beitrittsverhandlungen im Kapitel der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres abgeschlossen. Mit dem Beitrittsprozess verlagerte sich der Aufrüstungsprozess von West- nach Ostpolen. Die künftige Land-Außengrenze der EU wird Polen von der Russischen Föderation (Oblast Kaliningrad), von Weißrussland und der Ukraine trennen. Sie ist mit 1.143 Kilometern mehr als doppelt so lang wie die deutsch-polnische Grenze.

Im selben Zeitraum wurden nunmehr unter dem Dach der EU die Finanzierungen vielfältiger und um ein Mehrfaches umfangreicher. Die haushaltliche Rahmenkompetenz über den Beitrittsprozess liegt bei der EU-Kommission. Sie fasst die Finanzierungsprojekte der EU in den Beitrittsländern in PHARE-Programmen zusammen.[1] Seit November 1997 finanziert sie maßgeblich die Aufrüstung der polnischen Ostgrenze. Bei diesen Programmen gilt die Formel: Ein Euro, den die Kommission über PHARE in ein Beitrittsland lenkt, mobilisiert die Vergabe von vier weiteren Euro aus anderen Ländern oder aus internationalen Institutionen und verursacht im jeweiligen Beitrittsland Ausgaben und Kosten von drei Euro.

Die PHARE-Projektbeschreibungen regeln nicht nur die Mittelvergabe. Die jüngst im Internet veröffentlichten PHARE-Planungen aus den Jahren 2001 und 2002 bieten auch einen aufschlussreichen Referenzrahmen für die Modernisierung und den Ausbau der Grenze in Ostpolen. Unter PL01.03. finden sich im Planungsjahr 2001 elf Einzelprojekte des Polnischen Nationalprogramms für den EU-Beitritt im Bereich Justiz und Inneres, im Planungsjahr 2002 (PL02.03.) bisher zwei Einzelprojekte.[2] Die Projekte skizzieren einen Planungsrahmen bis 2005/2006, den die polnische Regierung mit einer „Strategie der integrierten Verwaltung an der Grenze“ (2000) und einem Schengen-Aktionsplan (2001) schriftlich umrissen hat. Bis dahin soll die Aufrüstung der künftigen EU-Außengrenze abgeschlossen sein. Erst danach – frühestens 2006, spätestens 2008 – steht der Wegfall der Personenkontrollen an den polnischen EU-Binnengrenzen an.[3]

PHARE 2001 und 2002 (Teil I) für Polen umfassen bislang 450 Millionen Euro. Davon sind für Justiz und Inneres sowie für den Zoll 77 Millionen Euro bestimmt. Der Grenzschutz und die eng damit verknüpfte Verbrechensbekämpfung erhalten dabei 31 Millionen Euro fast ausschließlich für den Erwerb von Gütern: für High Tech zur Grenzüberwachung sowie Computer, Software und Glaskabel. Das sind die größten Einzelprojekte in der Geschichte der PHARE-Programme.

Am Rande Europas: Kriege, Unterdrückung und Armut

Die Grenzrealität ist nicht als alleiniges Produkt staatlicher Bürokraten und ihrer Phantasien zu verstehen. Gerade die Grenzen Polens zu Weißrussland und zur Ukraine können europaweit als Beispiele dafür gelten, dass die lokale Bevölkerung seit dem Ende der Blocksysteme eine beachtliche Definitionskraft über das Grenzgeschehen gewonnen hat. Im 18. und 19. Jahrhundert gehörte das polnisch-russisch-weißrussisch-ukrainische Grenzland zur Peripherie des preußischen Agrarstaats oder des zaristischen Russlands. Seine Bewohner haben diese Grenzen nie als Trennung akzeptiert, sondern im Rahmen der west-östlichen Migrati­onsökonomie – insbesondere durch Kleinhandel – genutzt. Kaum eine andere europäische Region wurde im 20. Jahrhundert dermaßen verwüstet, erst durch den Ersten Weltkrieg und den antibolschewistischen Bürgerkrieg und dann durch die Okkupation Nazideutschlands, der vor allem die jüdische Bevölkerung zum Opfer fiel. Bis heute überlappen sich in den Grenzgebieten die jeweiligen Nationalitäten, außerdem sind dort LitauerInnen, Roma, MuslimInnen, RussInnen und andere Gruppen ansässig. In der zwiespältigen Tradition der Zwischenkriegszeit wurden manche als nationale Minderheiten immer wieder instrumentalisiert oder als fünfte Kolonnen stigmatisiert. Die unmittelbare Nachkriegszeit hat mit ihren großen Folgemigrationen, dem blutigen ukrainisch-nationalistischen Aufstand und der Zwangsumsiedlung der meisten ostpolnischen UkrainerInnen nach Westpolen tiefe Spuren hinterlassen.

