Fußballfans in der Falle – Die Konstruktion als gefährliche Gruppe

von Michael Gabriel

Internationale Fußballturniere sind nicht nur sportliche, sondern auch polizeiliche Großereignisse. Ein Rückblick auf die von Belgien und den Niederlanden ausgerichtete Europameisterschaft 2000 gibt einen Vorgeschmack auf das, was Fans und Fan-Projekte bei der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland erwarten könnte.[1]

„Wir werden das Image der niederländischen Polizei – wir seien zu liberal, zu zögerlich, zu weich – korrigieren … Wir werden schon bei bloßem Verdacht Einzelne oder ganze Gruppen in Arrest nehmen … Unsere Toleranzgrenze ist nicht verhandelbar.“ Gnadenloses Vorgehen – „no mercy“ – hatte Theo Brekelmans, Sicherheitschef für den niederländischen Teil der Fußballeuropameisterschaft 2000, kurz vor dem Turnier angekündigt.[2] Schon Jahre vor dem Eröffnungsspiel der „Euro“ war die Sicherheit zum zentralen Thema der medialen Vorbereitung avanciert. Phantasievoll wurden Gefährdungsszenarien beschrieben, die der lustvollen Gewaltspirale beständig neue Energie zuführten. Die „Hitze im Sicherheitskessel“ konnte nicht ohne Auswirkungen auf die Arbeit der Fan-BetreuerInnen bleiben.

Dabei waren die Voraussetzungen anfangs – zumindest auf der Seite der Fan-Projekte – eigentlich günstig gewesen. Seit der Europameisterschaft 1988 in Deutschland haben die deutschen Fan-Projekte vielfältige Erfahrungen bei großen Turnieren gesammelt. Sie tragen heute die Verantwortung für die gesamte Organisierung und Durchführung von Betreuungsmaßnahmen für die deutschen Fans. Die deutschen Fan-Projekte und ihre Koordinationsstelle (KOS) pflegen darüber hinaus seit mehreren Jahren intensive Kontakte nach Belgien und den Niederlanden.

Zwar waren uns gewisse Unterschiede zu der Fan-Arbeit in den beiden Ländern bekannt. Absolute Übereinstimmung gab es jedoch über die grundlegende Idee von Fanbetreuung bei internationalen Turnieren, nämlich: Lobby für die Interessen von Fußballfans in dem Sinne zu sein, dass Aufenthaltsbedingungen geschaffen werden, die es der übergroßen Mehrheit der friedlichen Fans ermöglichen, ihre Kultur auszuleben und mit Fans anderer Nationen auszutauschen.

Schon unmittelbar im Anschluss an die WM 1998 waren wir zu verschiedenen Informationsgesprächen sowohl nach Belgien als auch in die Niederlande eingeladen worden. Um so überraschter waren wir, dass dieser Informationsaustausch offensichtlich keinerlei Folgen nach sich zog. Bei der ersten – viel zu spät (im September 1999) terminierten – internationalen Konferenz zur Fanbetreuung in Eindhoven zeigte sich nicht einmal der Ansatz eines durch beide Länder gemeinsam erarbeiteten Konzepts.

Vielmehr schockierte dort die belgische Verantwortliche für die Sicherheit bei der Euro 2000, Monique de Knop, nicht nur die angereisten Fan-BetreuerInnen mit ihrer Erklärung, die „Fanbotschaften“ dienten nach den Erkenntnissen der belgischen Behörden als Zentren des organisierten Schwarzhandels und der Verabredung für Schlägereien. Ca. ein Jahr vor der Euro hatte in Belgien das für die Polizei zuständige Innenministerium die Trägerschaft von zwei vorher beim Jugendministerium angesiedelten Fan-Coaching-Projekten übernommen, woraufhin die dortigen Sozialarbeiter kündigten. Nachdem Belgien sich wenige Monate vor Beginn der Euro schließlich doch noch für die Einrichtung von „Fanbotschaften“ entschied, wurde auch dieses Projekt dem Innenministerium unterstellt. All dies verstärkte bei den deutschen Fan-Projekten die Skepsis. Man befürchtete, zum bloßen sozialarbeiterischen Alibi zu verkommen und erwog kurzzeitig, auf die Präsenz bei der Euro ganz zu ver­zichten, um so ein Signal für die pädagogische Jugendarbeit zu setzen.

