von Norbert Pütter, Wolf-Dieter Narr und Heiner Busch
In den letzten Jahren erklärte das Bundesverfassungsgericht mehrfach polizeiliche Eingriffsbefugnisse für verfassungswidrig. Die bürgerrechtliche Genugtuung hierüber weicht jedoch schnell der Erkenntnis, dass den Urteilen neue Gesetze folgen, die die gewünschten Befugnisse auf anscheinend verfassungskonforme Weise regeln.
Auf den ersten Blick erscheint das Verhältnis von Verfassungsgericht und Parlamenten unproblematisch: Als „Hüter der Verfassung“ überprüft das Gericht auf Antrag, ob eine gesetzliche Regelung mit den Bestimmungen des Grundgesetzes (GG) in Einklang steht. Falls das Gericht eine Norm für verfassungswidrig erklärt, befasst sich das Parlament erneut mit dem Problem und sucht nach einer Lösung, die den im Urteil entwickelten Kriterien entspricht. Das Gericht sorgt so gleichermaßen für den Bestand wie für die Weiterentwicklung der Rechtsordnung.
Prominentestes Beispiel für dieses Muster ist das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 1983.[1] Darin entwickelte das Gericht aus Art. 1 (Menschenwürde) und Art. 2 (allgemeines Persönlichkeitsrecht) GG ein (neues) Grundrecht „auf informationelle Selbstbestimmung“, das die Verfügung über persönliche Daten jedem/jeder Einzelnen zusprach. In dieses Recht, so das Gericht, dürfe nur im überwiegenden Allgemeininteresse und aufgrund einer gesetzlichen Regelung eingegriffen werden. Durch das Urteil wurde jede Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Daten zu einem Grundrechtseingriff, der einer gesetzlichen Ermächtigung bedurfte. Umfassende Novellierungen in unterschiedlichen Rechtsbereichen waren die Folge. Für die Polizei mussten sowohl die Polizeigesetze wie das Strafprozessrecht den neuen Anforderungen angepasst werden.[2] Diese Umsetzung dauerte Jahrzehnte. Im Ergebnis bewirkte sie rhetorisch-symbolische Bekenntnisse zu dem neuen Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das jedoch im selben Akt durch großzügige Regelungen ad absurdum geführt wurde. Nach dem Volkszählungsurteil wurde die Privatsphäre nicht besser durch das Recht geschützt. Vielmehr wurde ihre Verletzung durch Polizei und Geheimdienste mit größerem rechtstechnischen Aufwand legalisiert.
Den jüngeren Entscheidungen des Verfassungsgerichts über polizeiliche Befugnisse liegt ein grundsätzlicher Konflikt zwischen tradiertem Rechtsstaatsverständnis und „modernen“ polizeilichen Methoden zugrunde. Fast durchgängig beanstandet das Gericht, dass die Gesetzgeber zwei zentrale Kriterien missachten: das Gebot der Normenklarheit, das aus dem in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzip folgt, und das auf ihr begründete Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Diese Feststellung lag den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur strategischen Fernmeldeüberwachung des Bundesnachrichtendienstes, zur Telekommunikationsüberwachung durch das Zollkriminalamt, zum Abhören von Wohnungen („Großer Lauschangriff“) und zur präventiv-polizeilichen Telekommunikationsüberwachung zugrunde.[3] Fehlende Normenklarheit und mangelnde Verhältnismäßigkeit monierten schließlich auch die Landesverfassungsgerichte Mecklenburg-Vorpommerns und Sachsens in ihren Entscheidungen zu den jeweiligen Landespolizeigesetzen bzw. zum Großen Lauschangriff durch den Verfassungsschutz.[4] In allen genannten Urteilen richtete sich die Kritik der Verfassungsgerichte gegen Normen, mit denen polizeiliche Bekämpfungsstrategien rechtlich abgesichert werden sollten.