Die bäuerliche Armutsbevölkerung macht in diesen Gegenden Polens noch mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung aus. Die untergegangenen Industrien (Textilwirtschaft, Raffinerien, Kohlekraftwerke) gründeten sich auf die Billigentlohnung dieser Arbeitskräfte, die ihren Unterhalt größtenteils aus dem eigenen Lebensmittelanbau bezogen. Die Bodenreformen, die die Bevölkerung zum massenhaften Verkauf ihres kleinen Landbesitzes veranlassen sollten, sind bisher immer wieder gescheitert. Derzeit läuft unter dem Zeichen des EU-Beitritts eine neue Arrondierungsoffensive auf dem Bodenmarkt.

Nach Öffnung der sowjetischen Grenzen 1991 bildete sich zwischen Polen und seinen östlichen Nachbarländern ein Währungsgefälle von 10:1 heraus. Allerorts entstanden Basare der HandelstouristInnen und andere informelle grenzüberschreitende Ökonomien. Manche Kommunen erlebten einen enormen, aber kurzen Aufschwung. Auf der polnischen Seite sind im Zuge des Grenzhandels vereinzelt neue Landwirtschaftszentren entstanden. Im Nordosten, in Podlachien, sind heute sechs der zehn größten Molkereibetriebe Polens beheimatet. Am Rande von Lublin befindet sich der Elizowka-Markt, die modernste Gemüsebörse Ostpolens. Holz aus Weißrussland wird in ostpolnischen Betrieben zu Möbeln verarbeitet und zurückexportiert. Aus der Ukraine, Weißrussland und der russischen Föderation werden Kleinwaren aller Art nach Polen gebracht. Mancherorts liegen die wirtschaftspolitischen Zentren jenseits der Grenze, so fahren aus der südostpolnischen Stadt Przemysl täglich weit mehr Busse in die westukrainische Metropole Lwiw (Lemberg) als nach Warschau. Kurzum, die Region lebt von der agrarischen Selbstversorgung und vom grenzüberschreitenden Handel.

Die Anfänge des neuen Grenzregimes gingen dem polnischen EU-Beitrittsprozess voraus. Seit dem 24. Mai 1993 ist ein Rückübernahmeabkommen mit der Ukraine in Kraft. Im Mai 1994 und im August 1996 folgten ähnliche Abkommen mit der Russischen Föderation und mit Weißrussland. 1997 verschärfte Warschau die Einreisebestimmungen für UkrainerInnen: Sie brauchen zwar noch keine Visa, müssen jedoch genügend Barmittel und einen glaubhaft dokumentierten Reisegrund vorweisen. Da Kiew gleichzeitig die Mehrwertsteuer einführte und Russlands Finanzkrise auch die Ukraine und Weißrussland erfasste, ging der statistisch erfasste polnische Ost-Export in drei Jahren um 75 Prozent zurück, viele Neugründungen meldeten Bankrott an.[4] Seit dem Jahr 2000 gehen Polens Arbeitsämter, Grenzschutz und Polizei daran, ukrainische Schwarzarbeiter zu jagen und in spektakulären Aktionen abzuschieben.[5] Das polnische Wirtschaftsministerium führt derzeit dramatische Angriffe auf die unrentablen Versorgungsstrukturen der Industriegesellschaft, die auch Nischen für MigrantInnen und Flüchtlinge bieten: Liquidiert werden internationalisierte Gebrauchtwagenmärkte sowie die Milchbars – subventionierte Billigstrestaurants, die es in jedem Stadtteil und in jeder Siedlung gibt – und die Secondhand-Textilläden, die vom internationalen Handel leben. Letztere umfassen 75.000 Arbeitsplätze in den Sortieranlagen und im Verkauf, von ihrer Bedeutung für Geringverdienende ganz zu schweigen.[6]