Das Klima der Angst – Fakten

Für Zuschauerbetreuung und Rahmenprogramm standen bei der Europameisterschaft rund 1 Million Euro zur Verfügung. Die Angaben über die Kosten für die Sicherheit dagegen variieren zwischen 160 und 200 Millionen Euro. Man hatte sich offensichtlich nicht für ein „Fußballfest“, sondern für „bürgerkriegsähnliche Zustände“ gerüstet.

In Belgien waren angeblich 35.000 Sicherheitskräfte im Einsatz. Fußballfans konnten bis zu zwölf Stunden ohne Gerichtsverfahren präventiv festgenommen werden. Ein neues „Schnellrecht“ ohne Verteidigungsmöglichkeiten wurde eigens zur Europameisterschaft verabschiedet. In Charleroi baute man ein provisorisches Gefängnis für 1.000 Menschen. Zusätzlich wurden aus anderen belgischen Haftanstalten verurteilte Straftäter vorübergehend auf freien Fuß gesetzt, um Platz für die erwarteten deutschen und englischen Hooligans zu schaffen.

Aus Belfast erhielt die Brüsseler Polizei von der britischen Armee leihweise zwölf gepanzerte Jeeps. „Bürgerkriegsähnliche Zustände“, so schrieb der Kölner Stadtanzeiger am 7. Juni 2000, „signalisiert auch die neue Robocop-Ausrüstung der Hauptstadt-Polizei mit 14 Kilo schwerer, dick gepolsterter Uniform und einem Granatwerfer fürs Tränengas.“ In Charleroi waren beim Aufeinandertreffen der deutschen und der englischen Elf zusätzlich 13 Wasserwerfer und mehrere Hubschrauber im Einsatz.

In den Niederlanden sollten 45.000 Sicherheitskräfte für Ordnung sorgen. Die Polizei erhielt Sondervollmachten, um gezielt gegen Hooligans vorgehen zu können. Fußballfans konnten auch hier 12 Stunden ohne Gerichtsverfahren festgehalten werden. Mit einer „Lex Euro“ wurde auch in den Niederlanden eigens das Strafrecht verschärft. Mittels Helikopter und kleiner Flugschiffe sollten Fanbewegungen kontrolliert und Mobilfunk-Telefonate abgehört werden.

Sowohl die Niederlande als auch Belgien griffen auf die Ausnahmeregelung des Art. 2 des Schengener Durchführungsübereinkommens zurück und führten für den Zeitraum der Europameisterschaft die Kontrollen an den Binnengrenzen wieder ein. Bilaterale Abkommen u.a. mit Deutschland, Großbritannien und Italien sicherten einen EU-weiten Datenaustausch über Stadionverbote oder bekannte gewaltbereite Fußballfans ab.

„Lens darf sich nicht wiederholen!“, lautete auch in Deutschland das ständige Credo. Vor dem Hintergrund der Bewerbung des DFB für die WM 2006, über die in der Woche nach dem Endspiel entschieden werden sollte, scheute man keine Anstrengungen. Zum deutschen Sicherheitskonzept gehörten u.a. sog. Gefährderansprachen (Hausbesuche bei möglichst allen bekannten oder vermeintlichen Gewalttätern). Kurz vor dem „Fußballfest“ hatte der Bundestag im Schnellverfahren eine Verschärfung des Passgesetzes beschlossen und damit die Grundlage für mehrere Hundert strafbewährte Passbeschränkungen und Ausreiseverbote gelegt. Vor den Medien brüstete sich DFB-Präsident Egidius Braun mit der Aussage: „Wir haben zweitausend Hooligans den Pass weggenommen, in England geschieht nichts dergleichen!“[3] 294 Personen erhielten Meldeauflagen, d.h. die schriftliche Verpflichtung, an bestimmten Tagen zu festgelegten Uhrzeiten auf der heimischen Polizeiwache zu erscheinen.[4] Sieben Personen wurden vorsorglich in Gewahrsam genommen. Wie bei vorangegangenen Meisterschaften, waren auch dieses Mal zehn „szenekundige Beamte“ aus Deutschland zur Unterstützung bei der Aufklärung und Einschätzung der Gefährdungslage vor Ort. Die Benennung einer Eilstaatsanwaltschaft, die von der Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf gestellt wurde, zur wirksamen Verfolgung von Auslandsstraftaten deutscher Fans und die Hinzuziehung des Bundeskriminalamtes komplettierten das Sicherheitskonzept Deutschlands.