„Bekämpfung“
Wie sehr die Logik der Exekutive in den Bereich des Rechts vorgedrungen ist, wird im häufigen Gebrauch des Begriffs „Bekämpfung“ deutlich: Seit dem Volkszählungsurteil haben die Landesgesetzgeber, dem Musterentwurf der Innenministerkonferenz folgend, die „vorbeugende Bekämpfung“ von Straftaten in die Polizeigesetze aufgenommen. In den 90er Jahren erließ der Bund Gesetze „zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Formen Organisierter Kriminalität“, zur „Verbrechensbekämpfung“, zur „Verbesserung der Verbrechensbekämpfung“ und 2002 schließlich zur „Terrorismusbekämpfung“. Mit dem Etikett „Bekämpfungsgesetz“ machten die Gesetzgeber deutlich, dass sie mehr als nur Maßnahmen gegen konkrete Gefahren oder Befugnisse zur Aufklärung begangener strafbarer Handlungen legalisieren wollten. Ihr Interesse galt vielmehr dem „Vorfeld“ von Straftaten und Gefahren.
Dieses „Vorfeld“ kann zeitlich vor der strafbaren Handlung oder der konkreten Gefahr liegen. Außerdem kann es durch einen Verdacht bestimmt werden, der unterhalb der „zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte“ liegt, an die die Eröffnung eines Strafverfahrens gebunden ist. Das „Vorfeld“ ergibt sich also aus einer Prognose über vermutetes und/ oder zukünftiges Verhalten. Damit wird potenziell jeder und jede Objekt polizeilichen Interesses. Dies ist der Kern der strategischen präventiv-proaktiven Wende moderner Polizeiarbeit. Wird die strategische Vorverlagerung in Recht überführt, dann heißt das zwangsläufig, dass Eingriffsschranken bis zur Unkenntlichkeit gesenkt, die Unterscheidungen zwischen Störern/Tatverdächtigen und unbehelligten BürgerInnen aufgehoben und unbeschränkte Möglichkeiten zur Verwertung von Daten gewährleistet werden müssen. Mit eben diesen Entgrenzungen mussten sich die Verfassungsgerichte in den genannten Entscheidungen befassen.
- Die „vorbeugende Bekämpfung von Straftaten“ etabliert im Polizeirecht ein neues polizeiliches Tätigkeitsfeld, das nicht in Verdachtsklärung, sondern Verdachtschöpfung besteht. Diese kann nur durch den Einsatz geheimer Ermittlungsmethoden gelingen.
- Um die aktive Verdachtschöpfung auszubauen, haben die Gesetzgeber auch die Befugnisse anderer Behörden erweitert: Sie dehnten die „strategische Fernmeldekontrolle“ des Bundesnachrichtendienstes auf Bereiche allgemeiner Kriminalität aus; in einigen Bundesländern beauftragten sie die Verfassungsschutzämter mit der Beobachtung „organisierter Kriminalität“; sie ermächtigten das Zollkriminalamt zur präventiven Telekommunikationsüberwachung.
- Die Novellierungen der Strafprozessordnungen entsprechen diesen Verschiebungen: Sie sorgen dafür, dass die im Vorfeld gewonnenen Erkenntnisse vor Gericht verwertet werden können. Zudem folgen auch die neuen strafprozessualen Befugnisse der proaktiven Logik, weil sie sich in aller Regel nicht allein gegen Tatverdächtige wenden, sondern deren Umfeld (mit-)erfassen.