Geburt einer umfassenden Ausländerpolizei

Das künftige Grenzregime – das zeigt ein Überblick über die elf PHARE-Projekte des Jahres 2001 – stellt einen sozialtechnologischen Angriff auf die informelle grenzüberschreitende Ökonomie und auf den Transit dar. Das erste dieser Vorhaben betrifft die polnische Asylbürokratie. Sie wird zu einer zentralen Ausländerverwaltung ausgebaut und per EDV an die Grenzüberwachung in Ostpolen angebunden. Anfang der 1990er Jahre war auf Druck der deutschen und der schwedischen Regierung das Warschauer Flüchtlings- und Migrationsbüro entstanden, es befindet seit 1993 landesweit über die Asylanträge und betreibt die Flüchtlingslager.[7] In den Jahren 2001/2002 wurde das Büro mit dem Ausbau eines umfassenden Ausländerzentralregisters – OBCY-POBYT („Fremde – Aufenthalt“) – beauftragt. Es übernahm ferner die Angelegenheiten der polnischstämmigen AussiedlerInnen aus den GUS-Staaten und wurde zum 1.7.2001 in „Amt für Rückkehr und Ausländer“ umbenannt. Der gemeinsame Nenner seiner verschiedenen Aufgaben ist die Personendatenverwaltung aller nicht- oder neupolnischen Personen.

Die Ausschreibung für den Ausbau des Registers läuft über die EU-Kommission.[8] Ab Mitte 2003 wird dem Amt für Rückkehr und Ausländer ein Berater aus der EU („Pre-accession Adviser“) vorgesetzt. Dieser soll die Entwicklung des Registers in Zusammenarbeit mit dem Innenministerium, dem Grenzschutz und dem Ministerium für Arbeit und Soziales überwachen.[9] PHARE finanzierte bereits die Computeranlagen für die erste Ausbauphase, die deutsche Regierung übernahm zusätzlich die Kosten der landesweit zu verlegenden Glaskabel und der Sicherheitsvorkehrungen der Datenübermittlung.[10]

Den historischen Kern des Ausländerzentralregisters bildet die Computererfassung von Asylanerkennungen und -ablehnungen durch das Flüchtlings- und Migrationsbüro seit 1995. Nach und nach wurde dieses Register mit Hilfe der deutschen Regierung und des PHARE-Programms zu einem Speichermedium diverser Titel des Aufenthalts, der Ausreiseaufforderung und der unerwünschten Einreise erweitert. Seit 1999/2000 enthält es Angaben über Visa und diesbezügliche Einladungen, befristete Aufenthaltstitel und Einreiseverweigerungen. Die Wojwodschaften und die größeren Ämter der polnischen Grenzpolizei haben seit 1998/99 Online-Zugriff, derzeit erfolgt der Anschluss der dezentralen Terminals an der Ostgrenze (vor allem bei der Grenzpolizei). Das novellierte Ausländergesetz vom 1.7.2001 ermöglicht weiteren Behörden (Justiz, Zoll, diversen Polizeistellen usw.) den direkten Zugang zu den Daten des Registers. Im Übrigen hat Polen im Jahr 2001 einen maschinenlesbaren neuen Reisepass eingeführt.[11]

Auf das Ausländerzentralregister in Warschau bauen weitere Datenbanken für die internationale Vernetzung (Schengen, Europol u.a.) auf. Das Automatisierte Fingerabdruck-Identifizierungssystem AFIS stellt das polnische Verbindungsglied zur EU-Fingerabdruck-Datenbank Eurodac dar. Ab 2003 soll Polen auch über eine nationale Komponente für das Schengener Informationssystem (SIS) verfügen.

