Eine fast vergessene Grenze: Verzweiflung und Tod an den Zäunen von Ceuta

lnterview mit Peio Aierbe

Der Anblick von Leichen bewirke mehr als alle Reden über Migrationspolitik, sagt Peio Aierbe von SOS-Racismo/Mugak, der die spanischen Organisationen im Netzwerk ,,Migreurop“ vertritt. Amanda Ioset und Heiner Busch befragten ihn über die Situation an der Grenze zwischen Marokko und den spanischen Enklaven in Afrika.

Bis heute finden sich nur an wenigen Stellen der EU-Außengrenze streng bewachte Sperranlagen. Die sechs Meter hohen doppelten Stacheldrahtzäune, die die beiden spanischen Städte Ceuta und Melilla von Marokko trennen, waren deshalb in den Nullerjahren die sichtbaren Symbole der europäischen Festungspolitik. Spätestens seit dem „arabischen Frühling“ haben sich die internationalen Medien jedoch auf einen anderen Abschnitt der EU-Außengrenze konzentriert: Im Vordergrund der Berichterstattung standen nun die Katastrophen rund um die italienische Insel Lampedusa. Ceuta und Melilla gerieten in Vergessenheit – und mit den beiden Städten auch die Situation der afrikanischen Migrantlnnen und Flüchtlinge in Marokko. Seit Anfang Februar dieses Jahres sind die beiden spanischen Enklaven auf dem afrikanischen Kontinent wieder in die Nachrichten gerückt.

Die Medien in Deutschland und der Schweiz brachten nur kurze Meldungen über die Vorkommnisse in Ceuta. Was ist dort passiert?

Peio Aierbe: Was wir hier erlebt haben, ist das Ergebnis zweier politischer Entwicklungen: Zum einen hat sich die EU die unmögliche Aufgabe gestellt, alle Wege nach Europa zu verstopfen. Zum andern hat die marokkanische Regierung eine Welle der Repression gegen die Immigrantlnnen auf ihrem Territorium losgetreten, insbesondere gegen Afrikanerlnnen von südlich der Sahara. Dieser doppelte Druck stürzt Tausende in eine verzweifelte Situation. Sie riskieren ihr Leben, um aus dieser Hölle zu entkommen.

Am 6. Februar haben mehrere hundert Personen versucht, Ceuta zu erreichen. Ein Teil kletterte über die Sperranlagen, andere versuchten diese schwimmend im Meer zu umrunden. Die Guardia Civil setzte Rauchgranaten ein und feuerte mit Schreckschussmunition und Gummigeschossen auf die Leute. Mindestens 15 Personen, Migrantlnnen und potenzielle Asylsuchende, ertranken. 23 weitere schafften es bis zum Strand von Ceuta. Die Guardia Civil übergab sie der marokkanischen Polizei.

Wie hat die spanische Öffentlichkeit reagiert?

In Spanien haben diese Ereignisse die öffentliche Meinung erschüttert. Das Bild von 15 Leichen bewirkt mehr als lange Diskurse über Migrationspolitik. Der Innenminister musste mehrmals vor dem Parlament Rede und Antwort stehen. Die Medien haben sich ausführlich mit den Vorkommnissen befasst und das polizeiliche Vorgehen deutlich kritisiert. Zudem hat der Richter die Aufzeichnungen der Videokameras angefordert, mit denen der gesamte Grenzbereich überwacht wird. Die Veröffentlichung dieser Bilder gab der Öffentlichkeit auch einen visuellen Eindruck von dem repressiven Vorgehen der Guardia Civil.

Wie rechtfertigt die Regierung die gewaltsamen Aktionen der Guardia Civil?

Sie verfuhr einmal mehr nach dem alten Drehbuch. Zunächst haben die Behörden die Verwendung von Aufstandsbekämpfungsmitteln abgestritten. Als die Videos veröffentlicht wurden – zuerst die von privaten, dann die der Überwachungskameras – war das Leugnen nicht mehr möglich. Es folgten sich widersprechende Versionen, bis der Innenminister in seiner Rede vor dem Parlament das Vorgehen der Guardia Civil einfach so bestätigte.

Was passierte mit denen, die es über die Grenze geschafft haben?

