EU-Grenzpolizei – Mit kleinen Schritten zum Ziel?

von Mark Holzberger

Die Umsetzung des deutschen Vorschlags für eine Europäische Grenzpolizei lässt auf sich warten. Die EU will zuvor andere Grenzsicherungsmaßnahmen neu einführen.

In der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik der EU ist es in den letzten Monaten zu einer deutlichen Tendenzwende gekommen. Zwei Jahre lang hatte insbesondere die EU-Kommission mit weltoffenen einwanderungs- und flüchtlingspolitischen Vorschlägen überrascht. Im Laufe des letzten Jahres hat sich jedoch der Blickwinkel – nicht nur unter dem Eindruck der Anschläge vom 11. September 2001 – deutlich verschoben. Die beiden Ratsgipfel im belgischen Laeken (Dezember 2001) und im spanischen Sevilla (Juni 2002) markieren den erneuten Trend zu einer sich einigelnden Europäischen Union. So erhob der Rat im Oktober die polizeiliche Bekämpfung der illegalen Einwanderung zu „einer der Hauptprioritäten der Europäischen Union“.[1] Die Umsetzung der 17 flüchtlings- und einwanderungspolitischen sowie grenzpolizeilichen Beschlüsse des Sevilla-Gipfels hat zudem jetzt gegenüber deutlich älteren Richtlinienentwürfen der EU-Kommission (z.B. Familienzusammenführung, Asylverfahren) Vorrang.[2]

Beim deutschen Vorschlag, eine Europäische Grenzpolizei aufzubauen, will sich die EU hingegen mehr Zeit lassen. Eine solche Truppe – so Bundesinnenminister Otto Schily im März 2001 bei der Vorstellung seiner Idee – solle einen „wirksamen Schutz“ der nach der Osterweiterung rund 3.000 Kilometer langen neuen EU-Außengrenze sicherstellen.[3] Inzwischen liegen entsprechende Planungsdokumente vor, u.a. hat sich der Rat auf einen „Grenzschutzplan“ geeinigt.[4] Darin veranschlagt er einen Zeitraum von fünf Jahren für die Aufstellung eines gemeinsamen Grenzschutzkorps. Diese Zeit wollen die MinisterInnen für die Durchführung ergänzender Initiativen zur Außengrenzsicherung nutzen.

Dabei geht es nicht nur darum, die Ausbildung der GrenzpolizistInnen der Mitgliedstaaten zu koordinieren, ihre Ausrüstung zu vereinheitlichen und das Gemeinsame Handbuch für die Außengrenzsicherung neuzufassen. Im Grenzschutzplan des Rates liegen die Schwerpunkte vielmehr auf der Einrichtung neuer Institutionen, gemeinsamen grenzpolizeilichen Aktionen sowie dem Aufbau neuer operativer Grenzschutzeinheiten. Statt neue gemeinschaftsrechtliche Strukturen zu schaffen, will der Rat bezeichnenderweise vorrangig bestehende und gegebenenfalls zu erweiternde Kapazitäten der Mitgliedstaaten nutzen. Neue EU-Rechtsinstrumente, bei deren Erarbeitung auch das Europäische Parlament konsultiert werden müsste, sollen wenn irgend möglich vermieden werden.

Neue Institutionen

Ein Zwischenbericht über die Umsetzung des Grenzschutzplans vermeldet u.a. eine neue Ratsarbeitsgruppe.[5] An den Treffen des bestehenden Strategischen Ausschusses für Einwanderungs-, Grenz- und Asylfragen (SAEGA) nehmen nun regelmäßig auch die Leiter der Grenzkontrolldienste der Mitgliedstaaten teil.

Das neue bzw. erweiterte Gremium (SAEGA+) soll u.a. die ständige Schengen-Evaluation übernehmen, d.h. begutachten, ob die Mitgliedstaaten den Schengen-„Besitzstand“ einhalten und welche Fortschritte die Beitrittsländer bei seiner Einführung erzielen. Die Arbeitsgruppe wird dabei auch Inspektionen durchführen. Ihre Hauptaufgabe besteht jedoch darin, die Umsetzung der Einzelmaßnahmen des Grenzschutzplans zu überwachen.

Die Kommission wollte dem Gremium über diese bloß evaluierenden Funktionen hinaus auch eine operative Rolle zuschanzen. SAEGA+ sollte als „Einsatzstab für das Grenzschutzkorps“ dienen, in „Notfällen operative Maßnahmen vorschlagen“ und diese „vor Ort koordinieren“. Eine derartige Machtkonzentration in Brüssel lehnten die Innen- und JustizministerInnen jedoch ab.