Visumpolitik und Grenzüberwachung

Das zweite Projekt widmet sich der Visapolitik. Die polnische Regierung hat am 27.7.1999 erklärt, dass sie die EU-verein­heit­lichte Visapolitik bis zum Beitritt übernehmen wird.[12] Im Jahr 2000 führte Polen die Visapflicht gegenüber Aserbaidschan, Georgien, Kyrgyzstan, Tadschikistan und Turkmenistan ein; 2001-2002 ließ Polen die Übereinkommen über visafreie Einreise mit weiteren 54 Staaten auslaufen. Staatsangehörige der russischen Föderation, Weißrusslands und der Ukraine sind ab dem 1.7.2003 visumpflichtig, sollen aber nach dem Abschluss entsprechender Abkommen in vereinfachten Verfahren Mehrfach- und Langzeitvisa erhalten können. Bis Ende 2004 wird das zentrale Visaregister funktionstüchtig sein, auf das das konsularische Personal im Ausland Zugriff haben soll.[13] Bliebe ein Großteil der zehn Millionen GUS-Bürger, die jährlich nach Polen reisen, wegen der künftigen Visapflicht aus, wäre der Bankrott zahlloser Geschäfte absehbar, eine komplette Subsis­tenz­wirt­schaft beiderseits der Grenzen droht dann zusammenzubrechen.

Der Grenzüberwachung gilt das dritte PHARE-Projekt des Jahres 2001 und ein weiteres aus 2002. An der Grenze sind neben dem eigentlichen Grenzschutz auch Polizeieinheiten und der Zoll eingesetzt. Bei der eigentlichen Grenzpolizei (Grenzschutz), einer ehemals militärischen Organisation (Grenztruppen), waren 1998 insgesamt 17.210 Personen tätig, davon 3.700 Zivildienst- und 3.050 Wehrdienstleistende, die vor allem an der Ostgrenze Dienst taten.[14] Ab 2007 will Polen keine Wehrpflichtigen mehr in der Grenzüberwachung einsetzen. Durch Neueinstellungen und Verlegungen von Einheiten, die bisher im Westen Dienst taten, soll die Zahl der in Ostpolen eingesetzten Grenzpolizisten – heute 5.300 – mehr als verdoppelt werden. Auch ein Teil der technischen Ausrüstung wird von der West- an die Ostgrenze verbracht, hinzu kommen Neuanschaffungen.[15] Die größten Einzelposten, die PHARE 2001 für die Ostgrenze aufweist, betreffen die Kommunikationstechnik (Vertrag mit Motorola) und die Optoelektronik (Vertrag mit Zeiss). Beschafft werden fünf Einheiten zu jeweils mehr als einer halben Million Euro für die Luftaufklärung per Militärhubschrauber, 60 mobile optische Überwachungsgeräte zum Stückpreis von 413.000 Euro sowie 236 mobile, von Hand zu bedienende Wärmebildkameras à 49.000 Euro.

Anders als an der deutsch-tschechischen Grenze wird an der polnischen Ostgrenze der demarkierende Stacheldraht aus den Zeiten vor der osteuropäischen Wende nicht entfernt. Der befestigte Grenzwachturm, eine Erfindung der Eroberungs- und Territorialstaaten, feiert dort seine Wiederauferstehung. Solche Türme sollen alle 15 bis 20 Kilometer errichtet werden, jeweils bestückt mit teuerster Elektronik und Optik. Ausspähung aus der Höhe und Spezialeinheiten am Boden – beim Grenzschutz in Ostpolen gehen militärische und polizeiliche Elemente eine neue Verbindung ein. Dennoch haben sich die EU und die polnische Regierung von einer traditionellen militärischen Frontstellung gegenüber den Nachbarstaaten verabschiedet und suchen stattdessen die Kooperation.[16] Vor allem die deutsche Regierung drängt darauf, dass Polen die östlichen Anrainer zu „Sicheren Drittstaaten“ und Herkunftsländern erklärt und damit Rückschiebungen innerhalb von 48 Stunden rechtlich stärker absichert.[17] Die Grenzpolizeien Polens und seiner östlichen Nachbarn sollen gegen Flüchtlinge und MigrantInnen enger zusammenarbeiten – u.a. durch bilaterale Kontaktzentren. Seit dem 10.11. 2001 ist bereits ein entsprechender Vertrag mit Litauen in Kraft.[18]