Nicht mehr als nötig
Dass die strategische Vorverlagerung rechtlichen Niederschlag gefunden hat, ist das Verdienst des Bundesverfassungsgerichts. Nach dem Volkszählungsurteil konnten die geheimen Polizeimethoden nicht mehr auf die Generalklauseln gestützt werden. Die Gesetzgeber haben den Übergangsbonus, den ihnen das Gericht für die Schaffung neuer Rechtsgrundlagen einräumte, großzügig genutzt. So dauerte es fast zehn Jahre, bis die Rasterfahndung oder der Einsatz Verdeckter Ermittler Eingang in die Strafprozessordnung fand; weitere acht Jahre später folgte die „längerfristige Observation“. Der Einsatz von V-Personen (VP) im Strafverfahren ist nach wie vor nicht gesetzlich, sondern lediglich in Richtlinien im Anhang der Strafprozessordnung geregelt – eine Gesetzeslücke, die das Bundesverfassungsgericht bislang nicht beanstandet hat.
Wie begrenzt das Recht gegenüber der polizeilichen Praxis geblieben ist, zeigt das Beispiel der Verdeckten Ermittler (VE), deren Einsatz sich zunächst ebenfalls nur auf die genannten Richtlinien stützte. Wer gehofft hatte, mit den 1992 in die Strafprozessordnung (StPO) eingefügten §§ 110a-e bestünde nun eine eindeutige gesetzliche Grundlage für den verdeckten Einsatz von PolizistInnen in der Strafverfolgung, sah sich getäuscht. Parallel wurden nämlich die Richtlinien novelliert, die nunmehr ausdrücklich darauf hinweisen, dass auch die durch andere verdeckt ermittelnde PolizeibeamtInnen gewonnenen Erkenntnisse im Strafprozess verwendet werden dürfen.[5] Mit anderen Worten: Der Gesetzgeber folgte den Forderungen des Verfassungsgerichts nur hinsichtlich eines Teils der verdeckten Polizeitätigkeit. Die §§ 110a-e StPO gelten nur für den VE im engeren Sinne, also für den Einsatz von PolizistInnen unter „einer auf Dauer angelegten Legende“. Alle anderen „nicht offen ermittelnder Polizeibeamten“ (NoeP) handeln weiterhin ohne gesetzliche Grundlage. Auch hieran hat das Verfassungsgericht bislang keinen Anstoß genommen.
Recht als Zweckprogramm
Will man mit den Mitteln des Rechts einen Raum für Eingriffe aufgrund von Prognosen eröffnen, dann ändert sich die Art rechtlicher Normierung grundlegend. Recht funktioniert als Konditionalprogramm: Das Gesetz formuliert eine Bedingung und bestimmt die Folgen, die eintreten, wenn diese Bedingung erfüllt ist. Das Gegenteil des Konditionalprogramms ist das Zweckprogramm. Es dient dazu, bestimmte Zwecke zu erreichen und ist damit strategisch auf die Zukunft gerichtet.[6] Die „Bekämpfung von Verbrechen“ ist zweifellos ein solcher Zweck. Wird dieser Zweck zum bestimmenden Moment der Gesetzgebung, dann muss er zwar in die Form des Konditionalprogramms („Wenn … dann …“) gekleidet werden. Inhaltlich wird dieses aber entleert, weil die Bedingung (das „Wenn …“) nicht mehr genau bestimmbar ist. Die Form des Rechts verliert damit ihren begrenzenden Charakter, weil seine Ermächtigungen (das „dann …“) nicht mehr an ein Ereignis gebunden sind, an dem sie sich messen lassen, sondern an unbekannten und/oder zukünftigen Möglichkeiten.
Heinz Wagner hat die Folgen einer solchen klammheimlichen Verwandlung der Rechtsform vor einigen Jahren – unter dem Eindruck der durch das Volkszählungsurteil hervorgerufenen Gesetzgebungswelle – mit dem unschönen, aber zutreffenden Begriff der „Scheintatbestandlichkeit“ umschrieben.[7] Das Gesetz suggeriert klare Bedingungen, die aber bei genauerer Betrachtung kaum fassbar sind. Ein solches Recht besteht aus zwei Elementen: Erstens verwendet es unbestimmte Rechtsbegriffe, d.h. Begriffe, deren Reichweite die Anwender des Gesetzes bestimmen – solange sie nicht durch die Rechtsprechung gebunden werden. Zweitens werden die Regelungen durch Verweisungstechniken und prozedurale Bestimmungen (wer ordnet eine Maßnahme an, wann werden die Betroffenen benachrichtigt, wann wird die Benachrichtigungspflicht aufgehoben, an wen dürfen welche Daten unter welchen Bedingungen weitergebeben werden) derart kompliziert, dass de facto die Definitionsmacht bei der Polizei bleibt.