Die sich aus dem Grenzschutzplan ergebenden Aufgaben werden nach dem Willen des Rates von den Grenzpolizeien der Mitgliedstaaten eigenständig, aber in „engen Wechselbeziehungen“ zueinander bearbeitet. Für diese Beziehungen sollen nationale Grenzpolizei-Kontaktstellen sorgen. Auch die Planung und Koordination von Operationen übernimmt nicht eine zentrale Ratsarbeitsgruppe, sondern ein „polyzentrisches Netz“ von Kontaktstellen der jeweils beteiligten Mitgliedstaaten. SAEGA+ obliegt also nur die Rolle einer allgemeinen Koordination.

Gemeinsame grenzpolizeiliche Aktionen

Derzeit werden – auf Grundlage bereits Ende Juli verabschiedeter Leitlinien – drei Projekte vorangetrieben: [6]

  • Seegrenzenprojekt: Von den vier vorgesehenen Aktionen im Mittelmeer – unter Leitung von Spanien, Griechenland, Großbritannien und Italien – sollen zwei noch in diesem Jahr stattfinden; weitere in Nord- und Ostsee sollen folgen. Zumindest bei „Kontrollen auf hoher See“ sollen dabei auch Militäreinheiten zum Einsatz kommen. Dies wird seit längerem durch Italien praktiziert und wurde jüngst von Großbritannien ausdrücklich befürwortet.
  • Aktion Visa: Auf Grundlage von Erfahrungen aus sog. Risk Immigration Operations (RIO), die Anfang 2002 durchgeführt wurden, sollen noch in diesem Jahr auf den internationalen Flughäfen der Mitgliedstaaten großangelegte Kontrollaktionen gegen den möglichen „Missbrauch“ von Schengen-Visa erfolgen.
  • Kontrollen an den östlichen Landaußengrenzen: Hier plant die EU – unter Leitung Griechenlands – polizeiliche Schwerpunkteinsätze (High Impact Operations – HIO). Derartige polizeiliche Großrazzien gegen Flüchtlinge und unerlaubte MigrantInnen gibt es bereits seit 1998 – ihre Ergebnisse wurden jedoch niemals nachvollziehbar eva­luiert.[7]

Neue operative Grenzschutzeinheiten

Der Rat möchte zum einen die Zuständigkeiten von EUROPOL bei der Bekämpfung der „illegalen Einwanderung“ ausweiten und die „ständige Kommunikation zwischen EUROPOL und den für den Schutz der Außengrenzen zuständigen Behörden“ intensivieren. Zum anderen will er diverse neue operative Einheiten schaffen: So sollen Gemeinsame Ermittlungsgruppen nicht nur bei grenzüberschreitender Kriminalität gebildet werden, sondern auch, um – mit EUROPOL-Unterstützung – „illegale Einwanderungsnetze auf ihrer gesamten Route vom Herkunftsland bis zum Zielland zu zerschlagen.“ Demselben Ziel dient die Vervollständigung eines „Netzes“ von polizeilichen VerbindungsbeamtInnen (Immigration Liaison Officers – ILOs), die in Herkunfts- und Transitländern stationiert sind.[8] Diese Ermittlungsgruppen und das ILO-Netz soll schließlich ein „virtueller Pool“ von Grenzpolizei-ExpertInnen ergänzen, die man als „BeraterInnen“ in solche Länder entsenden will.

Der Aufbau gemeinsamer Einheiten ist ferner vorgesehen für das Aufspüren in Fahrzeugen versteckter MigrantInnen und Flüchtlinge (Detektionsgruppen) sowie für die Durchführung von zwangsweisen Abschiebungen. Und schließlich soll in den kommenden drei Jahren eine „jederzeit und überall einsatzfähige“ grenzpolizeiliche Krisenreaktionseinheit entstehen – eine kleine Truppe aus freiwilligen Abordnungen der Grenzpolizeien der Mitgliedstaaten. Offiziell wird sie die nationalen Dienststellen nur „beraten und unterstützen“. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass der Rat mit dieser Aufgabenbeschreibung – ähnlich wie bei EUROPOL – den exekutiven Charakter der Einsätze dieser Truppe vernebeln und damit die Notwendigkeit einer eigenständigen Rechtsgrundlage bestreiten will.