Hochmobil, mit unterschiedlichen Behörden vernetzt, elektronisch und optisch aufgerüstet: Es sind nicht nur die deutschen, britischen und niederländischen Grenzpolizeieinheiten, die die polnische Grenzwacht am Bug auf diese neuen Einsatzaufgaben trainieren.[19] Im Rahmen des PHARE Horizontal Programme (PHP) und über das EU-Odysseus-Programm haben internationale Organisationen – insbesondere das International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) und die International Organisation for Migration (IOM) – einen wesentlichen Part der grenzpolizeilichen Schulung übernommen. Ihre Trainingskonzepte und länderübergreifenden Grenzpolizei-Konferenzen sollen zudem helfen, den Grenzschutz gesellschaftspolitisch zu verankern. Sie beraten die EU und die Beitrittsländer polizeilich-politisch bei den neuen Projekten der Personendatenerfassung.[20] Auch die Warschauer Helsinki-Stiftung, deren flüchtlingspolitische Arbeit Mitte der 1990er Jahre vom UNHCR finanziert wurde, avancierte zur Beratungsinstitution der EU-Kommission in Fragen der ostpolnischen Grenzaufrüstung.[21]

Die Projekte vier, fünf und sechs widmen sich der Grenzabfertigung auf den gesamteuropäischen Korridoren, die vor allem in Ost-West-Richtung ausgebaut werden. An den entsprechenden polnisch-weiß­rus­si­schen und polnisch-ukrainischen Kontrollpunkten entstehen gigantische Verkehrsanlagen. In diesen Tempeln der digital erfassten Personen- und Warenmobilität sollen die lokalen GrenzgängerInnen von den internationalen Fernreisenden getrennt werden. Die Architektur dieser Mammut-Übergänge dürfte Blockadeaktionen erheblich erschweren, mit denen die lokale Bevölkerung vor allem im Raum Bialystok seit 1997 immer wieder die Grenze lahmgelegt hat.

Projekt sieben und acht widmen sich den „politischen“ Dimensionen: Lokale NGOs und kommunale Vertretungen sollen Mittel – allerdings in bescheidenem Umfang – erhalten, um konsensbildend zu wirken. Internationale Berater werden angeheuert, um sensible Aspekte der Außengrenzpolitik vor Ort zu bearbeiten. Ihnen obliegt ein Teil der begleitenden Auswertung der PHARE-Projekte.

Bei den Projekten 9, 10 und 11 fällt vor allem auf, dass sie in den Kontext der ostpolnischen Grenzüberwachung gestellt werden: Bei der Verbrechensbekämpfung (Projekt 9) geht es unter anderem um den Anschluss der Online-Datenbanken der Ostgrenze an SIS und Europol, um den Aufbau einer DNA-Datei mit britischer und deutscher Unter­stützung und um die zentralisierte Bekämpfung der Organisierten Kriminalität. Die sozialen Verhältnisse, die auf Einkommen aus wirtschaftlichen „Grau“-Zonen beruhen, so heißt es bei diesem PHARE-Punkt, sollen auch mit polizeilichen Mitteln bekämpft werden. Die justizielle und polizeiliche Zusammenarbeit sowohl innerhalb der EU wie in Osteuropa und das Knastsystem (Projekte 10 und 11) werden ebenfalls im Zuge des neuen Grenzregimes neu ausgerichtet. Polen schloss am 3.10.2001 ein Abkommen zur Zusammenarbeit mit Europol. Eine nationale Europol-Einheit besteht bereits. Demnächst sollen VerbindungsbeamtInnen nach Großbritannien, Österreich, Italien und in die skandinavischen Länder entsandt werden. Polizeiabkommen u.a. zur „Bekämpfung der organisierten Kriminalität“ existieren bereits mit Finnland (4.11.1999), Litauen (4.4.2000) und Deutschland (18.2.2002), weitere sollen folgen.[22]