Prominentestes Beispiel eines unbestimmten Rechtsbegriffs sind die „Straftaten von erheblicher Bedeutung“. Der Begriff ist in einigen Polizeigesetzen durch eine Auflistung von Delikten präzisiert. Er verliert aber seine begrenzende Konturen, wenn darunter auch Vergehen oder gar Ordnungswidrigkeiten gezählt werden, denen das Strafrecht bewusst keine Erheblichkeit beimisst. Typisch für diese Scheinkonkretisierung ist etwa die Formulierung im Niedersächsischen Sicherheits- und Ordnungsgesetz: Dieses enthält zwar eine Liste von Straftaten, ergänzt sie aber um den Zusatz: „und ein nach dem geschützten Rechtsgut und der Strafandrohung vergleichbares Vergehen“. Der Zusatz macht den Begriff der „Straftaten mit erheblicher Bedeutung“ grenzen- und damit sinnlos.
Auch im Bereich der Strafverfolgung ist der Begriff weiterhin rechtlich unbestimmt. So bindet die Strafprozessordnung z.B. den Einsatz verdeckter Ermittler an eine Straftat, deren „erhebliche Bedeutung“ sich entweder aus dem Deliktsbereich oder aus der Begehungsweise (u.a. „in anderer Weise organisiert“) ergeben soll. In dieser Vorschrift werden mehrere unbestimmte Rechtsbegriffe verbunden, so dass die behauptete begrenzende Wirkung erheblich eingeschränkt wird.
1999 erklärte das Verfassungsgericht des Landes Mecklenburg-Vorpommern die Bestimmungen über die so genannte Schleierfahndung in einigen Punkten für verfassungswidrig. Insbesondere kritisierte das Gericht, dass die Befugnis zu „verdachts- und ereignisunabhängigen Personenkontrollen“ weder an bestimmte Straftaten noch an bestimmte polizeiliche Lageerkenntnisse gebunden war.[8] 2001 wurde das Gesetz entsprechend novelliert: Die Schleierfahndung wurde nun zum einen an den Zweck der „vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten mit erheblicher Bedeutung“ und zum andern an das Vorliegen „polizeilicher Lageerkenntnisse“ gebunden (§ 27a SOG MV). Über Kriterien für diese Lageerkenntnisse schweigt das Gesetz.
Dieselbe Logik lässt sich auch bei der Novellierung des „Großen Lauschangriffs“ beobachten, die durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts notwendig wurde.[9] Das Gericht hatte an der alten Regelung kritisiert, dass der Katalog der Straftaten gemessen an der Intensität des Eingriffs zu weit gefasst war. Die neue Regelung folgt der verfassungsgerichtlichen Vorgabe, verwendet aber gleichzeitig wieder eine Fülle unbestimmter Rechtsbegriffe wie „im Einzelfall besonders schwer“, „unverhältnismäßig erschwert“, „unvermeidbar betroffen“, „außer Verhältnis zum Interesse an der Erforschung des Sachverhaltes“.[10] Gleichzeitig ist der Umfang der Bestimmungen weiter angewachsen. Klare, eindeutige Normen sehen anders aus.
