Alles ist möglich: Die innenpolitischen Projekte der „Ganz Großen Koalition“

von Mark Holzberger

An wenigen Stellen knallhart, ansonsten samtpfötig – so gibt sich der schwarz-rote Koalitionsvertrag.[1] Eine adäquate Reaktion auf die Skandale von NSU und NSA hätte anders aussehen müssen.

Gleich zu Beginn des Kapitels „Moderner Staat, innere Sicherheit und Bürgerrechte“ (S. 101) geht die „Ganz Große Koalition“ (GGK) auf die zukünftige Rolle der Geheimdienste ein. Im Hinblick auf die Inlandsaufklärung (also das Bundesamt für Verfassungsschutz, BfV) will Schwarz-Rot dessen „Zentralstellenfunktion und Koordinierungskompetenz im Verfassungsschutzverbund ausbauen“ sowie den „gegenseitigen Austausch von Informationen“ mit den Landesverfassungsschutzämtern verbessern. Klingt forsch – fraglich ist aber, ob dies mehr als eine Luftnummer ist, denn die Länder haben die bestehenden Kompetenzen ihrer Landesämter immer effektiv zu verteidigen gewusst.

Wenn die GGK „die technische Analysefähigkeit des BfV verbessern“ möchte, dann verbirgt sich dahinter das Vorhaben, dass sämtliche Nachrichtendienste künftig personenbezogene Angaben – auch und gerade solche in (Papier-)Akten – bundesweit elektronisch voll auswerten können sollen. Dies stößt wiederum bei DatenschützerInnen auf erhebliche Bedenken. Sie befürchten einen grundlegenden Bruch mit dem Prinzip der Zweckbindung: Denn personenbezogene Informationen landen aus ganz verschiedenen Quellen, aus ganz unterschiedlichen Gründen und in höchst unterschiedlicher Güte in den Akten des BfV. Wie soll da nachträglich noch der Beweis geführt werden, dass im Zuge des bundesweiten Online-Austausches ganzer Aktenbestände des BfV ein Bruch der ursprünglichen Zweckbindung erfolgte?

Hinsichtlich des Einsatzes von V-Leuten kündigt Schwarz-Rot erstmals eine gesetzliche Regelung an – und zwar über die Anforderungen für deren Auswahl sowie zur V-Leute-Führung. Zudem sollen sich Bund und Länder in Zukunft wechselseitig über eingesetzte V-Leute informieren. Das wäre ein erster Schritt. Aber auch diese Ankündigungen stehen unter dem Vorbehalt, dass hier die Länder mitspielen.

Das Vorhaben, „die parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste verbessern“ zu wollen, ist hingegen so allgemein, wie unbestimmt – fraglich, ob in den kommenden vier Jahren da mehr herauskommt als heiße Luft.

Ein probates Mittel, um Koalitionsverträge zu überprüfen ist, zu schauen, welche Aspekte darin nicht angesprochen werden – wo also alles alles so weiterlaufen soll wie bisher: Im schwarz-roten Koalitionsvertrag betrifft dies z.B. den Bundesnachrichtendienst (BND) und den Militärischen Abschirmdienst. Bedenklich ist zudem, dass sich Union und SPD – anders als noch unter Schwarz-Gelb – nicht mehr ausdrücklich zum Trennungsgebot zwischen Polizei und Geheimdiensten bekennen – und das, obwohl das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erst vor wenigen Monaten, im April 2013, die grundlegende Bedeutung dieses Trennungsgebot noch einmal in Erinnerung gebracht hat.