Moderne Staats-Zollgrenze

Dass eine restriktive Asylpolitik eine neue Fremden- und Grenzpolizei gebiert, ist aus Westeuropa nicht unbekannt. Die bisherige EU-Außengrenze an Oder und Neiße allerdings wurde auf deutscher Seite seit den 1990er Jahren auf eine Kombination von Elektronik und Denunziationsbereitschaft der Bevölkerung gegründet. Die neue EU-Außengrenze am Bug kehrt mit der PHARE-Programmatik zur Staats-Zollgrenze des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zurück, bei der sich die Grenzüberwachung auch gegen die Bevölkerung richtete, die innerhalb der Zollgrenzen lebte. Heimliche Grenzüberschreitung oder aber die Blockade der Grenzübergänge gehörten seinerzeit zu einem legitimen Mittel der sozialen Auseinandersetzung. Ausgedient hat das Modell der militärischen Frontstellung gegenüber den Nachbarstaaten. Stattdessen gleichen sich neue polizeiliche und militärische Mittel an, wo es um die Bekämpfung von armutsgeprägten, grenzüberschreitenden „Feinden“ geht.

Die PHARE-Programme mit ihrem ökonomischen, neoliberalen Zuschnitt sind sicherlich ein Diktat aus Brüssel und Berlin. Von der Zerstörung der informellen Grenzökonomien verspricht sich aber auch eine neu entstandene polnische Elite Vorteile. Sie sieht den EU-Beitritt als politische wie wirtschaftliche Chance, um aus der Jahrhunderte langen Peripherisierung auszubrechen. Auch sie wird ein Interesse daran haben, dass die Grenzpolizei die kontrollierten Verkehrskorridore einigermaßen barrikadenfrei halten und einen Teil der unerwünschten Flüchtlinge und MigrantInnen nach Osten abschieben kann.

Die Frage, ob in Ostpolen ein Labor für neue exekutive Vollmachten entsteht, ausgeübt von mobilen, durch Kommunikationstechnologie vernetzte Einheiten, verdient in den folgenden Jahren größte Aufmerksamkeit. Ob dies möglich ist, hängt nicht nur von polizeilichen Konzepten und der bekanntlich störungsanfälligen Überwachungselektronik ab. Die Grenzbevölkerung hat seit Beginn des Beitrittsprozesses immer wieder gegen das neue Grenzregime demonstriert und mehrfach die Region durch Blockaden lahmgelegt. Sie hat erzwungen, dass die Visapflicht für die Staatsangehörigen der Nachbarländer nicht schon früher eingeführt wurde. Die Interessen von Flüchtlingen und MigrantInnen könnten sich dauerhaft mit sozialen Strukturen der dortigen Armut verbinden.