Das Muster dieses Prozesses ist deutlich: Der tatsächliche Gesetzgeber, die Ministerialbürokratie, die die Gesetzentwürfe verfasst, ist bestrebt, möglichst offene, exekutiv-freundliche Regelungen zu schaffen; die Bestimmungen sollen möglichst interpretations- und entwicklungsoffen sein, um flexible Bekämpfungsstrategien zu legalisieren. Die Verfassungsgerichte bremsen diese Großzügigkeiten: Sie messen die Befugnisnormen an zentralen Verfassungsbestimmungen und veranlassen die Überarbeitung der Gesetze, in deren Neuformulierung die alten Unschärfen auf einem höheren Niveau wieder auftauchen.
Föderalistische Bremsen?
Im Urteil zum Niedersächsischen Sicherheits- und Ordnungsgesetz hat das Bundesverfassungsgericht seine auf Normenklarheit und Verhältnismäßigkeit gerichtete Argumentation um einen Aspekt erweitert: Da das Gesetz die Telekommunikationsüberwachung nicht nur zu Zwecken der „vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten“, sondern auch zur „Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten“ legalisierte, sei der niedersächsische Gesetzgeber in den Zuständigkeitsbereich des Bundes eingedrungen. Diese Vorsorge zähle nämlich zum gerichtlichen Verfahren und unterliege damit der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG). Der Bund habe seine Zuständigkeit bereits ausgeübt und durch die §§ 100a ff. Strafprozessordnung die Telekommunikationsüberwachung abschließend geregelt.
Diese Entscheidung ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie eine Antwort auf die alte Streitfrage gibt, inwiefern und ab wann Ermittlungen im Vorfeld dem Ermittlungsverfahren zuzurechnen sind, d.h. der Sachleitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft und der gesetzgeberischen Zuständigkeit des Bundes unterliegen. Die deutschen Innenminister hatten sich in dieser Frage unisono für das Polizeirecht entschieden und in unterschiedlicher Ausprägung entsprechende Befugnisse geschaffen. Das Verfassungsgericht hat die Vorfeld-Zuständigkeit der Länder keineswegs generell verneint. Es hat vielmehr nur die Grenze des Strafverfahrens vorverlegt, indem es die „Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten“ als dessen Teil wertete. Die Länder müssen sich folglich mit der „vorbeugenden Bekämpfung“ zufrieden geben.
Die Tragweite dieser Entscheidung bleibt abzuwarten. Andere Landespolizeigesetze zeigen, dass man diese Klippe erfolgreich umschiffen kann. Das rheinland-pfälzische Polizei- und Ordnungsbehördengesetz erlaubt in § 31 die Überwachung der Telekommunikation nur, „soweit die Datenerhebung zur gegenwärtigen Abwehr einer Gefahr für Leib und Leben einer Person zwingend erforderlich ist“. Dies ist eine enge und präzise Formulierung, die auch nach den jüngsten Entscheidungen nicht zu beanstanden ist. In Absatz 5 werden diese Maßnahmen auf „höchstens drei Monate“ (mit Verlängerungsmöglichkeit) begrenzt. Warum eine „gegenwärtige Gefahr“ durch eine auf drei Monate angelegte Befugnis abgewehrt werden soll, bleibt unklar (es sei denn, der Gesetzgeber wollte das Abhören erlauben, um einen Einsatz verdeckter Ermittler abzusichern). Im siebten Absatz von § 31 steht der Satz: „§ 29 Abs. 5 findet entsprechende Anwendung.“ In diesem wiederum heißt es: Die erlangten Daten „sind besonders zu kennzeichnen und dürfen für einen anderen Zweck verwendet werden, soweit dies zur Verfolgung von Straftaten von erheblicher Bedeutung …, zur Abwehr einer dringenden Gefahr oder zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten von erheblicher Bedeutung erforderlich ist.“ Jene „erheblichen“ Straftaten sind in § 28 Abs. 3 mit der bekannten Unschärfe definiert, so dass sie auch Vergehen umfassen, „die im Einzelfall nach Art und Schwere geeignet sind, den Rechtsfrieden besonders zu stören, soweit sie … organisiert begangen worden sind.“ Die auf den ersten Blick restriktiv erscheinende Regelung ist bei genauerem Hinsehen himmelweit offen.