„NSA-Affäre“: Konsequenzen sähen anders aus

Zu was für einer Realitätsverschiebung es führt, wenn man z.B. den BND einfach ausblendet, zeigt sich, wenn man den Abschnitt über die „Konsequenzen aus der NSA-Affäre“ liest (S. 104): Diese wird dargestellt, als handele es sich um eine Verschwörung ausländischer Dienste gegen Deutschland. Wer aber kein Wort über die Einbindung auch und gerade deutscher Geheimdienstbehörden an dieses internationale Abhör- und Überwachungskartell verliert (Stichwort: Ringtausch), dem kann dann auch nichts einfallen, was man tun könnte, um dieses Treiben hierzulande zu beenden bzw. einzudämmen. Die GGK beschränkt sich also darauf, „auf weitere Aufklärung zu drängen“ – im Ausland versteht sich. Zudem wird ein „rechtlich verbindliches Abkommen zum Schutz vor Spionage“ versprochen – eine Ankündigung, die allerdings mehr Fragen als Antworten aufwirft. Zum einen: Soll nur der Staat selber vor Spionage geschützt werden (gegebenenfalls auch noch die Wirtschaft) – oder auch die BürgerInnen? Zum anderen: Kann es richtig bzw. zielführend sein, dass nicht etwa das Parlament oder die Bundesregierung die Gespräche über ein solches „No-Spy“-Abkommen führt, sondern dass die Verhandlungen von den Geheimdiensten untereinander betrieben werden – also der Bock zum Gärtner gemacht wird? Und schließlich: Wie will man damit umgehen, dass die USA eben genau ein „rechtsverbindliches Abkommen“ kategorisch ablehnen?

Schwarz-Rot bläst die Backen auf, ohne pfeifen zu wollen. Dabei hat Berlin eine Reihe eigenständiger Handlungsmöglichkeiten: Man könnte etwa den Whistleblower-Schutz ausbauen (kein Wort findet sich dazu im Koalitionsvertrag). Man könnte die EU-Kommission auffordern, sich mit einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Großbritannien zu befassen. Man könnte den Internationalen Gerichtshof in Den Haag anrufen. Man könnte dazu beitragen, vor dem UN-Menschenrechtsausschuss ein Verfahren gegen USA nach Art. 41 des UN-Zivilpaktes einzuleiten. Man könnte auf EU-Ebene auf eine Aussetzung bzw. Neuverhandlung des sog. Safe-Harbor-Abkommens (zur Übrbrückung unterschiedlicher datenschutzrechtlicher Standards in der EU und den USA), des SWIFT-Abkommens (zur Übermittlung von Bankdaten) oder des PNR-Abkommens (zur Überrmittlung von Fluggastdaten) mit den USA drängen. Und man könnte sich im EU-Ministerrat für deutliche Konsequenzen im Hinblick auf das geplante Freihandelsabkommen mit den USA einsetzen. Man hätte, könnte, sollte – aber Schwarz-Rot will eben nicht.

Mehr Überwachung

Ein klarer poltischer Wille ist hingegen dort erkennbar, wo es nicht um das Zurückdrängen, sondern – ganz im Gegenteil – um den Ausbau des Überwachungsapparates geht: Man bekräftigt gar das gegenseitige Bekenntnis zur Antiterrordatei (und damit auch der Rechtsextremismusdatei) – man will dessen (gerade erst vom BVerfG kritisierte) „Analysefähigkeit verbessern“, sprich: ausbauen (S. 102). Man will auch der so genannten Quellen-Telekommunikationsüberwachung zum Durchbruch verhelfen (ebd.) – was nichts anderes ist, als die Einführung des umstrittenen Bundestrojaner. Man will die Kapazitäten und die Ausstattung zur Spionage- und Cyberabwehr „ausbauen“, etwa beim sog. Cyberabwehrzentrum (S. 103). Und schließlich will man die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung „umsetzen“ (S. 102f).

Die SPD versuchte in der Frage eben dieser Vorratsdatenspeicherung, Opposition innerhalb der Koalition zu spielen. Ein durchsichtiges Manöver: Der neue sozialdemokratische Justizminister Heiko Maas sagt, man solle vor einer nationalen Entscheidung erst einmal das für Anfang 2014 erwartete Urteil des Europäischen Gerichtshofes abwarten. Das allein ist aber eben keine Aussage in der Sache. Zu vermuten ist nämlich (dies legt jedenfalls das Gutachten des Generalanwaltes der EU vor dem Europäischen Gerichtshof nahe), dass die EU die Vorratsdatenspeicherung billigen wird – und zwar unter den Kautelen, die vor Jahren bereits das BVerfG vorgegeben hat. Auf diesen Kurs könnte die SPD dann (im Brustton der Menschen- und Europarechtsfreundlichkeit) auf den Kurs der Union wieder einschwenken.