Auffallend ist, dass dem Aufbau des eigentlichen Grenzschutzkorps im Grenzschutzplan nur zehn dürre Zeilen gewidmet sind (wobei das EU-Korps – ganz typisch für das Herangehen des Rates – die einzelstaatlichen Grenzschutzdienste nur „unterstützen, aber nicht ersetzen“ soll). Der Rat erwartet, dass dieser Aufbauprozess „dynamisch“, d.h. in verschiedenen „Stufen“ erfolgen wird. Ob hierfür neue Rechtsquellen nötig sind, bleibt unklar. Die Kommission war noch von einer Änderung des EU- bzw. des EG-Vertrags ausgegangen, bei der die Führungs- und Weisungsstruktur einer EU-Grenzpolizei, ihre Befugnisse, ihr Verhältnis zu den nationalen Grenzschutzbehörden und ihr räumliches Einsatzgebiet festzulegen wären. Der Rat spricht nur von „etwaigen Beschlüssen“.

Die Aufstellung der genannten grenzpolizeilichen Krisenreaktionseinheit wird zeigen, ob diese Schnelle Eingreiftruppe zum Kern des künftigen Grenzschutzkorps wird. Erfahrungen für die EU-Grenzpolizei werden derzeit aber dort gesammelt, wo dies vielleicht am wenigsten erwartet wird: auf den internationalen Flughäfen der EU. Dort wird – unter Federführung Italiens – in einem Fünf-Phasen-Modell (bis Januar 2003) – Grenzschutzpersonal zwischenstaatlich ausgetauscht. Zweck der Übung ist die Vereinheitlichung von Kontrollmaßnahmen, die Standardisierung von Datenbänken etc., um diese Erfahrungen dann im ersten Schritt auf den anderen internationalen Flughäfen der EU anzuwenden.[9] Internationale Flughäfen – so das Kalkül des Rates – sind nämlich „in sich geschlossene Einheiten“, die es ermöglichen, „Standardverfahren zu erproben und konzipieren, die auch an anderen Grenzen anwendbar sind.“

Die bürgerrechtliche Agenda

Dass der Rat nach dem Sevilla-Gipfel die polizeiliche „Bekämpfung der illegalen Einwanderung“ zu einer Priorität für die EU erhoben hat, macht deutlich, dass die Entwicklung hin zu einer EU-Grenzpolizei keine unproblematische Angelegenheit ist. Dokumentiert wird damit nämlich das Wiederaufleben des Abschottungsparadigmas. Und die Erfahrung zeigt, dass grenzpolizeiliche Maßnahmen zur Eindämmung irregulärer Migration immer auch die Möglichkeiten von Flüchtlingen einschränken, sich nach Europa retten zu können. Zu einem uneingeschränkten Flüchtlingsschutz gehört aber auch – darauf weisen der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) aber auch der Europäische Flüchtlingsrat ECRE seit Jahren hin – die Pflicht sicherzustellen, dass diejenigen, die diesen Schutz benötigen, auch tatsächlich Zugang zur Europäischen Union erhalten.[10]

Beim Aufbau der EU-Grenzpolizei besteht ferner erneut die Gefahr einer Vermischung polizeilicher und nachrichtendienstlicher Tätigkeiten: Der Rat ist dem Vorschlag der Kommission gefolgt, dass die Grenzpolizeien der Mitgliedstaaten künftig bei ihrer Risikoanalyse auch eine eigenständige „nachrichtendienstliche Arbeit“ entwickeln sollten.

Gefahren drohen aber nicht nur hinsichtlich der Aufgaben und Tätigkeiten der neuen Grenzpolizei, sondern auch von der Art ihrer politischen Durchsetzung. Die Kommission hatte immerhin gefordert, dass auf dem Weg zu einem EU-Grenzschutzkorps „die demokratische und justizielle Kontrolle bei der Gesamtheit der Maßnahmen gewährleistet sein muss.“ Bezeichnenderweise hat der Rat dieses Bekenntnis explizit nicht übernommen. Er ist im Gegenteil bestrebt, den schrittweisen Aufbau von gemeinsamen Grenzpolizeistrukturen so lange wie möglich ohne eigentliche Rechtsgrundlage und ohne jegliche parlamentarische Kontrolle zu vollziehen.

