Kommentar: Terrorexperten als Nebelwerfer

„Nahtlose“ europäische Zusammenarbeit von Polizeien und Geheimdiensten ist das Problem, nicht die Problemlösung.

Nach jedem Anschlag folgt unweigerlich die Stunde der Experten. Der Terrorexperte der Wahl auf den hiesigen öffentlich-rechtlichen Fernsehkanälen ist derzeit Peter Neumann, ein deutscher Politologe, der am Londoner King’s College lehrt und auch dem „European Expert Network on Terrorism Issues“ des Bundeskriminalamts angehört. Im ARD-Brennpunkt nach den Brüsseler Attentaten am Dienstag vergangener Woche beklagte er die angeblich mangelnde Zusammenarbeit von Polizeien und Geheimdiensten in Europa. „Wenn man freie Bewegung in Europa möchte, muss man auch definitiv dafür sorgen, dass die Sicherheitsbehörden in Europa absolut nahtlos untereinander kooperieren.“ Das seien zwei Seiten derselben Medaille, meint der Herr Professor.

Das, so meine ich, sind wohlfeile Plattitüden, die Sicherheitspolitiker und die von ihnen geliebten Experten zu jeder sich bietenden Gelegenheit herausposaunen. Und sie zeigen ihre Dummheit gleich in doppelter Hinsicht:

Erstens ist das Gerede, dass der Wegfall von Binnengrenzkontrollen in der EU, respektive im Schengenraum, einen Sicherheitsverlust hervorrufe, der durch verstärkte polizeiliche (und geheimdienstliche) Zusammenarbeit auszugleichen sei, mittlerweile rund dreißig Jahre alt. Es bildete schon die ideologische Grundlage bei den seit 1985 geführten Verhandlungen um das Schengener Durchführungsübereinkommen. Das Abkommen mit den Ausgleichsmaßnahmen trat 1995 in Kraft, dennoch wird seither ständig nach-justiert.

Dabei war die Rede vom „Sicherheitsverlust“ durch Grenzabbau von Anfang an falsch. Systematische Grenzkontrollen ließen sich schon in den 70er Jahren nur für kurze Zeitspannen aufrechterhalten. Derartige Übungen, wie etwa nach der Entführung von Hanns Martin Schleyer 1977, erzeugten ein Verkehrschaos an den Grenzen und blieben deshalb von kurzer Dauer. Lange bevor die Schlagbäume im Schengenraum abmontiert wurden, hatte die hohe Mobilität in Westeuropa dafür gesorgt, dass im Normalfall nur ein Bruchteil der Reisenden an der Grenze tatsächlich überprüft wurde. „Der Schlagbaum ist kein besonders intelligentes Fahndungsinstrument“, hatte Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble 1989 festgestellt. Schlagbäume wären auch heute nicht intelligenter. Dass IS-Leute unerkannt durch Europa fahren konnten, liegt nicht am formellen Abbau der Schengener Binnengrenzen, sondern an der faktischen Unkontrollierbarkeit der Verkehrsströme in einem Kontinent, der ökonomisch zusammengewachsen ist.

Zweitens, „nahtlose Zusammenarbeit“ der Sicherheitsbehörden? Ein Politikwissenschaftler müsste wissen, dass demokratische Rechtsstaaten, die diesen Namen verdienen, auch in schwierigen Zeiten daran festhalten, dass ihre Behörden, zumal wenn sie tief in die Grundrechte von Personen eingreifen, einer öffentlichen Kontrolle unterliegen müssen.

Schon im Rahmen der polizeilichen Kooperation werden jedoch in Europa massenweise Daten umher geschoben, und dieser europäische Binnenmarkt der Polizeidaten ist in der Tat grenzenlos. Der jüngste Bericht des EU-Anti-Terrorkoordinators vermeldet für das letzte Jahr und insbesondere für die letzten Monate einen massiven Zuwachs von Einträgen in den entsprechenden Datenbanken der EU und insbesondere Europols.

In der Analysedatei „Hydra“, die der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus dienen soll, waren im Februar 2016 insgesamt 620.000 Datensätze enthalten, davon 64.000 zu Personen und über 11.000 zu Netzwerken und Organisationen. Die Analysedatei des „Focal Point Travellers“, die sich vorrangig mit nach Syrien oder Irak ausgereisten „Dschihadisten“ befasst, verzeichnete 18.572 gespeicherte Personen. Davon sollen 4.714 so genannte ausländische Kämpfer gewesen sein.