Ein regelrechtes Trauerspiel sind die datenschutzrechtlichen Abschnitte dieses Koalitionsvertrages. Man geriert sich, als hätte es weder die Debatten um die Bedeutung der Netzpolitik noch eine NSA-Affäre je gegeben. Obwohl seit mehreren Wahlperioden nun schon darauf gedrungen wird, das Bundesdatenschutzgesetz endlich dem Internetzeitalter anzupassen, wird diese Aufgabe in der Koalitionsvereinbarung von Union und SPD noch nicht einmal thematisiert. Gleiches gilt für Stärkung der Unabhängigkeit und der Ausstattung der Bundesbeauftragten für den Datenschutz und Informationsfreiheit: Fehlanzeige. Und im Hinblick auf die laufenden Verhandlungen um eine Reform des Datenschutzrechts der EU heißt es, man wolle einen „schnellen Abschluss“ und dabei „die strengen deutschen Standards beim Datenschutz bewahren“ (S. 104). Da muss die Koalition „Butter bei die Fische“ bringen, ob sie hier tatsächlich einen Kurswechsel beabsichtigt. Denn bislang hat Berlin in Brüssel bei dieser Frage allein die Rolle des Blockierers gepflegt und alles dafür getan, die Bereiche Bereich des Polizei-und Strafrechts von eben diesen europäischen EU-Datenschutzstandards auszunehmen.

Ideen- und perspektivlos sind zudem die Vorschläge in Bezug auf die Bundespolizei (zum Bundeskriminalamt fiel Schwarz-Rot erst gar Nichts ein). Hier möchte man die Ergebnisse der Evaluierung der erfolgten Neuorganisation der Bundespolizei abwarten (gähn). Um Handlungswilligkeit zu suggerieren, kündigt die Koalition aber brav an, der Bundespolizei „an Kriminalitätsschwerpunkten zusätzliche Mitteln für mehr Videotechnik“ bereitzustellen (S. 105).

Einfallslos auch das konturlose Bekenntnis, sich die Empfehlungen des Parlamentarischen NSU-Untersuchungsausschusses „zu Eigen“ zu machen und „zügig umzusetzen“ (S. 101). Das hat nun überhaupt keinen Mehrwert gegenüber den entsprechenden Erklärungen, die alle Fraktionen schon am 2.September 2013 im Bundestag abgegeben haben. Damit vermeidet man jegliche Festlegung in der Sache, wie z.B. einer Reform der Polizeikultur (Cop Culture) – z.B. zur Sensibilisierung der Polizei gegenüber Rechtsextremismus, Rassismus bzw. der so genannten gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit – oder aber zur Einrichtung und Ausgestaltung von effektiven und niedrigschwelligen Beschwerdestellen bzw. eines Beschwerdemanagements.

Halb voll – oder halb leer?

Dies zu beantworten ist immer eine Frage der Perspektive. Dass Union und SPD in Fragen der Inneren Sicherheit traditionell eng beieinander stehen, ist bekannt. Insofern waren die Befürchtungen groß, dass bei einer GGK für die Bürgerrechte nicht viel zu holen sein dürfte. Und die obigen Ausführungen schienen den Mahnungen auch recht zu geben. Aber immerhin: Der Durchmarsch einer verfassungsändernden Mehrheit sähe anders aus. Und, mit all seinen Vorhaben ist das Bundesinnenministerium (BMI) auch nicht durchgedrungen: Hans-Peter Friedrich hatte in die Koalitionsverhandlungen eine dicke Wunschliste eingespeist, die es in sich hatte: etwa die Ausweitung des §129a StGB (Unterlaufen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum „Gemeinschaftswillen“ und Wiedereinführung des alten Tatbestands der Werbung für eine terroristische Vereinigung); zielpersonenspezifische Ausleitung von Verkehrsdaten an zentralen Internet-Knotenpunkten im Inland, Nutzung der Mautdaten durch alle Sicherheitsbehörden sowie Veränderung der Datenbankstrukturen im BKA (Ersetzen aller bisherigen Meldedienste durch einen Polizeilichen Informations- und Analyseverbund; PIAV).

Immerhin wissen wir jetzt, auf welche Pläne des BMI wir uns vorbereiten können. Denn eins ist klar: Die Haudegen vom BMI haben einen langen Atem.

[1]   Deutschlands Zukunft gestalten. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, www.cdu.de/sites/default/files/media/dokumente/koalitionsvertrag.pdf; die Seitenangaben in diesem Artikel folgen der Druckfassung bzw. pdf-Datei auf der CDU-Homepage.

Beitragsbild: Protestaktion am 22. Mai 2014 „Roter Teppich für Edward Snowden“ (Christian Ditsch).