Helmut Dietrich ist Mitbegründer der „Forschungsgesellschaft Flucht und Migration“ und lebt in Berlin.
[1] PHARE, ursprünglich für „Pologne – Hongrie: Assistance à la restructuration économique“
[2] http://europa.eu.int/comm/enlargement/pas/phare/programmes/national/poland/. Die Datei „PL01.03.02: Twinning for Border and visa policy“ ist gesperrt. Die folgenden Ausführungen beziehen sich, soweit nicht anders vermerkt, auf diese Unterlagen.
[3] Ratsdok. 11087/02 v. 23.7.2002 (Enlargement: Preparation of the next Accession Conference with Poland; Chpt. 24: Co-operation in the Fields of Justice and Home Affairs)
[4] Frankfurter Rundschau v. 8.12.2000
[5] Frankfurter Rundschau v. 11.4.2001
[6] Neue Zürcher Zeitung am Sonntag v. 2.6.2002
[7] In 2001 stellten offiziell 4.500 Personen einen Asylantrag, 1.820 Asylverfahren wurden eingestellt, weil die Personen anscheinend Richtung Westen weitergewandert sind. Zur flüchtlingsfeindlichen Praxis der polnischen Regierung siehe Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM): Polen, Berlin, Göttingen 1995; dies.: Ukraine, Berlin, Göttingen 1997, die FFM-Presseerklärung v. 30.10.1996 sowie Dietrich, Helmut: „Akcja Obcy“ („Aktion Fremde“) in Polen, in: Mittelweg 36, 1999, H. 2, S. 2-11.
[8] siehe PL-Warschau: Phare – Modernisierung des Systems OBCY-POBYT, Nrn. 134361-2001 und 119523-2002, in: Supplement des Amtsblatts der Europäischen Gemeinschaften S 197 v. 12.10.2001 und S 151 v. 6.8.2002
[9] http://www.esteri.it/polestera/ue/twinnings/2002/polonia/pl02jh02.doc
[10] 1998-2000 (Umsetzung in 2000 und 2001) belief sich die deutsche Hilfe für den Ausbau des OBCY-POBYT-Systems auf 302.500 Euro, die von PHARE auf 640.000 Euro, die des polnischen Staats auf 1,35 Mio. Euro.
[11] Ratsdok. 11087/02 v. 23.7.2002
[12] Government of Poland: Poland’s Negotiation Position in the Area of Free Movement of Persons. Synthesis (= documents 2), Warschau 27.7.1999, p. 40. ArmenierInnen sind schon seit dem armenisch-aserbeidschanischen Krieg visumpflichtig. In Polen leben ca. 15-20.000 ArmenierInnen.
[13] CONF-PL 8/02 (Das Kürzel CONF-PL bezeichnet die Dokumente im Zusammenhang der Konferenzen über den Beitritt Polens zur EU.)
[14] EU-Kommission: Regelmäßiger Bericht über Polens Fortschritte auf dem Weg zum Beitritt, 4.11.1998, S. 49
[15] CONF-PL 46/02
[16] vgl. Kempe, I.; Meurs, W. v.; Ow, B. v. (Hg.): Die EU-Beitrittsstaaten und ihre östlichen Nachbarn, Gütersloh 1999
[17] Laut UNHCR haben im Jahr 2001 an der Grenze zu Russland 14, zur Ukraine 34, zu Weißrussland 523 Personen einen Asylantrag stellen können. 1.187 Personen wurden in Abschiebehaft genommen.
[18] CONF-PL 5/02
[19] CONF-PL 5/02 und 46/02
[20] Siehe ICMPD (ed.): Border Management in Europe. An Overview [of the border control systems of EU and candidate countries], December 1999; ICMPD (ed.): Future External Borders of the EU. Teaching Material, edited by R. Schweighofer, September 1999, Seminar „External Borders“ for Hungary, Poland, Czech Republic, Slovenia and Estonia (Klagenfurt 19 – 23 October 1998), Seminar „Mediterranean Borders“ for Cyprus (Larnaca 17 – 21 May 1999), Seminar „Austria Second Round“ for Romania, Bulgaria, Slovakia, Lithuania and Latvia (Illmitz 21 – 25 June 1999). Zu den grenzpolizeilichen Aktivitäten der IOM in Mittelosteuropa siehe FFM: Ukraine a.a.O. (Fn. 7), S. 15 ff.
[21] Kazmierkievicz, P.: Case Study. Polish Helsinki Human Rights Foundation from the Implementing Partner to UNHCR to the Adviser to the European Commission Delegation (1999); http://www.policy.hu/kazmierkievicz/polishcase.html
[22] Ratsdok. 11087/02 v. 23.7.2002