Der Fußball – so der eingangs zitierte niederländische Sicherheitschef – sollte den Polizeien erneut als „Testfeld“ dienen: „Fest steht, die Euro 2000 hat die Chance, wegweisendes Beispiel grenzüberschreitender Polizeiarbeit zu werden.“[5] Angesichts dieser drastischen Maßnahmen erscheint es nicht verwunderlich, wenn in der Öffentlichkeit der Begriff Fußballfan Assoziationen zu Terror und Bürgerkrieg auslöst. Dieser Eindruck stand jedoch in keinerlei Relation zur tatsächlichen Situation.

Das Klima der Angst – Fakten Teil 2

Die sportliche Bilanz der EM war zumindest für die beiden großen Fußballnationen England und Deutschland sehr ernüchternd. Beide Mannschaften schieden sehr zur Freude der Sicherheitsorgane schon nach der Vorrunde aus. Die Engländer konnten sich wenigstens noch damit trösten, Deutschland zum erstenmal seit 1966 bei einem internationalen Turnier geschlagen zu haben. Trotz der sportlich desaströsen Vorstellung gelang es den anwesenden deutschen Fans im Stadion De Kuip, eine beeindruckende, jederzeit friedliche Stimmung zu schaffen, wie man sie zuvor bei Spielen der deutschen Nationalmannschaft selten erlebt hatte.

Was die polizeiliche Bilanz betrifft, gibt es nur unvollständige, nichtsdestoweniger aussagekräftige Zahlen. In Belgien waren bis zum Halbfinale insgesamt 1.301 Personen in Haft genommen worden, darunter 965 Engländer, von denen 474 ausgewiesen wurden. Von diesen 474 waren nach englischen Quellen nur 15 polizeibekannt, die anderen hatten sich im Zusammenhang mit Fußball bisher nichts zu Schulden kommen lassen.[6] 110 Deutsche wurden in Belgien, allesamt in Charleroi, festgenommen, davon nur 10 auf Grund angeblich „hooligantypischer“ (was immer das heißt) Vergehen, die übrigen waren Opfer präventiver Festnahmen.

Insgesamt gab es im Zusammenhang der Europameisterschaft nur eine einzige Verurteilung: Ein englischer Fan kassierte nach dem neu verabschiedeten Schnellrecht – ohne tatsächliche Verteidigungsmöglichkeit – eine Strafe von einem Jahr Gefängnis ohne Bewährung. Ausschließliche Grundlage des Urteils war die Aussage eines einzigen Polizisten, der den Angeklagten an verschiedenen Brennpunkten gesehen haben will. Mark Forrester wurde dennoch nach sieben Wochen Haft entlassen (wobei das Urteil nicht aufgehoben, sondern nur reduziert wurde), weil er belegen konnte, zum betreffenden Zeitpunkt noch nicht einmal in Brüssel gewesen zu sein.

In den Niederlanden, so Justizminister Benk Korthals auf einer Bilanzpressekonferenz, wurden im Zusammenhang der Europameisterschaft insgesamt 650 Personen festgenommen: 241 wegen Schwarzhandels, 45, weil ihnen ein Gewaltdelikt vorgeworfen wurde, der Rest vermutlich aus präventiven Gründen. Unter den Festgenommenen befand sich kein einziger Vertreter der beiden „berüchtigten“ Hooligannationen England und Deutschland. Dass es beim Spiel Englands gegen Portugal in Eindhoven keine Festnahmen gab, führten einige „Sicherheitsexperten“ pikanterweise auf den Marihuana-Genuss englischer Fans zurück.

Die Niederlande verweigerten in den drei Wochen insgesamt 1.200 Einreisewilligen den Besuch des Landes. Darunter befanden sich immerhin beeindruckende 13 angebliche Hooligans, sieben aus England, sechs aus Deutschland. Die meisten anderen Personen, nämlich über 800, wurden zurückgeschickt, weil ihre Papiere nicht in Ordnung waren.[7]

Aus Belgien liegt keine Bilanz der Grenzkontrollen vor. Die des deutschen Bundesgrenzschutzes liest sich wie folgt: Insgesamt wurden 266.000 Personen und 55.288 Kraftfahrzeuge, darunter ca. 1.500 Busse kontrolliert. Weiter wurden 2.322 Züge begleitet, davon 1.156 grenzüberschreitend bis zum ersten Bahnhof nach der Grenze. Insgesamt sprach der BGS 166 Ausreiseuntersagungen aus, davon 109 auf Grund eines angeblichen Eintrages in der Datei Gewalttäter Sport. Fest- oder Ingewahrsamnahmen gab es nicht.[8] Die in die deutschen Sicherheitsmaßnahmen involvierte Generalstaatsanwaltschaft blieb ebenso „arbeitslos“ wie das Bundeskriminalamt.