Das Europol-Informationssystem, das nicht nur für den engeren Kreis der an dem jeweiligen Analyseprojekt beteiligten Europol-Mitarbeiter und Verbindungsbeamte, sondern auch für die nationalen Europol-Stellen (in Deutschland: das BKA) zugänglich ist, enthielt Daten zu 4.300 „mit dem Terrorismus im Zusammenhang stehenden Personen“, davon zu über 3.800 ausländischen Kämpfern und Kontaktpersonen.

Eine große Datenmenge bedeutet aber noch längst nicht, dass sich daraus ohne weiteres Ermittlungsansätze ergeben würden. Die Süddeutsche Zeitung zitierte vor einigen Tagen einen Europol-Mitarbeiter mit der Klage: „Die Franzosen schütten uns zu mit Daten.“ Für den Fall erneuter Anschläge wollten die französischen Behörden auf diese Weise dokumentieren, dass sie „frühzeitig gewarnt“ hätten.

Bei Europol in den Haag wurde im Januar ein neues European Counter Terrorism Center (ECTC) in Betrieb genommen, das nach dem Vorbild des deutschen Gemeinsamen Terror-Abwehrzentrum (GTAZ) Polizeibehörden aus allen Mitgliedstaaten vereinen soll. Im Moment steckt das ECTC noch in den Anfangsschuhen. Auf Dauer jedoch besteht bei dieser Art informeller Zusammenarbeit die Gefahr, dass die Kontrolle über die Tätigkeit eines solchen Apparates völlig verloren geht.

Das gilt umso mehr für die Zusammenarbeit der Geheimdienste. Und die gibt es in den verschiedensten Formen: An Europol sind diverse Organisationen beteiligt, die zwar formell zu den Polizeibehörden ihres Landes gehören, praktisch aber nichts anderes als polizeiliche Geheimdienste sind. Die schwedische Sicherheitspolizei beispielsweise nimmt gleichzeitig die Rolle eines Inlandsgeheimdienstes wahr – vergleichbar dem deutschen Verfassungsschutz.

Dem Auswärtigen Dienst der EU angegliedert ist das EU Intelligence Analysis Centre (IntCen), dem sowohl Inlands- als auch Auslandsgeheimdienste aus der EU zuarbeiten. Bisher arbeitet IntCen nur mit „assessed intelligence“, also mit Auswertungsberichten, die es von den Diensten der Mitgliedstaaten erhält. Seit 2004 hat das Zentrum, das damals noch unter dem Namen SitCen (=Lagezentrum) lief, auch eine „Counter Terrorism Cell“. Es soll vor allem die politischen Institutionen der EU beraten. Was es dabei tut und worin seine Ratschläge bestehen, erfährt die Öffentlichkeit nicht.

Darüber hinaus gibt es eine „Counter Terrorism Group“ (CTG), die ein Ableger des schon in den 70er Jahren entstandenen Berner Clubs ist. Dem Club gehörten ursprünglich nur die Inlandsgeheimdienste Italiens, Österreichs, Frankreichs, der BRD und der Schweiz an. Heute mischen sämtliche EU-Staaten sowie die Schweiz und Norwegen mit. Weder der Berner Club noch die CTG sind jedoch Teil der EU: einerseits weil die EU keine Zuständigkeit für geheimdienstliche Angelegenheiten hat, andererseits weil man sich auf diese Weise selbst der minimalen Nachfragen zum Beispiel aus dem Europäischen Parlament entziehen kann. In diesem Frühjahr will die CTG eine neue „operative Plattform“ der Zusammenarbeit einrichten, die vermutlich beim niederländischen Inlandsgeheimdienst AIVD angesiedelt sein wird. Europol ist daran nicht beteiligt, aber praktischerweise war der Leiter von Europols operativer Abteilung bis Anfang 2014 Chef des AIVD.

Wer ein Beispiel dafür sucht, dass die parlamentarische Kontrolle dieser europäischen Geheimdienstkooperation nicht funktioniert, der sehe sich die Antwort der Bundesregierung auf die einschlägige Anfrage der Linksfraktion an. Alle wesentlichen Informationen, so steht dort zu lesen, müssen geheim gehalten werden, weil ihre Veröffentlichung das „Staatswohl“ gefährdet. Die Skandale der letzten Jahrzehnte sollten uns lehren, dass eine „nahtlose“ Zusammenarbeit der europäischen Geheimdienste nur zu einer Potenzierung der Gefahren führen kann. Wir empfehlen stattdessen die Abschaffung.

Heiner Busch ist Mitglied im Vorstand des Grundrechtekomitees. Auf dessen Webseite erschien dieser Kommentar zuerst.

Foto: AIVD

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