Auch hier gab es sich widersprechende Versionen. Seit vielen Jahren werden Leute, die es über die Zäune geschafft oder schwimmend Ceuta erreicht haben, einfach nach Marokko zurückgeschoben. Dasselbe passiert in Melilla. Die NGOs haben immer wieder dagegen protestiert. Und die Behörden haben immer alles abgestritten, obwohl die NGOs über zahlreiche Beweisvideos verfügen. Im vorliegenden Fall gab es nach der Veröffentlichung der offiziellen Aufnahmen der Überwachungskameras nichts mehr zu leugnen. Das Innenministerium griff dann auf absurde Erklärungen zurück: etwa, dass die Grenze erst überschritten sei, wenn man sich hinter der Linie der Guardia Civil befinde. Es hat also definitiv das polizeiliche Vorgehen geschluckt.

Was war die Antwort der solidarischen Organisationen?

Nach dem Tod der 15 Personen haben wir bei der Staatsanwaltschaft eine Anzeige eingereicht und die Aufnahme von Ermittlungen gefordert. Die Untersuchungsrichterin hat ein Verfahren eröffnet und zwei Volksanklagen (acusaciones populares) wurden eingereicht, eine durch die Stadtteilkoordination (Coordinadora de Barrios) und die andere durch die in Migreurop vertretenen spanischen Organisationen. Nach dem spanischen Strafrecht können Personen oder Organisationen nach der Eröffnung einer Strafuntersuchung die Beiordnung als Volksanklägerlnnen beantragen. Das erlaubt ihnen unter anderem, die Vornahme der Ermittlungshandlungen zu verlangen, die sie für erforderlich halten.

Zudem wurden mehrere Berichte bei europäischen Institutionen eingereicht. 37 Organisationen haben zusammen der EU-Kommission und dem Europarat ein Dokument vorgelegt, in dem sie die Vorfälle detailliert schildern und die Gesetzesverstöße anprangern.[1] Die Gruppe Caminando Fronteras veröffentlichte einen Bericht mit Informationen über jeden einzelnen Toten und mit Aussagen der nach Marokko Zurückgeschafften.[2]

Was erwartet diese Leuten in Marokko?

Harte Repression und in vielen Fällen auch die Ausweisung und Abschiebung in ihr Herkunftsland. Die von der spanischen Regierung als “heiße Ausweisung“ bezeichneten unmittelbaren Rückschiebungen nach Marokko stellen eine klare Verletzung des geltenden Rechts dar, insbesondere des Rechts auf Asyl und des „non refoulement“, denn diese Leute könnten gegebenenfalls ein Gesuch auf internationalen Schutz stellen, wie es in Art. 3 der EMRK, Art. 18 der EU-Grundrechte-Charta und in Art. 6 der Asylverfahrensrichtlinie der EU vorgesehen ist. Das spanische Ausländergesetz verbietet zudem Kollektivabschiebungen und verlangt ein individuelles Verfahren mit Rechtsvertretung und Rekursmöglichkeit. All das hat es in diesem Fa1l nicht gegeben.

Auch nach dem 6. Februar haben Leute versucht, über die Zäune zu klettern. Schauplatz war in diesem Fall Melilla.

Stimmt. Die Situation an den Grenzen von Ceuta und Melilla ist derart explosiv, dass es solche Versuche trotz des massiven Polizeiaufgebots auf beiden Seiten und trotz der schlimmen Verletzungen durch den Stacheldraht immer wieder gibt. In den letzten drei Monaten haben es mehrere hundert Menschen nach Melilla geschafft. Die mediale Aufmerksamkeit sorgt dafür, dass solche Fälle nun auch öffentlich werden. Hinzu kommt, dass die Guardia Civil und die Policia Nacional nicht mehr ohne Weiteres das Recht verletzen können. Die Regierung will daher nun das Gesetz ändern, um die repressiven Praktiken, die heute illegal sind, zu legalisieren. Aber gegen diese Bedrohung werden die Menschenrechtsorganisationen in jedem Fall juristisch und mit gewichtigen rechtlichen Argumenten vorgehen.

Was sind die Chancen für die Flüchtlinge und Migrantlnnen, die es nach Ceuta oder Melilla geschafft haben? Können sie die beiden Enklaven verlassen? Können sie einen Asylantrag stellen und welche Chancen haben sie? Wie viele können am Ende in Spanien bleiben?