Es ist durchaus fraglich, ob diese Erweiterungen über Zweckumwidmungen von der neuen Rechtsprechung beeinträchtigt werden. Sofern zukünftig der politische Wille besteht, wird die nun höchstrichterlich festgestellte Zuständigkeit des Bundes für die „Vorsorge für die Strafverfolgung“ dazu führen, dass nun der Bundesgesetzgeber entsprechende Vorfeldermächtigungen in die Strafprozessordnung einfügt. Damit würden jedoch nicht nur die zentralisierenden Tendenzen im deutschen Polizeisystem weiter verstärkt.
Darüber hinaus ist nicht zu erwarten, dass der Bundesgesetzgeber klarere und restriktivere Befugnisse schaffen würde als vorher die Länder. Bereits seit längerem wird die Strafprozessordnung mit präventiven Elementen durchsetzt. Dies gilt etwa für die Erfassung von Kontaktpersonen oder die DNA-Analyse zur „Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren“ (§ 81g StPO) oder auch für die durch die Geldwäschegesetzgebung eingeführten Meldepflichten.
Schutzgüter
Durchgängig hat das Bundesverfassungsgericht in den jüngeren Entscheidungen die mangelnde Verhältnismäßigkeit der Regelungen kritisiert. Im Urteil zum Großen Lauschangriff, aber auch in den Entscheidungen zum Zollkriminalamt und zur präventiven Telekommunikationsüberwachung ergibt sich diese Unverhältnismäßigkeit aus dem besonders hohen verfassungsrechtlichen Rang, den das Gericht der Privatsphäre beimisst. Mit Bezug auf Art. 1 Abs. 1 GG hat das Gericht sogar einen „absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung“ konstatiert, in den der Staat unter keinen Umständen eingreifen dürfe.
So erfreulich diese Grenzziehung aus bürgerrechtlicher Sicht zunächst ist, so unübersehbar ist es, dass sie mit dem schalen Beigeschmack eines individualisierten, aller sozialer Bezüge beraubten Begriffs von Menschenwürde versehen ist. Die Menschenwürde des Bundesverfassungsgerichts manifestiert sich in der Intimität des Schlafzimmers; das Gericht schließt den Staat mithin von Informationen aus, die – mit minimalen Unterschieden – bei allen Mitgliedern der Gesellschaft mehr oder weniger gleich sein dürften. Jenen Bereichen menschlichen Handelns, die das Individuum erst zum (sozialen) Individuum machen – sprich: sein Handeln in der Öffentlichkeit, sein Berufs- oder Geschäftsleben, seine politischen oder religiösen Aktivitäten –, lässt das Verfassungsgericht nur einen viel geringeren Schutz angedeihen.
Was das bedeutet, hat das Gericht in anderen Entscheidungen klar gemacht: In dem Verfahren über die Rechtmäßigkeit des Einsatzes des Global Positioning Systems (GPS) hat der Zweite Senat dem Gesetzgeber zugestanden, dass aus dem Bestimmtheitsgebot keine Verpflichtung resultiere, jeder kriminalistischen Neuerung gesetzlich Rechnung zu tragen zu. Insofern sei der GPS-Einsatz durch die Formulierung „sonstige besonders für Observationszwecke bestimmte technische Mittel“ (§ 100c Abs. 1 Nr. 1 StPO) gedeckt.[11] Das Beispiel zeigt: Dort, wo es um das Handeln der Individuen außerhalb der engen vier Wände geht, bevorzugt das Verfassungsgericht eine flexible, den Grundrechtsschutz aushebelnde Interpretation.