Angesichts des riesigen Aufwandes, der auf allen Sicherheitsebenen betrieben wurde, erscheinen die vorgelegten Zahlen doch recht niedrig. Die Gefahrenprognosen der Polizei erwiesen sich als falsch. Enttäuscht wurden aber auch die Erwartungen der Medien, die sich auf einen Showdown zwischen Hooligans und Polizei eingestellt hatten.

Besonders deutlich wurde dies auf der Place Charles II. in Charleroi vor dem Spiel England gegen Deutschland, wo sich ein Mix aus Fans, Medienvertretern, Gewaltspannern und Bürgern der Stadt umrahmt von Wasserwerfern, Polizeiketten und Fernesehkameras einfand. Für die „bestangekündigte Randale aller Zeiten“ waren die Sendeplätze fest eingeplant. Jedes Zimmer, jeder Balkon rund um diesen Platz war mit Fernsehteams aus aller Welt belegt, die im wahrsten Sinne des Wortes von oben herab über die Fußballfans berichteten. Während Deutsche und Engländer abseits des Platzes nahezu ungestört, oftmals sogar gemeinsam, die Zeit bis zum Spiel mit Essen, Trinken und Plaudern verbringen konnten, wurden auf dem Platz die Weltnachrichten produziert. Deutsche Fans wurden vom thailändischen Fernsehen, englische von jenem aus Südafrika zu Fragen des internationalen Hooliganismus interviewt. Jedes heruntergefallene Bierglas zog die Aufmerksamkeit der Reporter auf sich. Jedoch die, derentwegen alle kamen, waren gar nicht da. Der „Guardian“ titelte deshalb zu recht: „Hooligans? – I didn’t see any“.[9] Ein Rahmenprogramm, welches den Bedürfnissen der über 25.000 englischen Fans entgegengekommen wäre, habe gefehlt. Die Verantwortlichen hätten den nicht einmal hundert Hooligans die Bühne bereitet: „Ich erkannte, dass ein großer Teil des sogenannten Hooligan-Problems in Charleroi eine UEFA-Kreation war.“

Zero tolerance – ein Nicht-Konzept findet Anwendung

Am Konstrukt der „gefährlichen Fans“, an der Wiederaufwärmung einer längst überwunden geglaubten Stereotypisierung aller Fußballfans als rassistisch und gewalttätig, stricken Politik, Medien und Sicherheitsbehörden mit. Noch im Januar 2000 hatte der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, der nordrhein-westfälische Innenminister Fritz Behrens, einen deutlichen Rückgang der Hooliganproblematik konstatiert und damit die Beobachtungen der Fanprojekte bestätigt, dass es in den Stadien der ersten und zweiten Bundesliga kaum noch zu nennenswerten Problemen kommt.[10] Mit dem Herannahen der Europameisterschaft und der Entscheidung über die WM 2006 konnte die Öffentlichkeitsarbeit der bundesdeutschen Sicherheitsbehörden jedoch den Eindruck einer Verdreifachung des gewaltbereiten Spektrums in Deutschland vermitteln.

Das wissenschaftliche Futter hierzu lieferte die vom Bundesministerium des Innern in Auftrag gegebene sog. Lösel-Studie, die sich ihrem Untersuchungsgegenstand eindimensional aus einer Sicherheitsperspektive näherte. Das Team der Universität Erlangen hatte bezeichnenderweise die Auflage erhalten, erste Ergebnisse vor der Europameisterschaft 2000 zu präsentieren. Diese erfüllten denn auch die vorgesehene Funktion, so dass die Bild-Zeitung schließlich auf der ersten Seite titeln konnte: „Studie belegt: Hooligans immer brutaler“.[11]

Die im Vorfeld der „Euro“ entfachte Sicherheitshysterie ließ viele Fans davor zurückschrecken, überhaupt nach Belgien oder in die Niederlande zu fahren. Die, die doch fuhren, taten dies zumindest mit einem mulmigen Gefühl, reisten nur zum Spiel an, um direkt im Anschluss die Stadt wieder zu verlassen. Teilweise liefen in den Fan-Projekten Anfragen von verängstigten Fans auf, die um einen polizeilichen Schutz jenseits der Grenze baten. In allen Berichten aus der Fanszene wurde übereinstimmend festgestellt, dass die Europameisterschaft 2000 bezogen auf die Aufenthaltsbedingungen für die Fußballfans die schlechteste war, die jemals stattgefunden habe. Alle jüngeren Fans seien – insbesondere in Belgien – per se „wie Verbrecher behandelt“ worden. Eine festliche Stimmung habe gar nicht aufkommen können.[12]