Hierzu muss man wissen: Fragen der Migrations- und Asylpolitik – aber auch die Kontrolle der EU-Außengrenzen – sollten mit dem Amsterdamer Vertrag bis 2004 aus der ausschließlich von der Exekutive dominierten 3. Säule der EU herausgelöst werden. Während dieser
Übergangsperiode wird das Europäische Parlament (EP) nur konsultiert. Danach sollten diese Politikbereiche voll „vergemeinschaftet“ werden. Das EP erhielte dadurch die für die 1. Säule üblichen Mitentscheidungskompetenzen, der Europäische Gerichtshof volle Kontrollrechte. Bislang weigerten sich die Regierungen der Mitgliedstaaten „nur“, die polizeiliche Zusammenarbeit in der EU diesem Vergemeinschaftungsprozess zu unterwerfen. Nun aber wollen sie offenkundig auch bei den Außengrenzkontrollen ihren Einflussbereich langfristig sichern.

In dieselbe Richtung geht die ausdrückliche Empfehlung der italienischen Machbarkeitsstudie zur EU-Grenzpolizei, zumindest in der Aufbauphase dieses Grenzschutzkorps die Bestimmungen des Amsterdamer Vertrags über die „verstärkte Zusammenarbeit“ einer Gruppe von Mitgliedstaaten anzuwenden.[11] Faktisch würde dies die Wiedereinführung der Schengen-Gruppe bedeuten. Im Rahmen der Schengen-Kooperation hatte nämlich eine kleine Gruppe von damaligen EG-Staaten außerhalb jeglicher demokratischer Kontrolle die entscheidenden Rechtsgrundlagen der späteren Innen- und Justizpolitik der EU festgelegt. Im Zuge der Ratifizierung des Amsterdamer Vertrags mussten die bis dahin gefassten Schengen-Beschlüsse in den Rahmen der EU überführt werden, ohne dass sie vorher bekannt gewesen wären bzw. hätten geändert werden dürfen. Die „verstärkte Zusammenarbeit“ erlaubt den Exekutiven, diese für sie äußerst angenehme – weil nicht einmal parlamentarisch kontrollierte – Schengen-Methode wieder aufzunehmen und erneut vollendete Tatsachen zu schaffen.

Die demokratische Öffentlichkeit wäre also in mehrfacher Hinsicht gut beraten, diesen politischen Prozess zum Aufbau einer europäischen Grenzpolizei genau unter die Lupe zu nehmen.

Mark Holzberger ist Referent für Flüchtlings- und Migrationspolitik in der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen und Mitglied der Redaktion von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] Ratsdok. 12894/02 v. 15.10.2002, S. 17
[2] „Fahrplan“ zur Umsetzung der Sevilla-Beschlüsse: Ratsdok. 10525/3/02 v. 20.11.2002
[3] vgl. Holzberger, M.: Internationalisierung europäischer Polizeieinsätze, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 69 (2/2001), S. 48-54
[4] EU-Rat: „Plan für den Grenzschutz an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union“, Ratsdok. 10019/02 v. 14.6.2002. Ferner liegen vor: EU-Kommis­sion: Auf dem Weg zu einem integrierten Grenzschutz, KOM (2002) 233 endg. v. 7.5.2002; der Projektbericht des EU-Programms OISIN (zur verbesserten Polizeikooperation), Police and Border Security, Brüssel, 29.3.2002; die vom Rat in Auftrag gegebene und von Italien federführend erarbeitete Machbarkeitsstudie: Feasibility Study for the Setting Up of a European Border Police, Rom, 30.5.2002 (im Folgenden: Rom-Studie).
[5] Ratsdok. 14708/02 v. 26.11.2002
[6] Ratsdok. 11401/02 v. 29.7.2002
[7] vgl. Holzberger, M.: Das Schönste kommt immer zum Schluss – Schengener Polizeiaktion gegen Flüchtlinge und MigrantInnen, in: analyse & kritik v. 19.11.1998
[8] Derzeit wird des ILO-Pilotprojekt „Westlicher Balkan“ (Holzberger a.a.O. Fn. 3) sowie die Zusammenarbeit von ILOs in „14 Hochrisiko-Ländern“ evaluiert, Ratsdok. 12931/02 v. 10.10.2002.
[9] Ratsdok. 11830/02 v. 11.9.2002
[10] vgl. UNHCR: The trafficking and smuggling of refugees – the end game in European asylum policy?, Genf Juli 2000; ders.: Für eine gemeinsame europäische Migrationspolitik, Genf November 2001; ECRE: The Case of Access. Rede des ECRE Generalsekretärs Peer Banecke am 7. Juni 2002 in Sevilla
[11] Rom-Studie, S. 46. Auch das deutsche Bundesinnenministerium (BMI) kündigte an, dass „zunächst“ nur „einige Mitgliedstaaten mit dem Aufbau einer Europäischen Grenzpolizei beginnen“ werden, siehe BMI-Pressemitteilung v. 30.5.2002.