Der hilflose Rechtsstaat
Das Verfassungsgericht hat eine neue Runde polizeirechtlicher und strafprozessualer Novellierungen eingeleitet. Es ist nicht zu erwarten, dass die künftigen Regelungen das bekannte Muster scheinbarer Eingrenzungen verlassen. Der bürgerrechtliche Gewinn der jüngsten Entscheidungen liegt allenfalls darin, dass die vom Verfassungsgericht entwickelten Maßstäbe zu praktischen Restriktionen führen könnten: Um den „Kernbereich“ vor Eingriff zu schützen, wird die Polizei nun Gespräche simultan mithören müssen. Dies eröffnet die kleine Hoffnung, dass ein Teil der Vorfeldeingriffe so teuer und aufwendig wird, dass sie nicht mehr im großen Stil praktizierbar sind.
Das Grundproblem ist auf diesem Wege jedoch nicht zu lösen. Das Verfassungsgericht hat vielmehr die Illusion bestärkt, verdeckt-proaktive Polizeiarbeit könne in demokratisch-rechtsstaatlichen Bahnen stattfinden. Es hat weder die Beteiligung des Bundesnachrichtendienstes an der Verdachtsgewinnung noch das präventive Abhören des Zollkriminalamtes oder die Einschränkung von Art. 13 GG grundsätzlich in Frage gestellt. Vielmehr haben seine Urteile dazu geführt, dass diese systematischen Vorverlagerungen der weiteren politischen Diskussion entzogen sind, die sich nun allein auf die Feinjustierung von Ausführungsbestimmungen beschränken kann. Damit ist die schiefe Bahn bereitet, auf der die rechtlichen Entgrenzungen im Gewand scheinbar exakter Normen fortgesetzt werden.
Norbert Pütter, Wolf-Dieter Narr und Heiner Busch sind Redakteure von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] Volkszählungsurteil v. 15.12.1983, in: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 65, S. 1 ff.
[2] Busch, H.: Verpolizeilichung des Strafverfahrens. Eine Gesetzgebungsbilanz, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 79 (3/2004), S. 6-21
[3] Bundesverfassungsgericht: Urteile v. 14.7.1999, Az.: 1 BvR 2226/94 (u.a.); v. 3.3.2004, Az.: 1 BvF 3/92; v. 3.3.2004, Az.: 1 BvR 2378/98; v. 3.3.2004, Az.: 1 BvR 2378/98; v. 27.7.2005, Az.: 1 BvR 668/04; alle Urteile des BVerfG seit 1999 (nach Entscheidungsdatum und Aktenzeichen) unter www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen
[4] s. Kutscha, M.: Polizeirecht auf dem Prüfstand der Landesverfassungsgerichte, in: Neue Justiz 2000, H. 2, S. 63-66; Sächsischer Verfassungsgerichtshof: „Großer Lauschangriff“ durch den Verfassungsschutz, Urteil v. 21.7.2007, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2005, H. 11, S. 1310-1316
[5] s. Pütter, N.: Der OK-Komplex, Münster 1998, S. 203 ff.
[6] zu dieser Unterscheidung s. Luhmann, N.: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1993, S. 195 ff.
[7] Wagner, H.: PolG NW. Kommentar zum Polizeigesetz von Nordrhein-Westfalen, Neuwied, Darmstadt 1987, S. 10
[8] s. Kutscha a.a.O. (Fn. 4)
[9] Gesetz zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2004 (akustische Wohnraumüberwachung) v. 24.6.2005, BGBl. I, Nr. 39 v. 30.6.2005, S. 1841
[10] s. Vahle, J.: Das neue Gesetz zur akustischen Wohnraumüberwachung, in: Deutsche Verwaltungspraxis 2005, H. 12, S. 499 f.
[11] Entscheidung v. 12.4.2005, Az.: 2 BvR 581/01, Rn. 51
Bibliographische Angaben: Pütter, Norbert; Narr, Wolf-Dieter; Busch, Heiner: Bekämpfungs-Recht und Rechtsstaat. Vorwärtsverrechtlichung in gebremsten Bahnen?, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 82 (3/2005), S. 6-15