Die undifferenzierte Reduktion der Fans auf ein ausschließliches Sicherheitsproblem reduziert aber ebenso die Handlungsoptionen der Veranstalter und der Sicherheitsorgane. Fans werden nur als Hooligans wahrgenommen, „wer offensichtlich friedlich ist, ist eben nur noch nicht negativ in Erscheinung getreten“.[13]

Auswirkungen auf den Bundesliga-Alltag

Ganz ähnlich hören sich zur Zeit die Klagen der Fans über die Behandlung bei Bundesliga-Spielen an. Insbesondere jene Gruppen, die ihre Mannschaft regelmäßig zu Auswärtsspielen begleiten, berichten über eine zunehmende Drangsalierung durch Sicherheitsdienste und/oder durch die Polizei. Der behördliche Umgang mit Auswärtsfans am Spieltag ist dadurch bestimmt, dass sie „als durchweg potentielle Gewaltverbrecher“ wahrgenommen würden.[14] Zu diesem Eindruck tragen nicht nur die extremeren Vorfälle bei, sondern auch die vielen kleinen, sich stetig verschärfenden Schikanen, denen sich der Großteil der Fans ausgesetzt sieht – vom neugierigen Blick des Ordners in das Bratwurstbrötchen bis zur peniblen Durchsuchung der sechsjährigen Tochter.

Fahren die Fangruppen der Bundesligavereine heute zu Auswärtsspielen, erwartet sie in der Regel völlig unabhängig von der Zusammensetzung der Gruppe ein beeindruckendes „Angebot“ der Gastfreundschaft, das schon bei der Begleitung im Zuge durch den BGS beginnt. Am Bahnhof eingekesselt wird die Gruppe ohne Ausnahme sofort zum Stadion verbracht, dabei ständig von Videoteams der Polizei gefilmt, dort in den für die gegnerischen Fans reservierten Block „plaziert“, nach Spielschluss so lange dort festgehalten, bis die Fans der Heimmannschaft das Gebiet verlassen haben, um anschließend wieder im Kessel zum Bahnhof und den Zügen begleitet zu werden. Nicht selten wird den Männern, Frauen und Kindern dabei verwehrt, grundlegende Bedürfnisse nach Verpflegung und der Verrichtung der Notdurft nachzukommen. Zur Beobachtung aus der Luft werden zudem immer wieder auch Hubschrauber eingesetzt. Ein solcher Umgang mit den Fans geht eindeutig über das für die Sicherheit am Spieltag erforderliche Maß hinaus.

Dasselbe gilt für die beim Bundeskriminalamt geführte bundesweite Datei „Gewalttäter Sport“, die nicht umsonst von einer Reihe von Datenschutzbeauftragten kritisiert wurde. Für die Erfassung in dieser Datei reicht in der Praxis bereits eine banale Ausweiskontrolle und die Einschätzung des kontrollierenden Beamten, dass der Fan gefährlich sei. Trotzdem ist sie Grundlage für die Weitergabe von Informationen ins Ausland anlässlich internationaler Turniere und diente vor der Europameisterschaft 2000 als Quelle für Zeitungsmeldungen über ständig wachsende Zahlen gefährlicher Fans. Ähnlich problematisch ist die Praxis der Vereine bei der Erteilung von Stadionverboten. Dabei handelt es sich zwar um privatrechtliche Maßnahmen, die aber unmittelbare Folgen für das Handeln der (staatlichen) Polizei haben: Ein bundesweites Stadionverbot hat für den betroffenen Fan fast zwangsläufig die Erfassung in der Datei „Gewalttäter Sport“ zur Folge. Dies jedenfalls ergeben die Regelungen für den Übergangsbetrieb dieser Verbunddatei. In den Richtlinien des DFB „zur einheitlichen Festsetzung und Verwaltung von Stadionverboten“ ist die Unschuldsvermutung faktisch außer Kraft gesetzt. Eine Möglichkeit des Widerspruchs gegen ein zu Unrecht erteiltes Stadionverbot ist im Grunde nicht vorgesehen.