Wer es nach Ceuta oder Melilla schafft, kommt zunächst in ein Auffanglager, ein Centro de Estancia Temporal de Inmigrantes (CETI). Solche Zentren gibt es in beiden Städten. Die sind zwar offen, aber weil die Betroffenen in diesen beiden städten in Afrika fest sitzen und nicht auf die iberische Halbinsel weiterreisen dürfen, ist es so, als wären sie in geschlossenen Zentren. Nicht umsonst sprechen die Migrantlnnen in Ceuta vom „süßen Gefängnis“. Die Leute erhalten eine Ausweisungsverfügung, die aber nicht über die Grenze nach Marokko vollzogen werden kann, weil Marokko sie nicht anerkennt. Die Migrantlnnen müssten deshalb in ein Internierungszentrum überstellt und von dort aus in ihr Herkunftsland abgeschoben werden. Praktisch ist das aber in den letzten zwei Jahren nur selten vorgekommen. Der Normalfall ist, dass man die Leute nach etwa einem halben Jahr auf die Halbinsel schickt, wo sich Hilfsorganisationen ein paar Monate um sie kümmern. Danach stehen sie auf der Straße, ohne Aufenthaltsbewilligung, aber eben mit einer Ausweisungsverfügung.

In Ceuta und Melilla sind auch Asylanträge möglich. Sie werden nach dem gleichen Verfahren behandelt wie im Rest des spanischen Staates. Aber obwohl über die Hälfte der Leute, die nach Ceuta oder Melilla kommen, die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Gesuch erfüllen, macht das niemand. Der Grund dafür ist, dass die spanische Regierung eine Bestrafungspolitik praktiziert. Wer in einer der beiden Städte Asyl beantragt, darf sie erst dann verlassen, wenn über den Antrag entschieden ist – und das kann mehrere Jahre dauern. Ohne Asylantrag kommt man dagegen nach einigen Monaten auf die Halbinsel. So schreckt man die Leute natürlich ab.

Siehst Du andere als repressive Möglichkeiten, um mit dieser Situation umzugehen?

Die gibt es zweifellos. Was fehlt, ist der politische Wille. Und damit meine ich nicht eine radikale Veränderung der EU-Migrationspolitik. Die wäre zwar dringend notwendig, um eine grundsätzliche Lösung herbeizuführen. Klar ist aber auch, dass so etwas viel Zeit braucht. Aber auch im Rahmen des bestehenden Rechts gibt es Handlungsmöglichkeiten, aber dafür braucht es die Bereitschaft, die vorhandenen Ermessensspielräume zu nutzen, um die Probleme zu lösen. Die spanischen Mitgliedsorganisationen von Migreurop haben ein Manifest erarbeitet.[3] Sie fordern, dass sich die spanische Regierung und die EU für eine Regularisierung im Rahmen des aktuellen Prozesses in Marokko engagieren. Sie sollen den Familiennachzug für diejenigen erleichtern, die Angehörige in der EU haben. Sie sollen denjenigen, die die Voraussetzungen eines Asylgesuchs erfüllen, die Einreise in die EU gestatten. Und sie sollen eine viel weniger restriktive Visumspolitik gegenüber den afrikanischen Staaten betreiben, als das bisher der Fall ist.

[1] www.mugak.eu/ceuta-la-muerte-en-la-frontera/playa-de-tarajal-ceuta-espana-6-febrero-2014-dossier
[2] www.mugak.eu/ceuta-la-muerte-en-la-frontera/informe-de-analisis-de-hechos-y-recopila cion-de-testimonios-de-la-tragedia-que-tuvo-iugar-el-6-de-febrero-caminando-fronteras
[3] www.mugak.eu/news/por-una-solucion-europea-al-drama-en-las-fronteras-de-ceuta-y-melilla
Über Migreurop
Migreurop ist ein europäisch-afrikanisches Netzwerk von Aktivistlnnen und Forscherlnnen, die unter anderem ein,“0bservatorium der Grenzen“ betreiben (www.migreurop.org). Zu Migreurop gehören folgende 0rganisationen in Spanien Comision Espanola de Ayuda al Refugiado (Flüchtlingshilfskommission, www.cear.es), Andalucia Acoge (Andalusien nimmt auf , www.acoge.org), Asociacion Pro Derechos Humanos de Andalucia (Andalusische Menschenrechtsvereinigung, www.apdha.org), ELIN (www.asociacionelin.com) und S0S-Racismo mit seinen diversen lokalen Vereinigungen, darunter das Dokumentations- und Studienzentrum über Einwanderung, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in San Sebastián/Donostia, Mugak, das auch die gleichnamige Zeitschrift herausgibt.