Blick über den Spielfeldrand hinaus

Dieses Vorgehen sowohl der Polizei als auch der Vereine und des DFB ist einerseits nur möglich, weil die Differenziertheit der Fanszene nicht zur Kenntnis genommen wird. Es bewirkt andererseits, dass in der Öffentlichkeit die Vorurteile gegen die Fans reproduziert werden: Wem die Polizei auf diese Art begegnet, der muss gefährlich sein. Trotz ihrer immer geringer werdenden Bedeutung für alle Fanszenen in Deutschland erhalten die Hooligans dadurch eine Aufwertung von außen, die für die Fan-Arbeit kontraproduktiv ist.

Den Fußballfans – und den Fan-Projekten – ist es kaum möglich, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Die pauschale Wahrnehmung als gefährliche Gruppe scheint allgemein etabliert. Eine gesellschaftliche und politische Lobby für Fußballfans gibt es leider nicht. Auch die Vereine, die ansonsten auf vielerlei Ebenen – materiell, atmosphärisch und symbolisch – von den Fans profitieren, lassen sie allein im Regen stehen.

Nur auf Grund dieses Klimas ist zu erklären, dass die Verschärfung des Passgesetzes vor der Europameisterschaft im Schnelldurchgang und ohne größere kritische gesellschaftliche Debatte verabschiedet werden konnte, obwohl schon damals absehbar war, dass Passbeschränkungen und Ausreiseverbote auch anderen „gefährlichen“ Gruppen, wie etwa den GlobalisierungsgegnerInnen, drohten.

Die pädagogischen Interventionsmöglichkeiten beispielsweise der Fan-Projekte reduzieren sich unter den Bedingungen dieser „Bekämpfung des Hooliganismus“ auf ein völlig unangemessenes Maß und dienen dann höchstens noch als politisches Alibi. Die unterdessen angelaufenen Vorbereitungen für die WM 2006 in Deutschland geben jedoch zu berechtigten Hoffnungen Anlass. DFB und Bundesinnenministerium haben mehrmals öffentlich betont, sowohl den Aufenthaltsbedingungen für die erwarteten Gäste als auch spezifischen Fanbetreuungsmaßnahmen größere organisatorische Aufmerksamkeit zu widmen.

Michael Gabriel ist Bildungsreferent der Koordinationsstelle Fan-Projekte (KOS) bei der Deutschen Sportjugend in Frankfurt/M.
[1] bearbeitete Fassung des Beitrags „Die Fußballeuropameisterschaft 2000 in Belgien und den Niederlanden“, in: Kosmos 4/2001, S. 25-34 (zu beziehen bei der Koordinationsstelle Fan-Projekte bei der DSJ, Otto-Fleck-Schneise 12, 60528 Frankfurt am Main, www.kos-fanprojekte.de)
[2] Focus 23/2000, S. 47
[3] zitiert nach Sport1.de v. 6.6.2000
[4] Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS): Jahresbericht 2000, Düsseldorf 2001
[5] FOCUS 23/2000, S. 47
[6] Football Supporters’ Association: EURO 2000 – Policing, arrests and deportations, Newcastle December 2000
[7] Sport1.de v. 3.7.2000
[8] Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze a.a.O. (Fn. 4); Bundesgrenzschutz: Jahresbericht 2000/2001 (s. unter www.bundesgrenzschutz.de)
[9] The Guardian v. 22.6.2000
[10] Weniger junge Männer bei Hooligans – Erfolg von Fan-Projekten, Pressemitteilung des NRW-Innenministeriums v. 18.1.2000
[11] Lösel, F. u.a.: Hooliganismus in Deutschland, Berlin 2001 (hg. v. Bundesministerium des Innern); zur Kritik siehe Fan-Projekt Bremen: Anmerkungen zur Lösel-Studie in: Kosmos 4/2001 a.a.O. (Fn. 1) (Anhang); Bild-Zeitung v. 16.3.2000, siehe auch: Nürnberger Nachrichten v. 23.2.2000
[12] Nahezu alle szenetypischen Fanzines (match live, Schalke Unser, Fan geht vor etc.) berichteten in diesem Tenor über die Euro 2000.
[13] s. Miles, K.: So viele Engländer wie möglich verhaften und ausweisen, in: Kosmos 4 a.a.O. (Fn. 1), S. 50-53
[14] Beschwerdebrief der Bundesarbeitsgemeinschaft der Fan-Projekte, Jena 1.2.2001